Bove | Der Stiefsohn | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 360 Seiten

Reihe: Werkausgabe Emmanuel Bove

Bove Der Stiefsohn

Roman
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-86034-581-8
Verlag: Edition diá Bln
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

Roman

E-Book, Deutsch, 360 Seiten

Reihe: Werkausgabe Emmanuel Bove

ISBN: 978-3-86034-581-8
Verlag: Edition diá Bln
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



In dem Roman 'Der Stiefsohn' wird Schritt um Schritt das Innere eines Einzelgängers nach außen gekehrt, es ist der wohl autobiographischste des Autors, eine Art Selbstentblößung. Jean-Noël, schon der Klang dieses Vornamens erinnert an Emmanuel, Jean-Noël ?tlinger ist der Stiefsohn, von dem man nach und nach - wie von einem verborgenen Beobachter beschrieben - immer mehr erfährt. Im Zwiespalt zwischen pathologischer Idealisierung der Stiefmutter und befremdlicher Distanz zur leiblichen Mutter, bis hin zur Verleugnung, zeigt sich der Held des Romans, der dem Leser über eine entscheidende Lebensspanne von fast dreißig Jahren begegnet, als bindungssüchtig und zugleich bindungsunfähig. Ständig bemüht, mehr zu scheinen als zu sein, ständig bemüht, einer Welt zugeordnet zu sein, zu der er eigentlich nicht gehört, ständig begierig, den moralischen und geistigen Anforderungen der Stiefmutter Annie zu genügen, entfaltet sich der entscheidende Lebensabschnitt eines Mannes. der um seiner Eigenliebe, seiner Gefallsucht willen fast alles an menschlicher Bindung opfert, der eine hohe Kunst der Selbstverleugnung zelebriert. Immer tiefer wird man in den ganz eigenen Kosmos Bove'scher Unentrinnbarkeit gezogen, immer gebannter folgt man dem unsteten Leben zwischen großbürgerlichem Wohnambiente am Boulevard du Montparnasse und spießiger Vorstadtwelt, zwischen Pariser Hotelzimmern und Hinterhofambiente. Eindringlich entfalten sich Charaktere, offenbaren sich Seelenlandschaften. Der Schlüsselroman eines großen europäischen Schriftstellers. Zum Weiterlesen: 'Emmanuel Bove. Eine Biographie' von Raymond Cousse und Jean-Luc Bitton ISBN 9783860347096

1898 als Sohn eines russischen Lebemanns und eines Luxemburger Dienstmädchens in Paris geboren, schlug sich Emmanuel Bove mit verschiedenen Arbeiten durch, bevor er als Journalist und Schriftsteller sein Auskommen fand. Mit seinem Erstling 'Meine Freunde' hatte er einen überwältigenden Erfolg, dem innerhalb von zwei Jahrzehnten 23 Romane und über 30 Erzählungen folgten. Nach seinem Tod 1945 gerieten der Autor und sein gewaltiges ?uvre in Vergessenheit, bis er in den siebziger Jahren in Frankreich und in den achtziger Jahren durch Peter Handke für den deutschsprachigen Raum wiederentdeckt wurde. Heute gilt Emmanuel Bove als Klassiker der Moderne.

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1
Es war lange vor dem Krieg, 1904, um genau zu sein, als Mademoiselle Annie Villemur de Falais die Bekanntschaft von Jean-Melchior Œtlinger machte. Sie war einundzwanzig Jahre alt. Seit mehreren Monaten besuchte sie einen gemischten Malkurs, nicht etwa bei Julian oder an der École des Beaux-Arts, sondern an einer Kunstakademie in der Rue de la Grande-Chaumière, worauf sie stolz war, da diese Wahl nur auf eine echte Berufung hinweisen konnte. Sie teilte die Bewunderung der anderen Schüler für die präraffaelitischen Maler. Ihre Brüder, ihre Freunde, sogar ihr Vater kamen manchmal, um von der Tür aus einer Sitzung beizuwohnen, ein wenig verlegen, wenn das Modell ein nackter Mann war, was sie aber nicht zu sagen wagten aus Angst, für prüde gehalten zu werden. Annie war ein großes, blondes junges Mädchen, das mit seiner Schönheit nichts anzufangen wusste, so wie man in bestimmten Berufen mit seiner Jugend nichts anzufangen weiß. Nach langem Drängen hatte sie die Erlaubnis erhalten, ein Atelier im oberen Teil der Rue d’Assas zu mieten. Jede Woche gab sie dort kleine Gesellschaften. Zu den Arbeitskameraden, meist arme Ausländer, gesellte sich immer auch ein Mitglied der Familie Villemur, das darüber wachte, dass alles korrekt vor sich ging. Zu einer dieser Teegesellschaften brachte der Kassenwart der Akademie, für den Mademoiselle Villemur Sympathie empfand, weil er wie alle Kassenwarte unter den verdienstvollsten Schülern ausgesucht worden war und weil sie von ihrer Erziehung her die Gewohnheit bewahrte, Mitgefühl zu zeigen, einen seiner Freunde mit, einen düsteren Mann um die dreißig, der einen Spitzbart trug und ziemlich förmlich mit einem Cutaway bekleidet war. Es war der Sohn eines für seine frankophilen Gefühle bekannten Professors aus Mülhausen. Beim Tod dieses Professors im September 1895 hatten Jean-Melchior Œtlinger, der im Februar des gleichen Jahres volljährig geworden war, sein älterer Bruder Martin und seine jüngere Schwester Catherine das väterliche Haus verkauft und waren nach Paris gezogen, die jungen Männer mit dem Wunsch, ihr Studium fortzusetzen, das Mädchen mit dem, die Aufgabe ihrer Brüder zu erleichtern, indem es ihnen alle häuslichen Sorgen ersparte. Sie hatten in der Rue Pierre Nicole eine Zweizimmerwohnung mit Küche gemietet. Am Anfang lebten sie in schönster Eintracht zusammen. Das Mädchen ging nicht aus dem Haus. Die beiden Brüder trennten sich nur, um an ihren Vorlesungen teilzunehmen. Verspürte einer der beiden einmal Lust, ein Museum zu besuchen, teilte er es seinem Bruder mit, der sich mit Catherine besprach. Wenn alle einverstanden waren, aber nicht vorher, gönnten sie sich schließlich diese Abwechslung. Da ihr ganzes Vermögen in einer bescheidenen Erbschaft bestand, mit der sie bis zum Abschluss ihres Studiums auskommen mussten, rückten sie unwillkürlich zusammen, aus Sparsamkeit und auch, um die Versuchungen fernzuhalten, von denen sie im Laufe ihrer Jugend gehört hatten. Doch bald ließ sich Jean-Melchior zu kleinen Heimlichkeiten hinreißen. Allmählich wurde er kühner. Die Gefahren, vor denen man ihn gewarnt hatte, erschienen ihm nicht so groß. Von zarter Gesundheit und trägem Wesen, war er für keine beständige Arbeit geschaffen. Müßiggang und Bummeln sagten ihm mehr zu als das geregelte Leben in der Rue Pierre Nicole. Als er sich vier Monate später in Ernestine Mercier verliebte, die von ihrem siebzehnten bis einunddreißigsten Lebensjahr bald bei diesem, bald bei jenem Liebhaber gelebt hatte, immer in der Hoffnung, der gegenwärtige sei der letzte, zögerte er lange, es zu gestehen. Erst als er nicht mehr anders konnte, öffnete er sein Herz. Martin geriet in helle Wut. Jean-Melchior wusste noch nicht, dass man es uns übelnimmt, wenn wir uns aus einem Bund zurückziehen, und mögen wir dadurch auch die begünstigen, die ihm treu bleiben. Er wurde aufgefordert zu wählen. Einen ganzen Monat lang konnte er sich nicht entscheiden. Ab fünf Uhr nachmittags hatte er Fieber. Er liebte seinen Bruder und seine Schwester mehr als alles auf der Welt, mehr, viel mehr als Ernestine Mercier, aber Ernestine, das bedeutete das Vergnügen, tausend Dinge, die er bei den Seinen nicht hatte. Als er begriff, dass er einen Entschluss fassen musste, dass er ihn nicht länger hinauszögern konnte, packte er endlich seinen Koffer, umarmte Catherine lange, bat Martin, ihm zu verzeihen. Der ließ die Gefühle beiseite und kam auf die Geldfrage zu sprechen. Man vereinbarte, dass Martin ihm aushändigen würde, was ihm nach Abzug seines Mietanteils zustand. Danach ging Jean-Melchior zu Ernestine Mercier. Sie war nicht auf einen solchen Liebesbeweis gefasst gewesen. Daher wagte sie in den ersten Tagen nicht, Jean-Melchior zu fragen, in welche Lage ihn diese Geste brachte. Sie war bemüht, sich des Gefühls, das sie erweckte, würdig zu erweisen. Als sie jedoch erfuhr, dass Jean-Melchior ein wenig Geld hatte, dass er beabsichtigte, bescheiden zu leben, damit er in der Lage sei, sein Studium zu beenden, verspottete sie ihn. Sie überzeugte ihn, dass man nur einmal jung sei, dass man nicht wisse, wie der nächste Morgen aussah, dass man das Leben genießen müsse, solange man kann. Sie wohnten in einem komfortablen Hotel, nahmen ihre Mahlzeiten nicht mehr in kleinen, billigen Lokalen ein, sondern in Großgaststatten, wo sie, von lärmenden Freunden umgeben, bis drei Uhr morgens blieben. Ernestine strebte zwar danach, eine geachtete Bürgersfrau zu werden, jedoch später, wenn sie einem Mann begegnen würde, den sie wirklich liebte. Seiner Mätresse und vor allem des Fiebers wegen, das er bei der geringsten Anstrengung bekam, hatte Jean-Melchior sein Studium fast ganz aufgegeben. Er stand spät auf, verkehrte mit Ernestines Freunden, mit denen er keine Gemeinsamkeiten hatte. Was seine Zukunft betraf, so war er außerstande, sich ein Bild davon zu machen. Er lebte in den Tag hinein, wobei er Ernestine dauernd mit seiner Eifersucht und seiner Zärtlichkeit verfolgte, sich bei der geringsten Unstimmigkeit in ein Schweigen hüllte, das mehrere Tage dauerte und das er unvermittelt brach, verbittert, aber noch immer verliebt. Nach Jahresfrist blieb ihm fast nichts mehr vom Erbteil, das Martin ihm ausgehändigt hatte. Er musste daran denken, sparsamer zu leben, umso mehr, als seine Ausschweifungen sich auf seine Gesundheit auszuwirken begannen. Sie mieteten eine kleine Wohnung, richteten sie bescheiden ein. »Wir sind beglückt worden«, sagte Ernestine an einem drückenden Augustabend des Jahres 1897 zu ihm. Er verstand nicht, was sie meinte. Sie wollte es nicht näher erklären, aber in der Nacht, in dem Bett, das sie ihre »Domäne« nannte und das sie zu ihrem geheimen Verbündeten gemacht hatte, der in ihren Augen genauso fassbar war wie ein Lebewesen, teilte sie Jean-Melchior mit unerträglicher Geziertheit mit, er werde Vater. In der Folge gab es keinen Tag, an dem sie ihn nicht auf die Pflichten hingewiesen hätte, die ihm zufallen würden. Ihre Zahl wuchs ins Unendliche, ohne dass deswegen die wichtigste verdrängt worden wäre, die Verpflichtung nämlich, sie zu heiraten. Aber wenn Jean-Melchior nichts mehr an einer Heirat lag, war es ihre eigene Schuld. Er hatte ihr einen Antrag gemacht, nicht etwa, weil ihm der Sinn danach stand, denn als er von seinem Bruder und seiner Schwester fortgegangen war, hatte er an alles andere gedacht als daran, eine Familie zu gründen, sondern weil er aufgrund seiner Erziehung Skrupel hatte und sich die Liebe außerhalb der Ehe nur schwerlich vorstellen konnte. Als sie ihn von diesen Skrupeln befreit hatte, was ihm nur recht gewesen war, hatte Ernestine nicht vorausgesehen, dass die Argumente, die sie vorgebracht hatte, einmal gegen sie verwendet würden. Jean-Melchior konnte nicht glauben, dass dieselbe Frau, die seine flehentlichen Bitten mit Spott aufgenommen hatte, und das zu einer Zeit, als er im Besitz seiner Erbschaft war und es ganz in ihrem Interesse gelegen hätte, ihn zu heiraten, jetzt, da er nichts mehr hatte und sich auf der Suche nach Deutschstunden die Füße wund lief, ernsthaft eine Heirat wünschte. Er antwortete ihr daher auch jedes Mal zerstreut, denn es war Ernestine selbst gewesen, die ihn überzeugt hatte, die Heiratsfrage sei belanglos. Ende April 1898 kam ein Kind zur Welt, dem man den Vornamen Jean-Noël gab. Da sich die Lage des Haushalts noch verschlechtert hatte, bat Jean-Melchior Martin um Hilfe. Als der erfuhr, dass sein Bruder alles, was er besessen, aufgebraucht hatte, dass er überdies mit einer Frau zusammenlebte, die ihm eben einen Sohn geboren hatte, ersuchte er ihn, nicht mehr in die Rue Pierre Nicole zu kommen. Von dem Tag an häuften sich die Sorgen. Außer seiner Familie, für die er noch immer die gleichen Gefühle hegte und deren Härte ihn mehr betrübte als empörte, kannte er nur Studenten, die voll jener der Jugend eigenen Hochherzigkeit waren, jedoch unfähig, ihm zu helfen oder ihn zu lenken. Trotz Ernestines Drängen, trotz der Hindernisse, die mit jedem Tag schwieriger zu überwinden waren, wollte er nichts von einer festen Anstellung wissen, denn er hatte erkannt, dass er nur eine Chance hatte, sich aus dieser misslichen Lage zu befreien, wenn er sein Studium beendete. Ab und zu gab er eine Unterrichtsstunde oder nahm irgendeine Stelle an, die er zwei Monate später wieder aufgab. Unter diesen Lebensbedingungen war Ernestine die Lust vergangen, Jean-Melchiors Frau zu werden. Die mit der Ehe verbundene Vorstellung von Glück hätte unter derartigen Umständen ein betrübliches Ereignis aus einer Heirat gemacht. So vergingen mehrere Jahre in Armut und Bitterkeit. Das Verhältnis zwischen Jean-Melchior und seiner Gefährtin wurde immer gespannter. Sie warf ihm vor, er habe ihr ein Kind gemacht, obwohl er genau wusste, dass er nicht die Mittel habe, es aufzuziehen. Wenn sie so unglücklich sei, dann deshalb, weil sie die...


1898 als Sohn eines russischen Lebemanns und eines Luxemburger Dienstmädchens in Paris geboren, schlug sich Emmanuel Bove mit verschiedenen Arbeiten durch, bevor er als Journalist und Schriftsteller sein Auskommen fand. Mit seinem Erstling "Meine Freunde" hatte er einen überwältigenden Erfolg, dem innerhalb von zwei Jahrzehnten 23 Romane und über 30 Erzählungen folgten.
Nach seinem Tod 1945 gerieten der Autor und sein gewaltiges Œuvre in Vergessenheit, bis er in den siebziger Jahren in Frankreich und in den achtziger Jahren durch Peter Handke für den deutschsprachigen Raum wiederentdeckt wurde. Heute gilt Emmanuel Bove als Klassiker der Moderne.



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