E-Book, Deutsch, 304 Seiten
Reihe: Fischer Klassik Plus
Achebe Termitenhügel in der Savanne
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-10-400731-1
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 304 Seiten
Reihe: Fischer Klassik Plus
ISBN: 978-3-10-400731-1
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Chinua Achebe wurde 1930 in Ogidi im Osten Nigerias als Sohn eines Katechisten aus dem Stamm der Igbo geboren. Er studierte am University College von Ibadan und lehrte seitdem als Professor an nigerianischen, englischen und amerikanischen Universitäten. 1958 erschien sein erster Roman »Alles zerfällt«, eines der wichtigsten Bücher des zwanzigsten Jahrhunderts. 2002 wurde Achebe für sein politisches Engagement mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt, 2007 erhielt er den Man Booker International Prize. Chinua Achebe starb 2013 in Boston.
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1
Erster Zeuge – Christopher Oriko
»Sie verschwenden unser aller Zeit, Herr Informationsminister. Ich werde nicht nach Abazon gehen. Noch etwas auf der Tagesordnung?«
»Wie Exzellenz wünschen. Aber …«
»Keine Widerrede, Mr Oriko! Die Angelegenheit ist erledigt, habe ich gesagt. Wie oft, um Himmels willen, soll ich das eigentlich noch wiederholen? Warum haben gerade Probleme, meine Entscheidungen zu schlucken? Egal, worum es sich handelt?«
»Tut mir leid, Exzellenz. Aber es bereitet mir keinerlei Schwierigkeiten, Ihre Entscheidungen zu schlucken zu verdauen.«
Sein wuterfüllter Blick traf mich und ließ mich nicht mehr los. Einen Augenblick lang hatten sich unsere Blicke im Nahkampf gemessen, dann senkte ich meinen in zeremonieller Kapitulation auf die glänzende Tischplatte. Langes Schweigen. Doch er war keineswegs besänftigt. Vielmehr gelang es ihm, in kürzester Zeit das Schweigen selbst zu einer eigenen Art der Auseinandersetzung werden zu lassen, ähnlich dem Blinzelspiel der Kinder. Auch hier trat ich ihm den Sieg ab. Ohne aufzuschauen, wiederholte ich: »Es tut mir sehr leid, Exzellenz.« Vor einem Jahr noch hätte ich das nie ein zweites Mal über die Lippen gebracht, ohne mir selbst schwerste Gewalt anzutun. Heute tat ich es, als erwiese ich ihm ganz beiläufig einen Gefallen. Mir bedeutete es überhaupt nichts, bereitete mir keinerlei Unannehmlichkeit, doch ihm bedeutete es alles.
Ich betrachte das Ganze als ein Spiel, das relativ unschuldig begonnen hatte, doch plötzlich seltsam und gefährlich geworden war. Möglicherweise kann sich selbst diese Einschätzung noch als zu optimistisch herausstellen. Denn sollte ich recht haben, dann müsste beim Rückblick auf die beiden vergangenen Jahre ein besonderer und entscheidender Augenblick herausgreifbar sein, von dem gilt, ab dem und dem Punkt wurden die Spielregeln außer Acht gelassen, und alles ist schiefgelaufen. Doch obwohl ich hartnäckig und lange danach gesucht habe, habe ich weder einen solchen Augenblick noch eine solche Ursache finden können. Und so hat es langsam den Anschein, dass das Ganze wohl nie ein Spiel war, dass der gegenwärtige Zustand von Anfang an bestanden hat und dass ich nur zu blind oder zu geschäftig war, ihn wahrzunehmen. Doch die eigentliche Frage, die ich mir oft gestellt habe, lautet: Warum mache ich denn weiter, nun, da mir die Augen aufgegangen sind? Ich weiß es nicht. Aus lauter Trägheit vielleicht. Oder möglicherweise aus reiner Neugier: um zu sehen, wo es alles … nun, enden wird. Ich denke dabei nicht so sehr an ihn als vielmehr an meine Kollegen, elf intelligente, gebildete Männer, die dies alles über sich ergehen lassen, die wahrlich alles darangesetzt haben, es heraufzubeschwören, und die selbst jetzt noch nichts begriffen und nichts gelernt haben – die Elite unserer Gesellschaft und die Hoffnung aller Schwarzen. Ich nehme an, dass ich um ihretwillen noch immer auf diesem lächerlichen Beobachtungsposten sitze und absurde Eintragungen in das verrückte Logbuch unseres Staatsschiffes mache. Die Enttäuschung über sie hat sich längst in gleichgültiges klinisches Interesse verwandelt.
Mittlerweile finde ich ihr Tun nicht nur erträglich, sondern durchaus interessant, ja sogar aufregend. Erstaunlich! Wenn ich daran denke, dass ich persönlich fast die Hälfte von ihnen zur Berufung ins Ministeramt vorgeschlagen habe.
Und rückhaltlose Ehrlichkeit gebietet mir natürlich, einen letzten Faktor zu erwähnen, der mich weiterhin auf meinem Posten verbleiben lässt – eine Tatsache, derer ich mich ein wenig schäme –, dass ich nämlich diese Dinge nicht niederschreiben könnte, wäre ich nicht hier, um alles zu beobachten. Keiner sonst würde es tun.
Während wir steif um den Mahagonitisch saßen, konnte ich ihre Gedanken lesen: Was einen schlechten Tag bedeutete. Heutzutage haben wir gute oder schlechte Tage, je nachdem, wie Seine Exzellenz am Morgen aufwacht. An einem Tag wie heute, der nach vielen günstigen Anzeichen plötzlich zu einem schlechten Tag geworden war, bleibt einem nichts anderes übrig, als vor seinem Schlupfloch zu liegen, bereit, sich in aller Eile darin zu verkriechen. Und vor allem den Mund zu halten, denn nichts ist gefahrlos – nicht einmal die als Diskussionsbeiträge verkleideten Schmeicheleien, in denen wir zu wahren Experten geworden sind.
Zu meiner Rechten saß der Honourable Commissioner für Erziehung und Bildung. Er ist bei weitem der Ängstlichste von allen. Sobald er Gefahr gewittert hatte, hatte er sich in sein Loch zurückzuziehen begonnen, wollte rückwärts verschwinden wie manche Tiere und Insekten. Instinktiv hatte er seine Papiere zusammengeschoben und war gerade dabei, den Aktendeckel zuzuklappen und ihn mit in sein Loch zu ziehen, als sein ganzer Körper plötzlich erstarrte. Stärkere Alarmsignale aus tieferen Instinktschichten hatten ihn möglicherweise darauf aufmerksam gemacht, dass er etwas tat, das in dieselbe Kategorie gehörte, wie Seiner Exzellenz die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Dann passiert etwas völlig Absurdes. Er lässt den Aktendeckel so jäh los, dass sich jedermann ihm zuwendet und Zeuge seiner seltsamsten Handlung wird – in panischem Bemühen, wiedergutzumachen und Buße für das unabsichtlich um ein Haar begangene Sakrileg zu tun, breitet er seine Sitzungspapiere wieder aus. Dann lässt er seinen Blick um den Tisch wandern, bis er sich mit dem Seiner Exzellenz kreuzt, um ihn dann sofort auf den Mahagonitisch zu senken. Seit meiner zweiten Entschuldigung war das Schweigen nicht gebrochen worden. Ich war mir ganz sicher, dass sich der arme Kerl (Originalität war noch nie seine Stärke gewesen) anschickte, es mir wortwörtlich gleichzutun. Ich könnte schwören. Er hielt die Oberarme fest an die Seiten gedrückt, als wollte er sich kleiner machen, die Hände hatte er wie ein Bittsteller auf der Brust gefaltet.
Doch an seiner Stelle spricht Seine Exzellenz. Dabei wendet er sich nicht einmal an ihn, den jüngsten Übeltäter, sondern noch immer an mich. Und dieser erstaunliche Mensch gibt sich fast freundlich, ja versöhnlich. In diesem Augenblick verwandelt sich der Tag. Die feurige Sonne verzieht sich vorübergehend hinter einer Wolke, uns wird Strafaufschub gewährt, und wir beginnen sofort zu feiern. Schon im Voraus höre ich die vielen Komplimente, die wir ihm machen werden, sobald er uns den Rücken gekehrt hat – das Schwierige mit Seiner Exzellenz sei eben, dass er niemals jemandem weh tun und darüber die Sonne untergehen lassen könne.
Diesen Rest Anstand immerhin haben wir uns noch bewahrt: Wir warten tatsächlich, bis er uns den Rücken gekehrt hat. Und einige werden hinzufügen: Das ist schade, denn eigentlich braucht das Land einen rücksichtslosen Diktator. Mindestens fünf volle Jahre lang. Und dann brechen wir alle in übermäßig lautes Lachen aus, denn, meine Güte, wir wissen wohl, dass uns niemals eine solch unverdiente Wohltat wie ein rücksichtsloser Diktator zuteil werden wird.
»Bist du dir eigentlich bewusst, Chris, was du von mir verlangst?«, sagte er. Ich sage nichts, rühre mich nicht, bewege nicht einmal den Kopf. In solchen Augenblicken wird mein Kopf schwer wie Granit, und obwohl ich durchaus klar und logisch denke, scheinen meine Gedanken von weither zu kommen und die Geschehnisse durch ein Teleskop wahrzunehmen. Ich bemerke – unwichtig vielleicht –, dass er die eisige Distanz von und hat fallenlassen. Doch ich erlaube es mir nicht mehr, mich von solchen Nettigkeiten ablenken zu lassen. Ich glaube, er hat meine Ruhe entweder als Zustimmung oder als Ablehnung verstanden. Es war keines von beidem. Reines, unverfälschtes Desinteresse.
»Du verlangst von mir, diese Leute für dumm zu verkaufen«, sagt er, und seine Stimme klingt beschwichtigt und ziemlich überheblich. Ich schüttele langsam den Kopf. »Doch, genau das verlangst du von mir«, sagt er lebhaft, durch meine schwache, wiederauflebende Opposition zum Kampf angespornt. »Diese Leute glauben an Regenmacher, machen wir uns doch ihre Unwissenheit zunutze und punkten dabei noch. Genau das verlangst du von mir, Chris. Nun, das kann ich nicht. Ihr scheint alle zu vergessen, dass ich noch immer Soldat bin und kein Politiker.«
Er trägt Zivilkleidung, da er sich zurzeit immer häufiger innerhalb des abgeschlossenen Bereichs des Präsidentenpalastes aufhält – ein weißes, geschmackvoll mit Goldfaden besticktes und die dazu passende Hose. Im Gegensatz dazu sind viele meiner Kollegen, besonders jene, die von den Universitäten kommen, bestrebt, militärisch auszusehen. Professor Okong trägt nur khakifarbene Safarianzüge, komplett mit Achselklappen. Es ist erstaunlich, wie sehr der Intellektuelle den Mann der Tat beneidet.
Ich glaube, Seine Exzellenz nahm mein kaum merkliches Lächeln über die Mahnung, dass er noch immer Soldat sei, wahr; er hat ein echtes Talent, in den Gesichtern anderer zu lesen. Ich sah ihn kurz abwägen, ob er reagieren oder mich ignorieren sollte. Schließlich tat er weder das eine noch das andere, sondern etwas wirklich sehr Gekonntes. Er ließ den Blick nicht von mir, doch gleichzeitig gelang es ihm, mir durch seinen Tonfall zu verstehen zu geben, dass ich von dem, was er jetzt sagte, ausgeschlossen sei, dass seine Worte zu kostbar waren, um an professionelle Dissidenten verschwendet zu werden.
»Soldaten sind einfach und geradeheraus«, sagte er trotzig. »Wenn wir euch die Staatsgeschäfte wieder übergeben und in die Kasernen...




