E-Book, Deutsch, 432 Seiten
Woolf Marigolds Töchter
20001. Auflage 2020
ISBN: 978-3-8437-2381-7
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 432 Seiten
ISBN: 978-3-8437-2381-7
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Julia Woolf ist das Pseudonym von Santa Montefiore. Das englische Landleben kennt sie von klein auf. Die satt-grüne Landschaft und ihre oft eigenwilligen Bewohner inspirieren sie noch heute. Ihre Romane wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und sind nicht nur in England Nummer-1-Bestseller.
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1
Es schneite. Dicke, pludrige Flocken, so groß wie Wattebäusche, fielen vom Himmel, während sich erstes Licht durch die dichten Wolken kämpfte. Marigold stand mit ihrem Tee in der Hand am Küchenfenster. Sie war von stämmiger Statur und trug einen rosa Morgenmantel zu passenden Plüschpantoffeln. Verzückt beobachtete sie, wie sich ihr die Landschaft langsam in all ihrer herrlichen Weichheit enthüllte. Nach und nach tauchte der Garten aus der Nacht auf: die Eibenhecke, die Beete und die Sträucher, die Bäume mit ihren knorrigen, verdrehten Ästen. Alles war geduckt und still, schlafend unter einer flauschigen Decke. Schwer vorstellbar, dass Leben in der gefrorenen Erde war. Und noch undenkbarer schien, dass im Frühjahr wieder Holunder und Flieder blühen würden. Nein, mitten im Winter konnte man sich den Frühling nicht ausmalen.
Am Ende des Gartens traten neben dem Schuppen die Konturen des Apfelbaumes aus dem Schneeschleier hervor. Mit seinem massigen Stamm und den gekrümmten Ästen erinnerte er an eine mythische Kreatur, die von einem uralten Zauber in der Bewegung eingefroren war. Oder er war schlicht versteinert vor Kälte, denn es war wirklich sehr kalt. Marigold sah zu dem Futterspender, der an einem der Äste hing. Er lockte immer noch den einen oder anderen beharrlichen Vogel an, der ihn auf der Suche nach übersehenen Körnern umflatterte. Marigold hatte ihn gestern befüllt, doch jetzt war er leer. Sie hatte ein Herz für die hungrigen Vögel, die den Winter einzig dank ihres Futterspenders überlebten. Sobald sie ihren Tee getrunken hatte, würde sie ihre Stiefel anziehen und den Spender auffüllen gehen.
Sie spürte, dass sie beobachtet wurde, drehte sich um und sah ihren Mann Dennis an der Tür stehen, der sie liebevoll betrachtete. Er war für die Kirche angezogen, trug einen dunkelblauen Anzug und eine Krawatte. Sein graues Haar hatte er seitlich gescheitelt und glatt gebürstet, seinen Bart getrimmt. Für Marigold, die ihn immer noch mit den Augen der Zwanzigjährigen sah, die ihn vor über vierzig Jahren kennengelernt hatte, war er ein gut aussehender Mann. Sie reckte das Kinn und lächelte ihm zu. »Was siehst du denn an?«, fragte sie.
»Dich«, antwortete er, und seine blauen Augen blitzten.
Kopfschüttelnd wandte sie sich wieder zum Garten um. »Es schneit«, sagte sie.
Er kam zu ihr ans Fenster, und sie beide sahen gleichermaßen erfreut nach draußen. »Wunderschön«, seufzte Dennis. »Wirklich wunderschön.« Er legte einen Arm um Marigolds Taille, zog sie an sich und küsste sie auf die Schläfe. »Weißt du noch, wie ich das erste Mal deine Hand gehalten habe, Goldie? Da hat es auch geschneit, nicht?«
Marigold lachte. »Daran erinnerst du mich jedes Mal, wenn es schneit, Dennis.«
Sein Lächeln wirkte verlegen. »Ich erinnere mich eben gern daran. Eine schöne Frau, ein schöner Abend, Schnee und ihre Hand in meiner. Sie war warm, deine Hand. Und du hast sie nicht weggezogen. Da wusste ich, dass ich eine Chance hatte. Du hast mir erlaubt, deine Hand zu halten. Das war damals eine große Sache.«
»Was bist du doch für ein alter Romantiker!« Sie neigte den Kopf zur Seite und wusste, dass er sie wieder küssen würde.
»Und, liebst du deinen alten Romantiker?«, flüsterte er in ihr Haar.
»Tue ich«, antwortete sie. »Du gehörst zu einer seltenen Art. Von der gibt es nicht mehr viele Exemplare.« Sie tippte an seine Brust. »Und jetzt setz dich hin. Ich bringe dir deinen Tee.«
»Solche wie dich gibt es heute auch nicht mehr«, sagte Dennis und ging zum Küchentisch, wo Mac, der schwarzweiße Kater, auf seinem Stuhl auf ihn wartete. »Ich wusste, dass ich jemand Besonderes gefunden hatte, als ich deine Hand hielt.«
Ihre Tochter Suze kam verschlafen in einem geblümten Pyjama, einer langen grauen Strickjacke und dicken Socken hereingeschlurft. Ihr blondes Haar war ungekämmt, und der dichte Pony fiel ihr über die Augen, während sie auf ihr Smartphone starrte. »Morgen, Schatz«, sagte Marigold munter. »Hast du den Schnee gesehen?«
Suze blickte nicht auf. Sie hatte den Schnee gesehen. Na und? Sie setzte sich auf ihren üblichen Platz neben ihrem Vater und murmelte ein kaum hörbares »Guten Morgen«. Dennis sah Marigold an, sie verstanden sich wortlos. Marigold holte zwei Becher vom Regal. Sie würde Dennis seinen Tee und Suze ihren Kaffee machen, genau wie jeden Morgen. Diese festen Abläufe gefielen ihr. Sie gaben ihr das Gefühl, gebraucht zu werden, und Marigold fühlte sich gern gebraucht. Dann fiel ihr ein, dass sie nicht mehr nur zu dritt waren, und sie nahm noch einen Becher vom Bord.
»Ach du meine Güte, habt ihr schon nach draußen gesehen? Schnee! Das ganze Land wird zum Stillstand kommen«, sagte Nan finster, als sie in die Küche kam. Marigolds Mutter suchte eifrig an allem das Negative und war erst richtig froh, wenn sie es gefunden hatte. »Erinnerst du dich an den Winter 1963?« Sie sog durch die Lippen Luft ein. »Wir saßen eine Woche lang im Haus fest! Dein Dad musste uns mit einem Spaten frei schaufeln. Das hat ihm den Rücken kaputt gemacht, ja, hat es. Ohne einen Kratzer war er aus dem Krieg zurückgekommen, aber er hat sich den Rücken ruiniert, als er uns mit einem Spaten frei schaufeln musste.« Sie zog ihren Morgenmantel fester um sich und erschauderte. »Die Kälte werde ich nie vergessen. Oh, das war wie in Sibirien!«
»Warst du jemals in Sibirien, Nan?«, fragte Suze desinteressiert, ohne den Blick von ihrem Telefon zu lösen.
Ihre Großmutter ignorierte die Frage. »Wir hatten nicht den Luxus einer Zentralheizung wie du, Suze«, sagte sie. »Es war hart. Drinnen waren Eisblumen an den Fenstern, und wir mussten in den Garten, um die Toilette zu benutzen. Im Haus gab es damals keine. Ihr jungen Leute wisst gar nicht, wie gut ihr es habt.«
Marigold schaute aus dem Fenster. Der Anblick des Schnees hatte sie aufgemuntert. Das Land könnte zum Stillstand kommen, dachte sie fröhlich, aber es sähe wie ein Winterwunderland aus.
»Sehr schön«, sagte Nan, als ihr ein Tee hingestellt wurde. Sie war sechsundachtzig, ihr lockiges Haar weiß, ihr Körper gebrechlich und ihr Gesicht so faltig wie Krepppapier. Doch ihr Verstand war messerscharf wie eh und je; die Jahre hatten ihr vieles genommen, aber den nicht. Marigold gab Nan das Kreuzworträtsel aus der Zeitung, bevor sie zur Anrichte ging und zwei Brotscheiben in den Toaster steckte. Nan war erst letzte Woche zu Marigold und Dennis gezogen, nachdem sie monatelang behutsam auf sie eingeredet hatten. Sie hatte sich gesträubt, das Haus zu verlassen, in dem sie während ihrer gesamten Ehe gelebt und zwei Kinder großgezogen hatte, Marigold und Patrick. Dabei zog sie nur ein paar Hundert Meter die Straße weiter rauf. Sie hatte darauf bestanden, dass sie sehr wohl imstande sei, für sich selbst zu sorgen, und gejammert, als würde sie in den Wartesaal zum Sterben geschoben, obwohl sie noch nicht bereit war zu gehen. Am Ende hatte sie mürrisch ihr Haus verkauft, für das sie eine hübsche Summe bekommen hatte, und war zu ihrer Tochter gezogen, wo sie sich in ihrem neuen Zimmer einrichtete. Sie hatte verlangt, dass Dennis die Bilder an den Wänden durch ihre eigenen ersetzte, und er hatte auf seine gutmütige Art gehorcht. Unterdessen hatte Marigold geholfen, Nans Sachen auszupacken und alles zu ihrer Zufriedenheit zu arrangieren. Tatsächlich hatten Mutter und Tochter rasch in eine angenehme Routine gefunden. Nan stellte fest, dass es gar nicht so übel war, jemanden auf Abruf zu haben, und Marigold genoss es, sich um eine weitere Person zu kümmern, weil sie sich gern nützlich machte. Seit über dreißig Jahren betrieb sie den Dorfladen mit dem Postschalter und saß in diversen Ausschüssen – für den Gemeinderat, die Kirche und die eine oder andere Wohltätigkeitsorganisation –, weil sie es mochte, beschäftigt zu sein. Und sie hatte nicht vor, irgendwas davon aufzugeben, nur weil sie sechsundsechzig war. Vielmehr bescherte es ihr ein wohlig warmes Gefühl, nun auch von ihrer Mutter gebraucht zu werden.
»Tja, ich liebe Schnee«, sagte sie und schlug Eier in die Pfanne.
Nan studierte das Kreuzworträtsel durch ihre Brillengläser. »Das ganze Land wird zum Stillstand kommen, sage ich euch«, wiederholte sie. »Ich erinnere mich an den Winter 1963. Vieh ist gestorben, Leute sind erfroren, nichts ging. Überall Tod und Zerstörung.«
»Na, ich erinnere mich an den Winter 2010, und da kamen wir alle klar«, sagte Suze, die nach wie vor auf ihr Smartphone sah.
»Was machst du eigentlich dauernd mit dem Ding?«, fragte Nan, die über den Tisch zu ihr blickte. »Du guckst schon den ganzen Morgen drauf.«
»Das ist mein Job«, murmelte Suze und strich sich mit einer manikürten Hand den Pony aus dem Gesicht.
»Sie ist ›Influencerin‹«, erklärte Marigold und nickte Suze zu, obgleich die es nicht sah. Weshalb sie auch den stolzen, ein wenig verwirrten Gesichtsausdruck ihrer Mutter nicht wahrnahm.
»Was ist denn eine ›Influencerin‹?«, fragte Nan.
»Es bedeutet, dass jeder ich sein will«, informierte Suze sie bar jeder Ironie.
»Sie schreibt über Mode, Essen und, ähm, Lifestyle, stimmt’s nicht, Schatz?«, sprang Marigold ein. »Ein bisschen von allem, und das stellt sie auf ihren Instagram-Account. Du müsstest es dir mal ansehen. Die Fotos sind reizend.«
»Verdient man damit Geld, ein bisschen von allem zu machen?«, fragte Nan, die klang, als hielte sie es für keine lohnenswerte Beschäftigung.
»Sie wird jede Menge verdienen«, antwortete Dennis für seine Tochter, weil...




