Stroud Der Aufbruch
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-8321-8876-4
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman (Niceville-Trilogie, Band 3)
E-Book, Deutsch, Band 3, 760 Seiten
Reihe: Niceville-Trilogie
ISBN: 978-3-8321-8876-4
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Carsten Stroud war Surfer, Bootsbauer in Baja California und Berufstaucher in der US Army. Er hielt sich in geheimer Mission in den gefährlichsten Gegenden der Dritten Welt auf. Er ist Journalist und preisgekrönter Sachbuchautor, seine Romane sind Bestseller in den USA. Carsten Stroud hat drei erwachsene Kinder und lebt heute mit seiner Frau in Toronto. Bei DuMont erschienen bislang >Niceville< (2012) und >Die Rückkehr< (2013).
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Steig niemals aus dem Wagen aus
0:55Uhr in derselben Nacht.
Unten in Tin Town fuhr der Streifenwagen eines Staff Sergeants mit dreißig Dienstjahren –sein Name war Frank Barbetta– die Miracle Mile entlang, Tin Towns Hauptstraße.
Tin Town war für Niceville das, was Compton für Los Angeles oder die South Side für Chicago darstellte. Die Miracle Mile wurde so genannt, weil es, sollte man je versuchen, nach Mitternacht an ihr entlangzuspazieren, an ein Wunder grenzte, wenn man eine Meile weit kam. Die Einwohner Tin Towns nannten sie nur The Mile.
Frank Barbetta war ein liebenswerter, aber zäher Cop, der auf der Mile den Ruf als fairer und sympathischer Polizist genoss, der nicht leicht zu reizen war, niemals seine Waffe ziehen musste, in dreißig Jahren niemanden erschossen hatte und lediglich sein Gehirn, Muskeln und gelegentlich einen in der Nähe stehenden Stuhl einsetzte, um Konfliktsituationen unter Kontrolle zu bringen. Kurzum, ein traditioneller Revierbulle, der niemandem die Seele aus dem Leib prügeln würde, der nicht zuvor inständig darum gebettelt hatte.
In Tin Town betrachtete man ihn als eine Art Wyatt Earp. Er war jemand, der genau wusste, dass die Nutten, Junkies, Biker, Idioten und Gauner alle zum Stadtbild gehörten und demnach zu den Bürgern zählten, die es zu beschützen und zu versorgen galt. Im Grunde entsprach dies der Wahrheit.
Kurz gesagt kam sich Frank Barbetta in jener verregneten Freitagnacht wie ein gütiger Gott in seinem persönlichen Himmelsreich vor, der mit der Welt im Reinen war. Eine Einstellung, von der das Schicksal magisch angezogen wird und über die es sich allzu gern köstlich amüsiert.
Tin Town war in gewisser Weise durch den Tulip entstanden. Breit und tief entsprang der Fluss aus der Belfair Range90Meilen im Norden und wurde auf seinem Weg durch die weiten Grastäler immer stärker, bis er um die hohe Kalksteinwand, die den Nordosten der Stadt überragte, einen Bogen schlug und durch Nicevilles Zentrum knallte wie ein Interstate Highway.
Der Fluss musste allerdings eine scharfe Kurve um eine steinige Untiefe südlich der Armory Bridge machen. Hier strudelte und brauste das Wasser eine schlammige Ebene entlang, auf der ein Haufen Fischerhütten mit Wellblechdächern auf Pechkieferpfählen stand, die man ins Kiesbett gerammt hatte.
Rohrkolbengewächse und Sauergrashalme hingen über angespülten Müllbergen, Bierdosen und allerlei toten Dingen. Mindestens einmal wöchentlich verfing sich eine herrenlose Leiche in den Gräsern, ein aufgedunsener Körper mit blauer Haut, dessen Augen, Lippen und Ohren von den Karpfen im Fluss abgebissen worden waren. Aus den zylinderförmigen Kaminrohren auf den Dächern stieg Rauch auf und durch Fensterläden schien gelbliches Licht, das sich auf der Wasseroberfläche widerspiegelte. So wie die tin roofs, die Wellblechdächer, Tin Town seinen Namen verliehen, so verliehen die warmen Tage und frostigen Nächte der Stadt im Herbst ihre Nebel und Schleier.
Die Miracle Mile, die sich im regenüberströmten Fenster von Barbettas Streifenwagen spiegelte, war zu beiden Seiten von mit Maschendraht umzäunten, neonbeleuchteten Bikerbars, Tattoo-Studios und Billig-Discountern gesäumt. Es gab sechs verschiedene Läden mit vergitterten, kugelsicheren Fenstern, in denen man sich einen Kurzzeitkredit zu dreißig Prozent fälligen Zinsen pro Tag leihen oder einen fremden Ehering gegen Bares verpfänden konnte, vorausgesetzt, es steckte kein Finger mehr darin.
Ungefähr auf halber Strecke der Mile, zwischen einem Lebensmittelladen und einem Waschsalon mit Selbstbedienung, stand ein zehngeschossiges Sandsteinhotel mit aufgesprühten Gang-Graffitis an allen Außenwänden. Über dem Eingang hing ein Schild, auf dem in fetten schwarzen Buchstaben stand:
NUR BARGELD, KEINE KREDITKARTEN!!!
KEINE ERMÄSSIGUNG FÜR RENTNER
SIE HATTEN DOPPELT SO VIEL ZEIT,
UM DAS VERDAMMTE GELD AUFZUTREIBEN!!!
An der bröckligen Ziegelfassade hing ein wie ein riesiges Kreuz geformtes Neonschild, das aus den Wörtern MOUNTROYAL und HOTEL bestand, wobei sich die Wörter im Buchstaben T überschnitten.
In Zimmer304 des MountRoyal wohnte ein Mann, dem viel durch den Kopf ging. Er war groß und schlank, mit grobknochiger Statur, langem grauen Haar und einem Gesicht, das aussah, als sei es aus Sandstein gemeißelt, stand am Fenster und beobachtete den Streifenwagen aus Niceville, wie er nach Süden Richtung Flussbett fuhr. Die Nummer auf dem Dach verriet ihm, dass es sich um Frank Barbettas Wagen handeln musste. Der Mann am Hotelfenster kannte Barbetta aus längst vergangenen Tagen, als er selbst als Staff Sergeant für die State Troopers auf Streife gegangen war.
Gute Erinnerungen, zumindest die meisten, während manch andere besser vergraben blieben. Erinnerungen, wie sie ihm heute Nacht durch den Kopf gingen.
Wo war er mit seinen Gedanken?
Er konnte sich deutlich ans Türeneintreten, an Barschlägereien und an Verfolgungsjagden mit der Highway Patrol erinnern, an Autoüberschläge, verstümmelte Leichen und gelegentliche Schusswechsel. Er konnte sich an unzählige wilde Nächte erinnern, in denen er mit Jimmy Candles, Marty Coors und dem einzig wahren Coker die Gegend unsicher gemacht hatte; auch den Tod seiner Frau hatte er noch so klar vor Augen, als sei es erst gestern geschehen, und ebenso konnte er sich noch an alle möglichen Kleinkriege und Skandale und Eskapaden des typischen Polizistenlebens erinnern, das er über dreißig Jahre lang geführt hatte.
Aber all das gehörte der Vergangenheit an. Ihn beschlich das starke Gefühl, dass vor Kurzem sehr viel geschehen war, lebensverändernde Ereignisse, aber als er versuchte, sich konkret vor Augen zu rufen, worum es sich handeln könnte, fiel es ihm nicht ein. Nichts bis zu dem Moment jetzt und hier, als er am Fenster in Zimmer304 des MountRoyal-Hotels stand und Barbettas Streifenwagen die Mile entlangfahren sah. Nicht einmal bei seinem eigenen Namen war er sich ganz sicher.
Auf jeden Fall trug er einen großen goldenen Ring am rechten Mittelfinger, auf dem das Wappen des United States Marine Corps prangte. Außerdem hatte er eine prall gefüllte Brieftasche bei sich, mit knapp tausend Dollar in bar sowie einer blauen Bankkarte aus Plastik, auf der sowohl das Wort Mondex als auch das Emblem einer Art Bank prangte, der PNG Bank.
In die Karte war ein Mikrochip integriert, aber der Mann hatte keine Ahnung, was zum Teufel eine Mondex-Karte war oder wieso er eine besaß. Er müsste danach googeln.
Darüber hinaus fand sich ein Mitarbeiterausweis von Wells Fargo, auf dem ein Foto von ihm –ja, das war ganz sicher er– zu sehen war, und laut der Karte hieß er Charles Danziger. Des Weiteren steckte in der Brieftasche ein Führerschein mit einer Adresse, Rural Route19 in Cullen County, und einem Bild, das ihm grob ähnelte, bloß wirkte es so, als hätte man es nach seinem Tod aufgenommen, denn er sah darauf verdammt krank und fahruntauglich aus.
Auf dem Führerschein stand ebenfalls, dass sein Name Charles Danziger lautete, und dass er bei Nachtfahrten Kontaktlinsen tragen musste.
Eine dritte Karte besagte, dass er ein voll zahlendes Mitglied des Retired State Patrol Officers Clubs für pensionierte Cops war und den Rang eines Staff Sergeants innehatte, und auf der Rückseite war eine ganze Reihe von Auszeichnungen aufgelistet.
Der Mann begutachtete die verschiedenen offiziellen Plastikkärtchen und fand, dass ein vernünftiger Mensch zu dem Schluss kommen könnte, dass er wirklich Charles Danziger hieß.
Okay, ich bin bereit zu akzeptieren, dass ich Charles Danziger heiße, aber was zum Teufel ist mit mir passiert? Ein Blackout?
Vom Alkohol oder durch Drogen?
Nein.
Nicht ich.
In all seinen wilden Jahren hatte er kein einziges Mal Drogen genommen, abgesehen vom Oxycontin gegen die im Einsatz zugezogenen Verletzungen, und seine einzige Schwäche war Wein. Coker hingegen war ein Mann, dem seine Pharmazeutika lieb und teuer waren. Ein riskantes Hobby für einen Staff Sergeant des Belfair und Cullen County Sheriff’s Department und den berühmtesten Polizei-Scharfschützen im gesamten Bundesstaat.
Aber nicht Charlie Danziger. Er trank zwar gerne Pinot Grigio, aber kein Mann mit einem Funken Selbstachtung würde sich mit ein paar Flaschen Pinot Grigio ins Koma saufen.
Der Streifenwagen hielt an der Kreuzung und das Licht des Hotelschildes erleuchtete das Innere des Fahrzeugs und den Fahrer, einen groß gewachsenen grauhaarigen Sizilianer mit tief liegenden, dunklen Augen und einem kraftvollen Kiefer.
Frank Barbetta.
Danziger überlegte, ob er das Fenster öffnen und nach ihm rufen sollte, aber aus irgendeinem Grund entschied er sich dagegen. Der Streifenwagen fuhr im Verkehr auf der Mile davon, die Reifen zischten auf der glatten Fahrbahn und zogen einen Schleier Regenwasser hinter sich her.
Danziger drehte sich vom Fenster weg, er fühlte sich hundemüde, deprimiert und wie von der Realität abgeschnitten. Außerdem tat seine Brust jetzt auch noch höllisch weh. Es war kein Herzinfarkt, denn er hatte bereits einen erlitten und wusste genau, wie sich das anfühlte.
Nein, es fühlte sich eher so an, als hätte man ihn mitten in die Brust getreten. Zweimal. Zwei merklich schmerzhafte Stellen. Keine Prellung, aber Schmerz, ein tiefer, stechender Schmerz. Ein Rätsel, genau wie alles andere.
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