E-Book, Deutsch, 192 Seiten
Strasser Umdrehen und Weggehen
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-99200-276-4
Verlag: Braumüller Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Peter Strasser
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
ISBN: 978-3-99200-276-4
Verlag: Braumüller Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Univ.-Prof. Dr. Peter Strasser, Jg. 1950, unterrichtet an der Karl- Franzens-Universität in Graz Philosophie. 2014 erhielt er den Österreichischen Staatspreis für Kulturpublizistik. Bei Braumüller erschienen: 'Immer wieder dasselbe und am besten nichts Neues' (2014), 'Lust - Ein Anstandsbuch' (2015), 'Achtung Achtsamkeit!' (2016) und 'Spenglers Visionen' (2018)
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Kapitel I | Verdichtung und Entdichtung
Der Rattenfehlschluss 16
Das Paradox der Entdichtung 21
Der zwanglose Zwang 26
Der Zwang des zwanglosen Zwangs 35
Kapitel II | Die psychologische Fessel
Beziehungsfallen 44
Wo die Liebe hinfällt … 53
Pflicht und Neigung 60
Das narzisstische Paradox 68
Kapitel III | Grenzwiderstände
Befreiung durch Abkapselung? 79
Die Kopftuchdebatte 95
Die hohe Schule der Hindernisse 102
Schwellen und Übergänge 113
Kapitel IV | Abwendung nach vorne
Hashtag WalkAway 126
Echoräume 134
Das Unabwendbare 143
Die "bessere Zukunft" 148
Kapitel V | Weggehen unmöglich?
Liegen gelassene Dinge 158
Hierbleiben-Müssen 165
Das Starren ins Leere 175
Leben, um sterben zu lernen 180
DER ZWANGLOSE ZWANG
Wer sich der fragwürdigen Gnade der späten Geburt erfreuen durfte – zum Beispiel ich, fünf Jahre nach Ende des letzten Weltkriegs in Österreich geboren und fernerhin dort aufgewachsen –, der wurde mit zwei menschlichen Panzerungen konfrontiert. Die eine Panzerung trug den Namen der „Ideologie“ oder „Weltanschauung“. Die zweite war das Schweigen darüber, was gewesen war.
Auch ich wurde mit diesen Panzerungen konfrontiert, sobald ich einigermaßen imstande war, die politischen Dinge um mich herum als solche zu begreifen. Man hatte eine Weltanschauung oder gar keine, war „neutral“. In jedem Fall blieb einem erspart, mit dem weltanschaulichen Gegner in ein ernsthaftes Gespräch einzutreten. Denn die eigenen Werte, ob sozialistisch, christlich, bürgerlich, nationalistisch oder marktliberal, nicht zuletzt die Desinvolture waren sakrosankt, und zwar schon deshalb, weil sie eingelagert waren in die mächtigen Institutionen, die das Land beherrschten – selbstverständlich nun, nach dem Krieg, unter demokratischem Vorzeichen.
Es gibt sie, die Demokratie, in ihr bin ich groß geworden. Ihr Stil bestand darin, dass man sich auf Kompromisse einigte, die Sozialpartnerschaft pflegte, einigermaßen tolerant gegeneinander, man hatte ja noch gut die Verheerungen des Freund-Feind-Denkens der Vorkriegszeit in Erinnerung.
Also: Nie wieder?
Aber: Was dann?
Man hielt an der eigenen politischen Überzeugung ungefähr so fest, wie man dem Wetterbericht Glauben schenkte – es würde schon alles einigermaßen passen und verschaffte einem das gute Gefühl, zur neuen demokratischen Ordnung dazuzugehören. Und man gehörte dazu und profitierte davon. Persönliche Freundschaften pufferten politische Feindschaften ab. Das war die eine Seite.
Die andere Seite war eine Art Verschwörung des Schweigens. Was war unter den Nazis wirklich geschehen? Darüber sprach man nicht oder nur stockend. Man gab nicht mehr zu, als man musste. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein wollte Österreich von den Nazis „gewaltsam annektiert“ worden sein. Seltsam nur, dass man Menschen traf, die erzählten, und zwar noch nachträglich überwältigt von Nostalgie, wie sie fast in Ohnmacht gefallen wären, als Hitler und seine Truppen in unsere Stadt ein- und an den jubelnden Menschen vorüberzogen.
Nachdem dann, gegen Ende des Krieges, das Bombeninferno der Alliierten Teile der Stadt verwüstet hatte (an ihrem Rand befand sich eine Waffenfabrik) und nun aber ebendiese Alliierten als Befreier Kaffee, Tabak und Schokolade brachten, wollte man schleunigst Hitlers erstes Opfer gewesen sein. Man blieb im Herzen der Finsternis, das in der eigenen Brust schlug, antisemitisch, hatte aber nie etwas von den Abtransporten der jüdischen Mitbürger gewusst, geschweige denn eine Ahnung von den Vernichtungslagern gehabt. Aber auch diese Ahnungslosigkeit wurde nur auf eindringliches Befragen geäußert, das Wesentliche jener Sprache der Verleugnung war das Schweigen.
An der Universität, im philosophischen Seminar, diskutierten wir dann Martin Heideggers Schweigen „auf hohem Niveau“, hatte den epochalen Philosophen doch kein Geringerer als der jüdische Dichter Paul Celan in einem seiner Gedichte um ein befreiendes Wort gebeten. Nichts. Ja, wir Jungen diskutierten, wir wollten verhindern, dass man sich weiterhin abwendete von dem, was im Untergrund vor sich hindämmerte: dieses aus dem Ungeheuer des Kollektivs aufsteigende Ungeheuerliche, der heilsgeschichtliche Ideenfundus des Leviathan, der totalitären Staatsmacht, und jenes andere Ungeheuer, das von Immanuel Kant so benannte „böse Herz“ des Menschen – das Herz, das Freude findet am Bösen an sich.
Wir diskutierten in die Tiefe und in die Breite. Wir wollten das Licht der Aufklärung in die dunklen Ecken unserer Gemeinschaft dringen lassen, um das Verstockte und das Schweigen daraus zu vertreiben. Wir sahen uns umringt von stumm Bestialischem, das in Träumen hing und sich dort forterbte, ohne vorerst an die Oberfläche zu treten. Wir forderten, den Blick von den Tatsachen nicht mehr abzuwenden, und wenn erst die Tatsachen, wie ungeheuerlich auch immer, freigelegt wären, dann auf den der besseren Argumente zu setzen – ein weitreichender Ausdruck, den der Sozialphilosoph Jürgen Habermas, Schüler von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, den Begründern der neomarxistischen Frankfurter Schule, in Umlauf gebracht hatte.
Wir – oder jedenfalls ich und die, die so ähnlich dachten wie ich – erblickten im „zwanglosen Zwang“ der Vernunft die Lösung der Quadratur des Kommunikationskreises. Argumente und Gegenargumente, nicht Standpunkte, sollten uns auf unserem Weg der Erkenntnissuche und Wahrheitsfindung begleiten. Wir spürten, dass man sich dem guten Argument, das besser war als die eigene Argumentation, nur entziehen konnte, wenn man sich „verhärtete“, und das heißt: gegen besseres Wissen auf der eigenen Position beharrte. Und wir spürten auch, dass in der Vernunft ein Zwang zur Zustimmung lag, der sich von anderen Zwängen, denen man sich nicht entziehen konnte, grundlegend unterschied.
Im Vernunftzwang fielen Zwang und Zustimmung zusammen, der Zwang war also eigentlich kein Zwang, sondern beruhte auf der tatsächlich ungezwungenen, von niemandem erzwungenen Zustimmung zur Wahrheit oder jedenfalls dem, was sich uns nach gründlicher Überlegung, hinter der sich keine unlautere Absicht verbarg, als die Wahrheit nahelegte.
Oft hatte ich in meinen jungen Jahren, im verstockten Angesicht der Ungerührten, womöglich der Täter von einst, das Bedürfnis, mich schreiend umzudrehen und wegzugehen. Eine wühlte in mir. Aber es ging nicht, das Ungesagte der Davongekommenen ließ es nicht zu, dass ich lockerließ. Ich wollte die Wahrheit, die ganze Wahrheit erfahren, um sie als den Scheiterhaufen aufzuschichten, auf dem die Seelen der Herzlosen brennen sollten.
Und wie ich, so dachten und fühlten viele meiner Generation. Wir waren durch das Schweigen, Verschweigen gebannt. Und weil das Schweigen uns nicht losließ, wurden wir selbst böse, ungefähr so, wie ein zu Unrecht Angeketteter böse wird, der sich in seiner inneren Freiheit durch das Wegschauen der anderen betrogen fühlt. Damit ich frei werden könnte, müssten sich die anderen endlich binden, zu ihrer Schuld stehen oder ihrer Ignoranz oder ihrer Mitleidlosigkeit. Im Rückblick kommt mir vor, : Ob ein Eingeständnis die verstockt Wegschauenden frei machen würde, war mir das Unwichtigste gewesen; das Wichtigste war mir, glaube ich heute zu wissen, selbst endlich dadurch frei zu werden, dass die Verstockten rund um mich gezwungen wären, auf ihre offen vor ihnen liegende, sie anklagende Wahrheit zu starren.
Doch als es dann auch in Österreich endlich so weit war, stellte sich heraus, dass die Beschämung und Verurteilung der Schweiger und Täter keine Befreiung für diejenigen bedeutete, die unentwegt für eine Kultur der Aufarbeitung plädiert hatten. Noch immer nicht. Denn im Grunde war nichts ausverhandelt. Die Uneinsichtigen blieben, trotz des Umstandes, dass man sie äußerlich zur Einsicht genötigt hatte, uneinsichtig. Den Herzlosen wuchs kein Herz. Und das gemeinsame Wissen um die Schandtaten von Gestern und Vorgestern machte weder die Opfer lebendig, noch schuf es einen freien Raum jenseits der Unmenschlichkeit.
Gewissheit bedeutete nicht Befreiung. Als die Tatsachen endlich, wie man so sagt, auf dem Tisch lagen, konnte man ihnen nicht einfach den Rücken zuwenden, um sozusagen im Leben weiterzuziehen. Im Gegenteil: Nun war man von dem Ungeheuerlichen der begangenen Untaten erst recht gebannt, Gedenktage und Bedenktage wurden erforderlich, sie wurden zu einer Art Gedenkliturgie, die der steten Erneuerung bedurfte, Jahr um Jahr, auch wenn zum Schluss das Ritual des Ge- und Bedenkens nur noch dazu diente, die Fühllosigkeit zu überdecken, welche in die Generationen der Nachgeborenen einsickerte und sich breitmachte.
Es gab ursprünglich die Hoffnung des Gesprächs, das bald, in gebildeteren Kreisen, zumal in akademischen, als „Diskurs“ firmierte. Eine Wendung setzte sich in den klugen Köpfen fest: „Diskursive Verflüssigung.“ Darin steckte wohl die Hoffnung, dass es möglich sein würde, durch das Mittel einer aufrichtigen, sensiblen Kommunikation den Stein des Bösen, der auf allem lastete, zu erweichen, ihn aufzuweichen, bis er sich wieder ins vorstellbar Menschliche einfügen ließe.
Man konnte all das Schreckliche, das Menschen ihren eigenen Brüdern und Schwestern angetan hatten, nicht wiedergutmachen; aber es würde vielleicht möglich sein, das Nicht-Wiedergutzumachende als solches in unsere Vorstellung von Menschlichkeit einzubeziehen, zu „integrieren“, und zwar dadurch, dass man nicht gelten ließ, dass das absolut Böse im wörtlichen Sinne „absolut“ war. Auch dieses angeblich Absolute war demnach eine...