E-Book, Deutsch, 200 Seiten
Behrend DORNENGRAS & GINSTERZWEIG
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-95765-716-9
Verlag: p.machinery
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 200 Seiten
ISBN: 978-3-95765-716-9
Verlag: p.machinery
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein geheimnisvoller Mann bezieht den Trailer hinter den Ginsterbüschen. Er ist nicht allein, seine Frau begleitet ihn. Douglas Hewitt und Kaynee Simmons sind in Liebe vereint. Nur, dass Kaynee von keinem Bewohner des »Miracle of Boom« jemals gesehen wird.
Und welches Geheimnis trägt Sue, die Kellnerin, durch die Welt? Welche Rolle erfüllt Sterling Silver, die freischaffende Sexaktivistin? Was hat es mit dem Journalisten Jimmy Lee wirklich auf sich?
Geisteskraft, Körpertausch und die Frage, wie viel Nähe ein Mensch ertragen kann, sind die Schlüsselthemen der Fortsetzung des vielgelobten Romanes »Salzgras & Lavendel«.
Gabriele Behrend:
* geboren 16.01.1974, Regensburg
* aufgewachsen im Sachsenwald bei Hamburg
* 1994 Abitur in Schwarzenbek erworben
* 2003 erste Grafiken für das Science Fiction Magazin Nova erstellt, später Grafikredakteurin für drei Ausgaben
* 2005 erste Schreibversuche, erste Veröffentlichung
* 2017 Kurd-Laßwitz-Preis für die beste Kurzgeschichte erhalten (Suicide Rooms)
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Das Diner am Ende der Welt
Tick Tock. Tick Tock. Die Zeit zerrann unter dem Regiment des billigen Uhrwerks einer weißen, betagten Wanduhr aus ebenso billigem Kunststoff, der sich zäh gegen das Mürbewerden anstemmte. Tick Tock, Tick Tock. Eine Heerschar winziger Fliegen, die sich dem Auge weitestgehend entzog, hatte ihre Geschäfte nachdrücklich auf dem unteren Rand der Uhr verrichtet. Unzählige winzige braune Punkte einer träg festen Flüssigkeit zierten das matte, angestaubte Weiß des porösen Kunststoffes und wichen auch nicht dem plötzlichen Angriff eines vollgesogenen Putzschwammes, der nur eine Mission kannte: säubern. »Was machst du da?« Ein alter Mann ließ seine Worte zu Sue hinübergelangen. Sie bewegten sich langsam schwimmend durch die staubige Luft, die hier und da von einem Sonnenstrahl in ein goldiges Gefunkel getaucht wurde. Sue trug eine hellblaue Uniform, die, knapp geschnitten, ihre immer noch schlanke Gestalt zur Geltung brachte. Sue wusste noch genau, wie sie damals die erste dieser Uniformen selbst geändert hatte, damit sie so knapp saß. Es ging immer um das Trinkgeld. Manchmal musste man etwas von sich hergeben, um etwas zu bekommen. In ihrem Fall war es Würde, in Gegenzug zu ein paar Dimes mehr. »Ich beseitige den Fliegenschiss. Gibt ja sonst nicht viel zu tun heute. Und was sollen die Gäste denken, wenn sie schon hier hereinschneien sollten? Das wir ein Drecksladen sind? Das lass ich nicht zu!« Sue bearbeitete, mit einem Mal wütend geworden, die Uhr mit unnachgiebiger Härte. Langsam zeigten sich erste Erfolge. Tick Tock. Tick Tock. Aus einer besudelten Uhr wurde eine reine Uhr. Aber aus einer alten Uhr wurde keine fabrikneue mehr. Tick Tock. Sues knappes Oberteil konnte die Falten nicht verbergen, die sich in ihr Dekolleté geschlichen hatten. Sie konnten die Falten am Hals und im Gesicht nicht ungesehen machen, die scharfen Einkerbungen entlang der Nasenflügel oder den gefältelten Kranz um ihre Augen. Ihre langen, blondierten Haare, zu einem gewollt unordentlichen Dutt gebunden, dem größtmöglichen Ausdruck eines lang vergangenen Jungmädchentums, konnten nicht von diesem Umstand ablenken: Sue war alt geworden. Sie kam sich beizeiten wie ein Zirkuspferd vor, dem langsam die Luft ausging, das aber immer noch vom Hafer gestochen durch die Manege tollen konnte. »Und was machst du, Al?« Der alte Mann schob sich das papierne Schiffchen vom pfeffer-und-salz-farbenen vollen Haarschopf und stopfte es in die Gesäßtasche seiner hellblauen Kochhose. Dann zog er sich die befleckte Schürze über den Kopf und legte sie auf den Tresen neben sich. »Ich mach jetzt Feierabend. Die Küche ist für heute geschlossen. Du bleibst für das Nachmittagsgeschäft mit Kaffee und Kuchen?« »Wie immer, Al. Da kannst du dich auf mich verlassen.« Sue kletterte wieder von dem Tritt herunter, auf dem sie die letzte kurze Ewigkeit gestanden hatte, um die Uhr zu wienern. Sie ging mit schwingenden Hüften zu Al hinüber und stellte den kleinen Eimer mit dem Putzzeug und dem Dreckwasser neben ihm auf die Theke. »Geh schon. Ich räum hier auf.« Sie beugte sich vor und hauchte Al einen Kuss auf die Wange. »Mach dir einen schönen Tag. Morgen sehen wir uns wieder.« Al grinste und tätschelte Sues Wange. In ihren Handlungen wehte ein Hauch Jugend, eine Spur Verspieltheit und ein Quäntchen Freiheit mit und so waren sie für einen Moment nicht Susann Mueller und Alfred Lowinski, in Würde gealtert, sondern ganz pur nur Sue und Al, im Brustton der Zeitlosigkeit. Dann stieß sich Al vom Tresen ab, salutierte noch einmal und verschwand durch die Tiefen der Küche, an der Tür zum Kühlhaus entlang, aus dem Hintereingang des Diners. Das Lokal war hier an seiner Rückseite unglamourös, ehrlich gesagt sogar schreiend hässlich. Dunkler Staub kroch in den Ecken an dem Gebäude empor, ein fahler Schleier, ein grauer Nebel, der sich dort ins Schwarze hinein vertiefte, wo kein Schrubber und kein Putzlumpen hinkam. Und wie es sich so mit der Dunkelheit verhielt an diesem dem Licht fernen Ort im Nirgendwo, entlang der großen Kreuzung gelegen, da wucherte das Schwarz wie Pilzgeflecht und überzog die Wände. Es gab kaum ein Gegenankommen. Und trotzdem wienerte Pete jeden Morgen aufs Neue das Diner, um einen Rest Würde und Selbstachtung zu konservieren. Von seiner Vorderseite glänzten vereinzelt die besseren Tage. Der asphaltierte Vorplatz wies zwar hie und da abbröckelnde Kanten auf, Risse und aufgeplatzte Stellen. Aber dem Unkraut, das sich hier Bahn gebrochen hatte, wurde durch Pete erbarmungslos der Garaus gemacht. Und so sah alles auf den ersten Blick hübsch gleichmäßig und akkurat aus. Stromlinienförmig in stumpf metallic, mit Rot lackiertem Schild und Neonbeleuchtung, so thronte das Diner ›Miracle‹ über dem Parkplatz. Dabei war es nicht einmal echt. Ariel Woschlodiec hatte es nach Bildern bauen lassen, die er aus seiner Kindheit kannte, Fotos, die er sich aus den Alben seines Onkels zusammengeklaubt hatte, immer wenn er ihn als kleiner Dreikäsehoch besuchte. In dieser Zeit hatte er auch die passende Musik lieben gelernt, den Rock‘n’Roll, Elvis vor allem. Und so hatte er sich seinen Traum vom eigenen Diner erfüllt, da er in der Lotterie den Hauptgewinn eingestrichen hatte. Ein Tag war das gewesen, den hatte er nie vergessen. Er kam von der Arbeit beim Onkel in der Fleischerei, müde und abgekämpft, als er von zwei Mitarbeitern des staatlichen Lotteriespiels vor seinem Appartement abgefangen wurde. Sie drückten ihm einen Blumenstrauß in die Hand und eine Flasche Champagner, drängten ihn nach dem obligatorischen Foto in seine Wohnung, um über das Leben eines stinkreichen Pinkels aufzuklären, das er von nun an in der Lage war, zu führen. Sofern er dies beabsichtigte. Selbstverständlich durfte er seine Lebensumstände nicht zu schnell ändern. Er sollte sich Zeit lassen mit den Umbrüchen. Er sollte sich die Gelegenheit geben, sich an alles zu gewöhnen. Ariel fackelte nicht lang. Am darauffolgenden Tag setzte er sich an die Suche nach dem geeigneten Grundstück, beauftragte den ersten Architekten mit seinem Traum. Arbeitete an seiner Vision. Jetzt, sechzig Jahre später, nahm er noch immer jeden Donnerstag Platz in der Sitzgruppe gleich rechts vom Eingang und ließ sich seinen Pulled Pork Burger bringen. Er hatte Kenntnis davon, dass die besten Zeiten des Diners vorbei waren, er hatte mit Schmerzen das Personal reduziert. Nicht, weil er die Gehälter nicht hätte zahlen können, sondern da er sich sicher war, dass ein Mensch zu mehr geschaffen war, denn das Nichts zu verwalten. So waren ihm nur Al Lowinski geblieben, der Chefkoch, sowie Esmeralda Biggs, die Beiköchin und Clarence Lansing, der Aushilfskoch. Susann Mueller war seine Servicekraft der ersten Stunde. Sie wurde von den jungen, frischen und unbedarften Aushilfsmädchen Esther Watts und Mira Hanson unterstützt. Und dann war da Pete Regis, die unermüdliche Putzkraft. Inzwischen vom Alter gebeugt, nicht mehr so flink unterwegs wie einst, der Blick fand nicht wie gewohnt das Detail, aber was machbar war, das übte er stolz und gewissenhaft aus. Allen war eines gemein – sie wohnten im nahegelegenen Trailerpark ›Miracle of Boom‹. Den, wie außerdem die Tankstelle auf der gegenüberliegenden Seite der Kreuzung, hatte Ariel konzipiert, nachdem er das Diner erbaut hatte. Zum einen gefiel es ihm, dass es durch die Gasstation nicht so einsam im Nichts da stand, zum anderen wünschte er, einen Anreiz für Durchreisende zu schaffen, hier zu stoppen. Tanken, halten, die Knochen strecken und einen Happen essen, bevor man sich wieder auf die Straße begab, das Rezept hatte all die Jahre ausgezeichnet funktioniert. Bis die Zapfsäulen versiegten, die Nachfrage nach Brennstoff gesunken war und ein jeder mit diesen neumodischen Elektrokarren durch die Welt fuhr, immer darauf bedacht eine Ladestation zu finden. Ariel hatte sich bislang gesträubt, seine geliebten, aber vollkommen ausgetrockneten Tanksäulen gegen diese Stromtanken auszutauschen. Es war ihm egal, falls dies seinem Diner den Todesstoß versetzte. Sein Altersstarrsinn ließ sich in dem Punkt nicht von Fakten umschmeicheln oder aufweichen. Ariel hielt an dem Bild seiner Kindheit fest und dazu gehörten die schönen alten Verbrenner, mit ihrem Lärm und dem Duft nach Super bleifrei. Und so hatten sich neue Reiserouten entwickelt, die das Diner links liegen ließen und sich an den Stromtrassen orientierten. Ariel war darüber im Bilde, allein, es scherte ihn nicht. Er hatte durch die Bewohner des Trailerparks eine feste Stammkundschaft, die das Diner eben über Wasser hielt und der überschaubaren Mannschaft einen Sinn im Leben gab. Der Trailerpark lag circa zwei Kilometer in südlicher Richtung an der Nord-Süd-Trasse. Er beherbergte vierunddreißig Häuser auf Rädern, die irgendwann mal hier abgestellt worden waren, in verschiedenen Jahrgängen und Ausführungen. Wenn Pete einmal nicht um das Diner herum putzte, dann fungierte er als Platzwart. Er bewachte bis in die späten Abendstunden den Schlagbaum, ohne neue Gäste zu erwarten. Die kamen schon seit Jahren nicht mehr. Der Trailerpark ›Miracle of Boom‹ schlief einen tiefen Dornröschenschlaf, in dessen Traum die Menschen herumwuselten und ihrer Aufgaben nachgingen. Das gesamte Team vom Diner wohnte hier. Sie waren wie eine Familie und Pete freute sich jeden Tag aufs Neue, dass er ein Teil davon war. Er war sich sicher, bei Sue einen Kaffee zu bekommen, oder bei Al einen Hotdog. Er schätzte die bodenständige Art von Esmeralda, das Kicherige und Alberne von Mira sowie die nachdenkliche Sichtweise auf das Leben und den Rest des Universums von Esther. Nur mit Clarence fremdelte er, immer noch, auch nach so vielen Jahren. Denn der hatte ihm den...