E-Book, Deutsch, 255 Seiten
Böhle / Bohle Schmetterlinge aus Marzipan
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-947106-93-6
Verlag: SATYR Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 255 Seiten
ISBN: 978-3-947106-93-6
Verlag: SATYR Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Für viele ist es ein Traum, die Protagonistin dieser Geschichte erfüllt ihn sich: einmal den Zuckerbäckern in einer Konditorei über die Schulter blicken. Daniela Böhles erster Roman ist mit dieser, von der Autorin durchgesehenen Neuausgabe in frischer Optik endlich wieder erhältlich.
»Praktikant/in gesucht«, steht in handgemalten Buchstaben im Fenster der Wilmersdorfer Konditorei. Schon immer waren Backstuben Sehnsuchtsorte für Nina. Nur hat sie dem Gefühl nie nachgegeben. Jetzt, mit über 40, bewirbt sie sich für ein Praktikum und steigt fortan jeden Morgen in die verheißungsvoll duftende Backstube hinab wie in eine Zauberwelt. Die Arbeit mit dem spröden Zuckerbäcker Sven bleibt nicht die einzige Herausforderung in ihrem Leben: Ihre beste Freundin hat sie bei einem Datingportal angemeldet, was eine ungeahnte Welle an skurrilen Mailwechseln und Begegnungen auslöst, noch dazu hat Nina eine eigene Geschäftsidee …
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HONIGKUCHEN
Um es kurz zu machen: Ich habe Fotos bekommen. Dass es zwei geschlagene Stunden gedauert hat und die Fotografin vermutlich danach über einen Berufswechsel nachgedacht hat, brauche ich nicht zu erwähnen. Obwohl das Eisbärenfell eigentlich schon eine Erwähnung wert wäre: Ich hätte mich nicht daraufgelegt, wenn ich nicht vorher eine erfolglose Stunde auf fünf verschiedenen Sitzgelegenheiten verbracht hätte. Eine davon war eine Sprossenwand, die eigentlich gar nicht als Sitzgelegenheit gezählt werden darf. Wie fühlt man sich wohl, wenn eine dünne, gelenkige Frau freundlich sagt, klettern Sie mal die Sprossenwand zur Hälfte hoch und setzen sich so seitlich hin? Ich jedenfalls bin zur Hälfte hochgeklettert. Dann habe ich meinen nicht richtig fetten, aber auch wirklich nicht dünnen und auf keinen Fall sprossenwanddünnen Hintern so zwischen die Rundhölzer zu quetschen versucht, dass es hält. Die dünne Fotografin, deren Hintern glatt durchgeflutscht wäre, starrte mich die ganze Zeit sorgenvoll an. Mehrmals öffnete sie den Mund wie ein Fisch, so als wolle sie etwas sagen, wüsste aber nicht genau, was. Währenddessen versuchte ich mein Bestes. Längst war ich über den Punkt hinweg, an dem ich sagen konnte, »haha, lustig, eine Sprossenwand! Und wohin soll ich mich jetzt wirklich setzen?« Die riesigen schwenkbaren Lampen leuchteten nach jedem Positionswechsel mein Elend aus. »Das ist wirklich schon ganz toll«, hörte ich die Fotografin sagen, als sie mich in der Sprossenwand hängen sah, »aber vielleicht ist der Hocker hier noch toller!« Die Fotos auf der Sprossenwand sind genauso mies geworden wie die, auf denen ich auf diesem einbeinigen Hocker balanciere. Der wog weniger als meine Nur-Brieftasche-Taschenspiegel-und-Lippenstift-Handtasche und schwankte wie ein Hochseeschiff, weswegen ich ständig Grimassen zog. Die arme Fotografin zeigte mir viele Male geduldig, wie einfach es ist, auf dem Hocker zu sitzen, wenn man das Gewicht eines Goldhamsters hat. Alles, was sie damit erreichte, war, dass ich mich alt und dick fühlte. Und mich ständig entschuldigte, weil ich das alles nicht so gut konnte wie die Fotografin. Die sich dann wiederum zurückentschuldigte, weil sie einfach nicht »meine Herzensposition« fand. Den schlimmen Höhepunkt bildete dann das Eisbärenfell. Schließlich hatte die Fotografin eine unerwartet brillante Idee und machte mir vor, was ich tun sollte. Das war so irrwitzig, dass ich richtig gute Laune bekam: Die Fotografin nahm Marilyn-Monroe-Posen ein, die in dünn wie eine Karikatur aussahen – sie streckte ihren kleinen Po raus, machte einen Schmollmund und warf der Kamera Handküsse zu. Es sah sehr merkwürdig aus, aber auch sehr lustig, und immerhin dachte ich zum ersten Mal, aha, das kann ich besser. Ich streckte also meinen entschieden Marylin-mäßigeren Hintern Richtung Kamera, verdrehte mich, warf Kusshände und grinste die ganze Zeit wie ein Honigkuchenpferd auf Drogen. Es wurden richtig gute Fotos. Als ich nach der Fotosession in meine Wohnung kam, blinkte mich der Anrufbeantworter im Wohnzimmer an. Ich drückte auf »abspielen« und fuhr dann den Computer hoch. Kirstens verzerrte Stimme schepperte durch den Raum. »Ruf mich an, wenn du zurück bist! Du musst mir erzählen, wie es bei der Fotografin war!« Ich atmete tief durch, während ich mein Passwort in den Computer eingab. Leise brummend las der Computer die Foto-CD, dann lud ich zwei Bilder auf meine Profilseite. Glücklicherweise war alles sehr unkompliziert. Ich nahm an, dass das zum Erfolgsrezept des Internetportals gehörte – alles musste einfach genug sein, dass sogar Computerungeübte wie ich das allein schafften. Nachdem ich fertig war, rief ich Kirsten zurück. »Ich habe Bilder reingestellt«, sagte ich. »Brav«, antwortete Kirsten. Ich konnte sie vor meinem inneren Auge sehen, wie sie mit dem Telefon am Ohr am Fenster stand. Sie wohnte in der Sanderstraße an der Grenze zwischen Kreuzberg und Neukölln und genoss die ruhige Seitenstraße, nur wenige Schritte vom Trubel entfernt. In der einen Richtung landete man am Kottbusser Damm, in der anderen am Maybachufer, man konnte sich also jederzeit zwischen Stadttrubel oder Naturtrubel entscheiden. An schönen Tagen saßen Kirsten und ich oft auf dem Deck der »Ankerklause«, einer Gaststätte auf einem Schiff, das genau dort lag, wo sich Kottbusser Damm und Maybachufer trafen. Dort konnte ich vergessen, dass ich in einer Großstadt war, und fühlte mich gleichzeitig so sehr in Berlin wie an wenigen anderen Orten. Eine knappe Stunde später klingelte es und Kirsten stand vor der Tür. »Es gibt noch etwas Wichtiges zu tun«, sagte sie beim Eintreten. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte es mich deprimiert, dass sie, ohne vorher anzurufen, davon ausgegangen war, dass ich den Freitagabend zu Hause verbringen würde. Heute aber war ich zu neugierig. Ich hatte mir schon gedacht, dass meine Freundin mich nicht ganz uneigennützig bei dieser Partnerbörse angemeldet hatte. Kirsten schreibt für das Apotheken-Journal und wenn sie genug hat von Artikeln über Verstopfungen oder Lungenkrebs, dann schreibt sie das, was sie »buntes Zeug« nennt, zum Beispiel Reportagen über Hobbygärtner, filzende Selbsthilfegruppen oder eben Partnerbörsen im Internet. Darüber spricht sie immer abfällig, aber ich kenne sie lang genug und weiß, dass sie ein perverses Vergnügen an diesem bunten Zeug hat. »Nina!«, rief sie gekränkt, als ich sie fragte, ob das Apotheken-Journal eigentlich meine Mitgliedsgebühr bezahlte, aber sie bekam verräterische rote Flecken im Gesicht und ich wusste, dass ich ins Schwarze getroffen hatte. »Willst du über hoffnungslose Fälle schreiben?«, fragte ich. Kirsten schüttelte den Kopf und sah ein wenig hilflos aus. »Hör doch mal damit auf«, sagte sie. »Ich kann echt nicht mehr hören, wie du über dich redest. Lass uns lieber dein Profil vervollständigen.« Wir setzten uns nebeneinander vor meinem Computer. Ich dachte daran, wie oft ich mich in meinem Leben einfach nur hatte treiben lassen, und gab mir einen Ruck. »Das ist die wichtigste Seite, quasi dein Aushängeschild, also gibt dir Mühe!«, sagte Kirsten, während sie die einzige Fragebogenseite aufrief, die ich noch ausfüllen musste. Auf den anderen Seiten hatte sie schon alles für mich angekreuzt: ob ich lieber in die Berge oder lieber ans Meer reise, wie viel ich verdiene – hatten wir darüber jemals gesprochen? –, wie wichtig mir Sex ist – darüber hatten wir ganz sicher nicht gesprochen! –, wie viele Kinder ich habe und weitere Fragen in der Art. »›Wie sieht ein perfekter Tag für Sie aus?‹. Das ist die erste Frage. Hier kann man nichts ankreuzen, hier musst du jetzt kreativ sein.« Kirsten sah mich herausfordernd an. Mein Gehirn streikte umgehend. Auf die anderen Fragen fiel mir auch nichts Geistreiches ein: »Was würden Sie auf eine einsame Insel mitnehmen?«, »Welches Tier wären Sie gern?«, »Was ist Ihnen besonders wichtig und was können Sie überhaupt nicht leiden?«. Kirsten öffnete eine Flasche Weißwein, während ich mir den Kopf zerbrach. Es dauerte fast drei Gläser, bis wir schließlich einige Antworten zusammengebastelt hatten, die uns beiden gefielen. Meine Freundin Kirsten kenne ich seit meinem Studium vor gefühlt hundert Jahren. Wir haben beide Biologie studiert, ich hatte das in der Schule immer gemocht. Das fällt mir immer nur ein, wenn ich mich zu erinnern versuche, seit wann ich Kirsten kenne, denn außer Kirsten ist mir von dem Studium nichts geblieben. Ich bin im letzten Jahr meines Studiums schwanger geworden und habe auf den letzten Drücker mein Examen gemacht. Dann kam mein Sohn Leonhard. Und danach – ich weiß, das klingt total dämlich, aber ich hatte einfach keinen Mut mehr. Ich hatte einfach nicht mehr den Mut, mich als Biologin irgendwo zu bewerben. Ich hatte nie einen echten Berufswunsch in diese Richtung gehabt – ich wollte nicht für eine Naturschutzorganisation arbeiten, nicht in der Forschung oder im Institut für Risikobewertung. Ich wollte auch nicht die Wasserqualität der Berliner Gewässer überprüfen. An solchen Orten landeten meine Studienkollegen. Ich hatte auch nie schreiben wollen wie Kirsten. Kirsten hatte gleich nach dem Studium angefangen, für Zeitungen zu arbeiten, für Wissenschaftsseiten vor allem. Schließlich war sie beim Apotheken-Journal gelandet und ist bis heute ziemlich zufrieden damit. Ich kann Leonhard prima den Unterschied zwischen Ionenbindungen und Disulfidbindungen erklären oder welche biologischen Prozesse besonders viel ATP verbrauchen, aber mehr habe ich eben nie daraus gemacht. In der Tür stellte sich Kirsten in Positur und wackelte unternehmungslustig mit dem Kopf. »Wann...