E-Book, Deutsch, Band 1, 464 Seiten
Reihe: Lesen ist das neue Reisen
BERG Ein Sommer in Cassis
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-347-11357-2
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kriminalroman
E-Book, Deutsch, Band 1, 464 Seiten
Reihe: Lesen ist das neue Reisen
ISBN: 978-3-347-11357-2
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Peter Berg, Jahrgang 1950, studierte Sprach- und Literaturwissenschaft, Pädagogik, Politik und Kunst. Der promovierte Germanist war Lehrer von Beruf, arbeitete an Grundschulen, in der Referendarausbildung und viele Jahre als Schulamtsdirektor in der Bildungsverwaltung. Berufsbegleitend machte er sich unter dem Pseudonym PiTTo einen Namen als Künstler und stellte international aus. Nach der Pensionierung lebt der Vater von drei erwachsenen Söhnen heute mit seiner Frau als Maler und Schriftsteller in Nordhessen. Malen und Schreiben sind für ihn unverzichtbare Leidenschaften.
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Niemand konnte sagen, warum Isabelle heute nicht wie immer den Weg durch den Ort zum Hotel genommen hatte, sondern offenbar direkt zum Hafen gegangen war. Die junge Kellnerin hatte mir jeden Morgen fröhlich zugezwinkert und gefragt „Comme toujours?“ („Dasselbe wie immer?“). Dann hatte sie mir das für deutsche Verhältnisse karge französische Frühstück gerichtet: Café au Lait, in zwei Kännchen getrennt, die größere Portion mit Milch, die kleinere mit Kaffee, Croissant mit Butter und Konfitüre und einem zusätzlichen Brötchen.
Nun lag sie auf dem hölzernen Bootssteg, die Augen weit geöffnet mit Schrecken im Blick. Als habe sie zuletzt einem Ungeheuer ins Auge geschaut. Das kurze, bunte Leinenkleid vorn zerrissen, die langen, blonden Haare zerzaust, triefend nass, wie man sie gerade aus dem Wasser des Hafenbeckens gezogen hatte. Zwei Fischer sahen sie an der Wasseroberfläche treiben, als sie von ihrer Fahrt zurückkehrten. Rasch hatten sie das Mädchen aus dem Wasser gefischt. Doch es war zu spät.
Ratlose Betroffenheit in den Gesichtern der Umstehenden: Fischer, Restaurantbedienstete, Hotelgäste und einige der älteren Frauen des Dorfes. In ihren verwaschenen, blauen und dunkelroten Küchenkitteln warteten sie jeden Morgen auf die Rückkehr der Boote, um den Fang zu begutachten. Wenn die Fische dann auf den Holztischen am Kai ausgebreitet liegen, mit offenen Mäulern, die eben noch vergebens nach Luft schnappten und mit weit aufgerissenen Augen, feilschen die Weiber eifrig und lauthals mit den Fischern um die besten Stücke. Dann tragen sie ihre Beute für wenig Geld zusammen mit dem typischen Geruch in ihren Basttaschen nach Hause.
Außer mir, dem Frühaufsteher, war noch kein Tourist zu sehen. Sie kommen erst gegen neun aus ihren Hotels. Müden Blickes, die Nacht mit ihren Freuden noch in den Gliedern. Bis weit nach Mitternacht geht das sommerliche Treiben in den Gassen und Lokalen von Cassis. Für viele Sommergäste, vor allem die von den prachtvollen Yachten, fängt das Leben erst am Nachmittag an.
Es war mir schon aufgefallen, dass mir Catherine, die Concierge, heute den Kaffee selbst brachte. Der kleine, tägliche Flirt mit der hübschen Isabelle fehlte mir an diesem Morgen. Aber ich hatte nicht weiter darüber nachgedacht. Auch sie hatte ein Anrecht auf einen freien Tag. Die Sonne knallte am siebten Tag meines Urlaubs wie schon alle Tage zuvor von einem Himmel, wie man ihn sich bei uns nur erträumt. Bis zuletzt hatten mich die rätselhaften Prostituiertenmorde, die seit Wochen die Frankfurter Halbwelt in Aufruhr brachten, auf Trab gehalten. Als Erster Kriminalhauptkommissar und Leiter des Kommissariats Tötungsdelikte, Leichen und Vermisstensachen konnte ich gerade in dieser Zeit meine Kollegen nicht im Stich lassen. Ich musste den geplanten Urlaub immer wieder verschieben. Doch dann hatten wir den erhofften Erfolg.
Die von mir inszenierte Lockvogelaktion wäre fast dramatisch ausgegangen. Eine unserer besten Nachwuchspolizistinnen hatte sich freiwillig zu diesem Einsatz gemeldet. Vier Frauen waren der Bestie in nur sechs Wochen zum Opfer gefallen. Dann endlich konnten wir sie kurz vor dem nächsten Mord ergreifen. Ich war ein hohes Risiko eingegangen, doch der Erfolg rechtfertigte die Mittel.
Gleich nach der Pressekonferenz mit dem Polizeipräsidenten war ich gestartet. Einfach losgefahren Richtung Süden, nichts wie weg! Fluchtartig, gewiss. Nach den letzten Tagen mit kaum hinreichendem Schlaf war auch die weite Fahrt eine Tortur. Ich habe aber schon oft festgestellt, dass ich gerade am Ende von Anstrengungsphasen zu Höchstleistungen in der Lage bin. Und da eignet sich eine lange Fahrt mit dem Auto besonders, weil sie spürbar Abstand schafft. Einfach abschalten wollte ich, eintauchen in eine andere Welt, fernab von Zwielicht und Gewalt.
Und nun holte mich das alles doch wieder ein. Was für ein Albtraum in dieser traumhaften Umgebung!
Zuerst hatte ich von meinem morgendlichen Stammplatz unter dem Platanendach vor dem ‚Hôtel du Port‘ nicht so recht erkennen können, was die Fischer da mit einer Stange im Wasser heranzogen. Als dann immer mehr Menschen zum Steg liefen, aufgeregtes Rufen herüber scholl, sie den schlanken, leblosen Körper aus dem Wasser hievten und hektische Versuche der Wiederbelebung die ansonsten so gemächliche Ruhe störten, kam es mir vor wie in einem Film aus lange vergangener Zeit.
So schnell kann man sich an das andere, süße Leben gewöhnen. Oh, ich könnte das alles ohne Probleme leicht hinter mir lassen! Seit ich fünfzig bin, denke ich öfter an die Möglichkeit, nochmal ein anderes Leben zu führen. Zu schnell waren all die Jahre in täglicher Routine versunken.
Sie versuchten es immer wieder, rollten sie auf alle Seiten, drückten und pressten den geschundenen Leib der jungen Frau auf unglaublich stümperhafte Weise. Rechtfertigen konnte man das nur durch den verzweifelten Versuch der Wiederbelebung. Ich hatte mich nach anfänglichem Zögern in Bewegung gesetzt und mich wie in Trance in den Film eingefunden. Ich war die paar Meter zum Steg gegangen und hatte es auf einen Blick gesehen.
„Il n‘y a plus de chance. Elle est morte“, hörte ich mich sagen, „Pech gehabt, sie ist tot.“
In den letzten Jahren nach meiner Scheidung war ich unregelmäßig immer mal wieder nach Südfrankreich gefahren. Wie damals, als die Kinder noch klein waren. Heute kommt es mir vor, als suchte ich die Spuren der verlorenen Jahre. Mein Französisch funktionierte jedenfalls noch immer recht gut.
Die Umstehenden sahen mich schweigend und betreten an, als hätte ich gerade das Todesurteil gesprochen. In diesem Moment kam eine beleibte Frau laut rufend und mit den Armen rudernd aus einer der schmalen Gassen, die hier im rechten Winkel auf die Hafenmole treffen. Sie stolperte in ihren Hauspantoffeln über den Platz. Schon von weitem rief sie immer wieder den Namen Isabelle. Sie musste die Mutter des Mädchens sein.
Schlechte Nachrichten verbreiten sich schnell.
Gleichzeitig mit ihr trafen die zwei örtlichen Gendarmen ein. Der Ältere, ein Glatzkopf, verschaffte sich sogleich mit gestrengem Ton Respekt: „Bitte zurücktreten, Mesdames et Messieurs!“ Der junge, schmächtige Kollege, den er im Gefolge hatte, unterstrich diese Aufforderung durch weit ausholende Gesten der Geschäftigkeit. Aber nur langsam wichen die versammelten Menschen vor der Obrigkeit zurück. Einzig die strohblonde Frau bahnte sich wild gestikulierend Raum durch die Menge. Sie stürzte sogleich auf die Tote und versank in der schmerzlichen Gewissheit des Erkennens schluchzend an der nackten Brust des Mädchens. Ein Bild des Jammers, die Polizisten ließen sie gewähren. Derweilen fragten sie die Umstehenden, wer die Frau aus dem Wasser zog. Der ältere Gendarme notierte die Namen der beiden Fischer. Nun traf auch der örtliche Doktor ein, noch im Morgenmantel. Seinen Arztkoffer auf den Planken geöffnet, musste auch er gleich erkennen, dass hier alle Mühe vergeblich war.
Nein, dies war hier jetzt wirklich nicht mein Geschäft! Langsam ging ich zu meinem verlassenen Frühstückstisch zurück, wo noch ein angebissenes Croissant neben der Tasse mit inzwischen kalt gewordenem Milchkaffee lag. Daneben der Roman und mein Tagebuch. Beides Versuche, in diesem Urlaub endlich mal wieder abzuschalten und mich auf Wesentliches zu besinnen. Schon kam das Geheul eines heranfahrenden Polizeifahrzeugs schrill um die Ecke. In knapp einer halben Stunde konnte man von Marseille herüberkommen. Ihm folgte ein ziviler Wagen der Mordkommission.
Nur zu gut kannte ich die Rituale, die jetzt einsetzten. Auch aus der Distanz konnte ich jeden einzelnen Schritt der Ermittlungen nachvollziehen. Ich zwang mich, mein Buch aufzuschlagen, um nicht hinüberschauen zu müssen. Doch ich ertappte mich, drei Seiten gelesen zu haben, ohne ein einziges Wort zu verstehen. Viel mehr kreisten meine Gedanken um diese Tätigkeit, die mir nun aus der Distanz so hoffnungslos, ja sinnlos vorkam. Nichts konnten sie mehr reparieren und wieder gut machen. Ein trauriges Geschäft. Mit der Zeit, so war mir schon lange klar, stumpft man ab in diesem Beruf. Man muss sich schützen vor all den grausamen Eindrücken. Leichen, die gerade noch beseelt im Leben waren, werden zu Objekten nüchterner Betrachtungen und Recherchen.
Zuerst deckten sie ein weißes Leinentuch über die Tote, um sie vor weiterer Neugier zu schützen. Und anstatt dem erbaulichen Gang meines Romanes zu folgen, sah ich für einen kurzen Moment nur das morgendliche Zwinkern Isabelles vor meinem inneren Auge. „Comme toujours?“
„Mein Gott, das junge Ding“, brachte Catherine hervor, als sie das Frühstücksgeschirr auf das silberne Tablett räumte. Sie war wie ich zum Steg hinübergelaufen, um einen Blick auf die ungewöhnliche Szene zu werfen. Dabei hatte sie voll Schreck feststellen müssen, dass die Tote ihre Kollegin war. Wie versteinert hatte sie an die zehn Minuten dort in der Menge gestanden. Dabei waren ihr die wildesten...




