Bedford | Ein trügerischer Sommer | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 288 Seiten

Bedford Ein trügerischer Sommer

Roman
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-492-99134-6
Verlag: Piper Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

ISBN: 978-3-492-99134-6
Verlag: Piper Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Elegant und scharfzüngig - Sybille Bedford nimmt die mondäne Gesellschaft Ende der Zwanzigerjahre in Europa aufs Korn und zeigt ganz nebenbei, wie tief die Abgründe der Verführbarkeit sein können. Ende der Zwanzigerjahre war Europa ein Ort der Hoffnung. Jedenfalls für die 17-jährige Flavia, die sich einen Sommer lang an der Côte d'Azur einrichtet, um für ihren Studienplatz in Oxford zu büffeln. Noch ahnt sie nicht, welche Ablenkungen auf sie warten ...  »Leicht, witzig, gehaltvoll, wehmütig - groß.« Frank Goosen in der Frankfurter Rundschau

Sybille Bedford, geboren 1911 in Berlin als Tochter des Barons von Schoenebeck und seiner englischen Gattin, wuchs in Deutschland, England, Italien und Frankreich auf. Als junges Mädchen lebte sie mit ihrer Mutter und deren zweitem Ehemann, einem Italiener, an der Côte d'Azur, dem Zufluchtsort für viele europäische Künstler und Intellektuelle der Zeit. Alle ihre Romane und Reiseerzählungen schöpfen aus ihrem reichen biographischen Hintergrund. Sybille Bedford hat außerdem viele Jahre als Gerichtsreporterin berühmten Prozessen beigewohnt und darüber für Esquire und Life berichtet. Sie starb 2006 in London.
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Prologe


Die entscheidenden Fragen ergaben sich natürlich durch Zufall.

Der Mann von der Zeitung sagte: »Die Zwanziger, das war Ihre Zeit, Miss Herbert, oder? Miss Herbert ist doch richtig?«

»Nein, eigentlich Mrs.«, sagte Flavia.

»Sie kannten viele der zeitgenössischen Schriftsteller?«

»Meine Güte, nein. Ich war noch ein Kind. Lebte den größten Teil des Jahres bei meiner Großmutter. In Italien.«

»Sollen wir dann sagen, die Dreißiger?«

»Damals wurde ich erwachsen. In den Dreißigern wurde ich erwachsen. Ich wurde volljährig, als Hitler im Rheinland einmarschierte.«

»Ach ja?« sagte der junge Mann. »Aber Sie haben doch über die Zwanziger geschrieben?«

»Über die Vergangenheit anderer Menschen. Die scheint einem ja immer klarer zu sein.«

»Stimmt es, dass Ihre Großmutter eine Herzogin war, Mrs.?Herbert?«

»Nein.«

»Ihre Leser wüssten es gern.«

»Ihre Leser.«

»Mrs. Herbert«, sagte er ernst, »unsere Leser sind potenziell Ihre Leser.«

»Was für eine reizende Aussicht, wo Sie doch so viele haben.«

»Danke.«

Flavia warf ihm einen Blick zu, spöttisch, distanziert, freundlich. »Meine Großmutter war Amerikanerin.«

»Oh.«

»Sie war eine Miss Howland und kam aus Neuengland, aus Rhode Island.«

»Ja?«

»Ja.«

»Dann hat sie wohl geheiratet.«

Entschiedener nun sagte Flavia: »Sie ist seit fünfunddreißig Jahren tot.« Dann fügte sie hinzu: »Ja, sie war verheiratet.«

»Ich versuche bloß, mehr über Ihre internationale Herkunft hineinzubringen.«

Flavia sagte nichts.

Er sah nicht so aus, als gebe er sich damit zufrieden.

»Als verfrühte Europäerin?«

»Aber geboren sind Sie in England?«

»In England. Ich musste erst einmal über den Ärmelkanal.«

»Ihr Vater?«

»War Jurist und wurde Parlamentsabgeordneter, falls das etwas über ihn aussagt. Das interessiert doch heute niemanden mehr. Er ist früh gestorben. Viel zu früh.«

»Hat er nicht all seine Bilder dem Staat vermacht?«

»Ja, sie sind an den Staat gegangen.«

Irgendetwas veranlasste ihn zu fragen: »Sie kannten Ihren Vater? Sie waren alt genug?«

»Nein.« Obwohl ich alt genug war, fügte sie nicht hinzu.

»Und wo sind Sie zur Schule gegangen, Mrs. Herbert?«

»Zu Hause. Nicht, dass wir eines hatten. Es lief … nicht immer alles glatt.«

»Aha?«

»Glücklicherweise hatte ich ein paar kluge Freunde.«

»Studiert?«

»Nicht studiert«, sagte Flavia.

»Die klugen Freunde …?«

»Älter als ich.«

»Wie kam’s?«

»Es ergab sich. Durch die Umstände.«

»Meines Wissens lebten Sie als Heranwachsende in Frankreich. Im Süden Frankreichs.«

»Ja, in Frankreich.«

»Das muss doch ein wunderbares Leben gewesen sein.«

»Wissen Sie, was? Auf eine Weise war es das.« Flavia stand auf, durchquerte das Zimmer und setzte sich in einen anderen Sessel. Das war eine Angewohnheit von ihr. »Wir lebten in einer Illusion von Freiheit, dafür sorgten die Franzosen, das konnten sie. Eines ist uns damals in dieser Ecke des schrumpfenden Westens – wer hat das noch gesagt? – nie in den Sinn gekommen: Wir hätten nie gedacht, dass das Leben, wie wir es kannten, sich so rasant ändern würde, dass die Art zu leben sich ändern würde.«

»Ja?«

»Und dann der Ort selbst …« Sie redete schnell, hielt aber zwischendurch immer wieder inne, als bahne sie sich vorsichtig einen Weg. »Die Landschaft da unten war ausnehmend schön – karg und weit, Olivenbäume und Fels. Und das Licht. Dieses beständige Licht. Und natürlich das Meer. Es packte einen mit Macht, man wurde Teil davon und hatte zum Schluss das Gefühl, man könne nirgendwo anders mehr leben. Es war wie Liebe.«

»Sie hatten einen französischen Stiefvater, Mrs. Herbert?«

»Man könnte ihn so nennen.«

»Er lebte auch an der Riviera?«

»Im Ruhestand, das heißt, eher in der Zurückgezogenheit als im Ruhestand. Er schrieb. Über bittere gesellschaftliche Wahrheiten. Keiner hörte weiter auf ihn. Heute würde man ihn vermutlich in Stücke reißen. Er hielt nicht viel vom kleinen Mann und sah vieles voraus, das später geschah. Er hegte keine falschen Hoffnungen. Im übrigen war es nicht die Riviera, ganz und gar nicht. Es war die unelegante Seite der Küste – die Provence, ein Fischereihafen und eine Handvoll Menschen.«

»Aber Sie sind weggegangen?«

»Nach München war alles vorbei.«

»Sie sind nicht zurückgekehrt nach dem Krieg?«

»Nein, bin ich nicht.«

»Wollten Sie nicht?«

»Es ist niemand mehr dort, und der Ort hat sich sicher auch verändert. Außerdem mag ich mein jüngeres Ich nicht besonders. Fragen Sie mich nicht, wie es war.«

»Wie war es, Ihr jüngeres Ich?«

»Jung.«

»Das ist kein Verbrechen.«

»Ach, ich weiß nicht.« Flavia nahm einen Briefbeschwerer, legte ihn hin, hob die Hand. »Man macht komische Sachen. Wissen Sie, wenn man jung ist, fühlt man sich noch nicht zugehörig, als Teil der Menschheit; man tut Dinge, die noch nicht endgültig sind. Alles ist wie eine Probe, die man nach Belieben wiederholen kann. In der man etwas korrigieren kann, bis es ernst wird und der Vorhang aufgeht. Doch eines Tages merkt man, dass der Vorhang die ganze Zeit auf war. Dass es die Aufführung war

Der junge Mann fragte: »Wann haben Sie Ihr erstes Buch veröffentlicht?«

Flavia sagte es ihm.

»Eine Spätzünderin?«

»Eine Spätzünderin. Wenn auch keine Spätberufene.«

»War das erste …?« Er nannte einen Titel.

»Sie haben Ihre Hausaufgaben gemacht! Das war ein ziemlich dünnes Buch. – Es war eine Art Echo.«

»Echo auf was?«

»Ach, auf so manches, die Ideen anderer Menschen. Dinge, an die man geglaubt hat.«

»Würden Sie wohl diese Liste von Veröffentlichungen für mich durchsehen?«

»Ja, gern.« Und dann sagte sie: »Und jetzt muss ich Ihnen, wie versprochen, etwas zu trinken anbieten.«

»Wenn es schnell geht, ich habe noch einen anderen Termin.«

»Was wollen Sie? Scotch?«

»Ja, bitte.«

Sie goss ihm einen Whisky und sich selbst einen Brandy-Soda ein.

Während sie tranken, sagte sie: »Tut mir leid, für Sie war das Interview wahrscheinlich recht fade. Aber wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf: Sie sind nicht ganz unschuldig daran. Leute in Ihrem Metier sind so wenig neugierig.«

»Aber nicht doch!«

»Es gehören zwei dazu, die Wahrheit zu erzählen.«

Bevor der Zeitungsmann ging, zückte er ein Buch mit einem knallbunten Umschlag. »Es ist von dem Autor, den ich gleich treffe, einem Amerikaner. Diese Woche kommt es heraus. Man soll daraus lernen, wie man sich ändert.«

»Das kann nie schaden.«

»Wie man mit dem Leben fertig wird, indem man alle möglichen Tricks bei sich anwendet …«

»Darf ich mal einen Blick hineinwerfen?« fragte Flavia.

»Es sind lauter Anleitungen.«

»Anleitungen?«

»Hier steht zum Beispiel, man solle sich in einen Sessel setzen, sich eine Frage stellen und sie beantworten. Da die Antwort normalerweise schlecht ist, fragt man Tag für Tag weiter, bis man irgendwann die richtige hat.«

»Und was soll einem die richtige Antwort nützen?«

»Keine Ahnung.«

»Was für Fragen?«

»Die verschiedensten, auch da muss man die richtige herausfischen.« Der Mann von der Zeitung las vor: »›Das Leben welcher realen oder fiktiven Person habe ich im Alter von sechzehn bis einundzwanzig zu führen versucht?‹«

»Das ist leicht«, sagte Flavia. »Die erste und mithin schlechte Antwort lautet: mein eigenes Leben.«

Sehr spät am selben Abend unterhielt sich Flavia wieder mit jemandem, der ihr praktisch fremd war. Es war am Ende einer Dinnerparty. Die noch verbliebenen Gäste saßen gemütlich beisammen, und es herrschte eine Atmosphäre geistiger Klarheit, Gelöstheit, Zwanglosigkeit.

»Ich bin nächstes Jahr dran«, sagte er. »Wie fühlt man sich?«

»Wie in den letzten Tagen im Dezember, wenn abgerechnet wird, wenn die Bilanz erstellt wird.«

Das Dinner heute abend hatte zu Ehren Flavias stattgefunden. Es war ihr Geburtstag. Ihr fünfzigster.

»Also das übliche, man zieht Bilanz?« sagte er.

»Ja, durchaus. Aber spannend.«

»Ich bin überrascht, dass Sie das tun.«

»Ein paar Konventionen beachte ich, Sie nicht?«

»Doch, aber ich bin auch ein ziemlich konventioneller Mensch. Während Sie das, glaube ich, nicht sind.«

»Konventionell nach der Auffassung unserer Generation oder unserer Zeit?«

»Man versucht, einen Mittelweg zu gehen.«

»Ist das nicht Konformismus? Die Franzosen sagen être dans le vent, wenn man mit der Zeit geht, das klingt freier, ist aber das gleiche.«

»Und Sie versuchen es nicht?« fragte er.

»Mich anzupassen? Nein. Eigentlich nicht.«

»Und die Konventionen …«

»Je nachdem. Man tut, als passe man sich irgendwo an.«

»Tut so? Für wen?«

»Für sich selbst, nur für sich selbst.«

»Und klappt es?«

»Dass ich mich anpasse? Ich fühle mich an recht vielen Orten zu Hause.«

»Zu Hause auf Besuch?«

Er hatte ein langes, ledriges Gesicht und kleine, freundliche Augen, dieser Mann, dessen Namen sie kaum mitbekommen hatte und der zu dieser späten Stunde neben ihr saß und sich, sein Glas in der Hand, im Sessel zurücklehnte....



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