E-Book, Deutsch, 172 Seiten
Uhly Die Summe des Ganzen
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-96639-049-1
Verlag: Secession Verlag Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 172 Seiten
ISBN: 978-3-96639-049-1
Verlag: Secession Verlag Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Steven Uhly geboren 1964 in Köln, ist der Sohn eines Auswanderers aus dem heutigen Bangladesch und einer Deutschen. Er studierte in Köln, Bonn und Lissabon Romanistik und Germanistik und promovierte als Stipendiat der Studienstiftung des Deutschen Volkes über Multipersonalität als Poetik. 2002 ging er für den DAAD nach Brasilien, wo er das Deutsche Institut der Bundesuniversität von Belém do Pará leitete. Nach seiner Rückkehr 2006 ließ er sich mit seiner Familie in München nieder, wo er heute auch lebt. 2010 erschien sein Erstling Mein Leben in Aspik. Sein 2014 publizierter Roman Königreich der Dämmerung wurde vom Goethe Institut zu einem der 10 besten Bücher des Jahres gekürt und in mehrere Sprachen übersetzt. Für seinen Roman Adams Fuge erhielt er den Tukan Preis der Stadt München. Sein Roman Glückskind wurde zum Bestseller und von Michael Verhoeven für das ZDF verfilmt. Die Summe des Ganzen ist sein achter Roman.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
2
Donnerstag. Padre Roque sitzt erneut in seinem Beichtstuhl, es ist 17:20 Uhr. Heute kam die alte Señora Barros und beichtete ihm, dass sie immer noch wütend auf ihren verstorbenen Gatten ist, weil er damals den Sohn an die Polizei verriet. Der Sohn war desertiert und hatte sich bei ihnen zu Hause versteckt. Aber der verstorbene Gatte hielt die Feigheit des Sohnes für eine Schande und verständigte die Behörden. Die nahmen ihn mit und steckten ihn für zehn Jahre nach Carabanchel ins Gefängnis. Als er wieder rauskam, war er nicht mehr derselbe. Solange der Vater lebte, kam der Sohn nicht mehr nachhause, und Señor Barros starb an gebrochenem Herzen, da ist sich die Witwe sicher. Oft wacht sie schweißgebadet auf und wünscht ihm den Tod, obwohl er längst nicht mehr lebt. Deshalb kommt sie fast jede Woche zur Beichte.
Padre Roque weiß, dass er Gottes Werk verrichtet, wenn er ihr ausreichend viele Bußgebete und Vaterunser aufgibt, damit sie die Woche über beschäftigt ist. Manchmal empfindet er echtes Mitleid für die alte Dame, die jede seiner Messen besucht, stets in der ersten Reihe sitzt und voller Inbrunst betet. Der Sohn, der sie ein paar Mal begleitet hat, ist allerdings ein unangenehmer Typ. Er hat den Padre von Anfang an misstrauisch angeblickt, als wäre dieser an irgendetwas schuldig. Das kränkt den Padre, denn er gibt sich viel Mühe mit Señora Barros und ist immer für sie da. Aber die Verwandtschaft kann sich niemand aussuchen, die Señora trägt nicht die Schuld daran, dass ihr Sohn keine Manieren hat.
Jemand betritt den Beichtstuhl und setzt sich. Der Padre blickt auf die Uhr, um abzuschätzen, wer es sein könnte. Bevor er sich länger Gedanken machen kann, sagt die gehetzte Stimme vom Vortag:
»Padre, es tut mir leid, dass ich Sie gestern einfach sitzengelassen habe.«
»Mach dir keine Sorgen um mich, mein Sohn«, erwidert der Padre und legt eine Extraportion Güte in seinen Tonfall. »Bist du heute bereit zu sprechen?«
»Ich … ich hoffe es, Padre«, sagt die Stimme gepresst. »Es ist nicht leicht, weil es so … unmoralisch ist, was ich empfinde, Padre.«
»Glaubst du an Gott, mein Sohn?«, fragt der Padre, denn er hat das Gefühl, jetzt einmal grundsätzlich werden zu müssen.
»Ja, ich glaube an Gott, unbedingt! Nicht immer an die Kirche, das muss ich zugeben, aber immer an Gott.«
»Du weißt, dass die Kirche von Gott höchstpersönlich begründet wurde?«
»Ja, Padre, so wurde es uns beigebracht. Aber was sollen Priester auch anderes sagen, Padre? Jeder würde von sich selbst behaupten, dass er unverzichtbar ist, nicht wahr?«
Der Padre schweigt. Damit hat er nicht gerechnet. Nicht nur ein Neunmalkluger, sondern auch ein Frevler. Was will der hier in seinem Beichtstuhl, wenn er solche Reden schwingt?
»Bist du hergekommen, dich gegen die Kirche zu versündigen, mein Sohn?«
»Nein, Padre, verzeiht mir, ich bin aufgeregt, und wenn ich aufgeregt bin, dann rede ich zu viel. Ich wollte Euch nicht beleidigen oder die Kirche angreifen. Aber es gibt immer wieder schwarze Schafe, auch innerhalb der Kirche, das werdet Ihr nicht leugnen, nicht wahr, Padre?«
Der Padre wiegt den Kopf. Angesichts der vielen Skandale der letzten Jahre wäre es dumm, die Augen vor der Wahrheit zu verschließen. Und doch muss er die Integrität der Institution verteidigen, sonst ist er nicht glaubwürdig.
»Es mag schwarze Schafe geben, mein Sohn. Doch sie alle wird Gott richten.«
»Das hoffe ich sehr, Padre. Gott sollte diese schwarzen Schafe richten, er sollte ein Exempel statuieren, denn die irdische Gerechtigkeit ist fehlerhaft.«
»Da hast du recht, mein Sohn. Nur Gott kann vollendete Gerechtigkeit walten lassen.« Der Padre beschließt, einfach mitzumachen, denn er hat keine Ahnung, was diesen Sünder reitet.
»Aber ich bin auch ein schwarzes Schaf, Padre, bei Gott, ich bin auch ein schwarzes Schaf.« Der Sünder jammert jetzt fast, seine Stimme hat etwas Wehleidiges, was den Padre abstößt. Wenn er doch nur endlich sagen würde, was er angestellt hat, denkt er und verdreht die Augen.
Der andere schweigt plötzlich. Der Padre hofft, dass der Sünder Anlauf nimmt, um seine Last endlich loszuwerden. Raus damit!, denkt er ungeduldig.
»Ich habe einen Nachhilfeschüler, Padre, er ist gerade einmal zehn Jahre alt. Aber …« Er stockt. »Padre, würden Sie sagen, dass alle Menschen von Grund auf gut sind? Würden Sie das sagen?«
Der Padre überlegt kurz.
»Ja, natürlich«, antwortet er dann, »sonst wäre die Absolution sinnlos. Wenn ich einen schmutzigen Teller habe, dann weiß ich, dass nicht der Teller das Problem ist, sondern der Schmutz. Mit ein wenig Wasser und Seife kann ich den Schmutz entfernen, dann ist der Teller wieder sauber. Der Teller und der Schmutz sind zwei verschiedene Dinge.« Er schweigt zufrieden. Diesen Vergleich hat er in seiner letzten Predigt benutzt, und er gefällt ihm ausgesprochen gut. Strenggenommen handelt es sich dabei um ein Plagiat, doch das tut nichts zur Sache. Mit Genugtuung nimmt der Padre zur Kenntnis, dass der andere erst einmal nachzudenken scheint. Nimm dies, du Neunmalkluger!, denkt er triumphierend. Im nächsten Moment ruft er sich zur Räson. Das ist nicht Gottes Werk! Gottes Werk ist barmherzig. Warum bist du Priester geworden, wenn du nicht barmherzig sein kannst?, denkt er streng. Deine Gefühle sind nicht von Bedeutung! Wie oft haben dich deine Gefühle schon in Bedrängnis gebracht, Roque de Guzmán? Beherrsche dich!
»Das ist ein schöner Vergleich, Padre«, sagt die Stimme ohne Hoffnung. »Aber ich bin kein Teller. Ich habe Schmutz, den man nicht sieht und den man nicht einfach mit Wasser und Seife wegwaschen kann.«
»Du hast deinen Glauben, mein Sohn!«, unterbricht der Padre ihn heftiger als er wollte. »Dein Glaube ist Wasser Seife. Wenn du an das Gute in dir glaubst, kannst du von deinen Sünden erlöst werden!«
Der andere schweigt wieder. Der Padre versucht, sich zu beruhigen. Er weiß im Moment nicht, ob er so heftig geworden ist, weil er eitel seinen Vergleich verteidigt oder dieser armen Seele wirklich helfen will. Sollte die Eitelkeit sein Antrieb sein, kann er niemandem helfen. Wie könnte ein Sünder einem anderen aus der Sünde helfen? Er muss rein sein, rein von Sünde, rein von unreinen Absichten. Und was sind unreine Absichten anderes als egoistische Absichten? Damit hast du Erfahrung, Roque de Guzmán, ermahnt sich der Padre, und zwar eine ganze Menge!
»Ich habe gesündigt, Padre«, sagt der andere. »Nicht in Wort und Tat, aber im Geist, in Gedanken habe ich gesündigt, und ich fürchte mich vor dem, was den Gedanken entspringen kann.«
»Erzähl mir von deinen Gedanken, mein Sohn«, sagt der Padre, der froh ist, dass es endlich wieder um etwas Konkretes geht.
»Ich wage es kaum, sie auszusprechen, Padre. Die Macht der Worte ist so groß.«
»Aber die Wahrheit wird dich befreien«, sagt der Padre und weiß im Moment nicht, aus welchem Evangelium er zitiert.
»Die Wahrheit«, sagt die Stimme auf der anderen Seite bitter. »Die Wahrheit hätte mich vielleicht befreit, als ich selbst noch ein Kind war, Padre. Aber heute schmeckt sie vergoren auf meiner Zunge, weil sie so lange dort gelegen hat.«
Mein Gott, denkt der Padre, ein neunmalkluger Poet. Dann verbietet er sich jeden weiteren abschätzigen Gedanken und versucht, mit dem Herzen zuzuhören.
»Du weißt nicht, was geschieht, wenn sie einmal ausgesprochen ist«, versucht er den Sünder zu animieren. Er will jetzt endlich das Vergehen hören, damit er so und so viele Bußgebete und so und so viele Vaterunser aufgeben und die Absolution erteilen kann. So lange hat ihn noch keiner hingehalten. Was ist nur los mit diesem eigenartigen Sünder? Hat er kein Vertrauen in die Kirche? Warum kommt er dann überhaupt her? Geduld, Geduld, ermahnt er sich sofort. Gottes Werk, denk immer daran, Gottes Werk. Er seufzt. Was für ein Kampf!
Der andere hat die ganze Zeit nichts gesagt. Vielleicht überlegt er, wie er sein sündhaftes Denken formulieren soll?
»Padre«, sagt der Sünder plötzlich entschlossen. »Ich glaube an die Logik, deshalb bin ich Mathematiker geworden. Es gibt für mich nichts Eleganteres als die Logik.«
»Das freut mich für dich«, sagt der Padre lahm. Was hat das bitteschön mit seiner Sünde zu tun?
»Ich halte mich an ihr fest, seit ich denken kann«, fährt die Stimme fort. »Früher glaubte ich, die Logik sei die Wahrheit, und sie war in meinem Besitz!« Er schweigt kurz. »Aber heute...




