E-Book, Deutsch, 155 Seiten
Budde / Puschner / Brodersen Blütezeit des Bürgertums
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-534-71432-2
Verlag: wbg Academic in Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert
E-Book, Deutsch, 155 Seiten
ISBN: 978-3-534-71432-2
Verlag: wbg Academic in Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Das Bürgertum stellte in seiner Hochblüte zwischen dem Ende des 18. und dem Anfang des 20. Jahrhunderts eine Minderheit von im Schnitt 5 bis 15% dar, eine Minderheit allerdings, die mit Ihrer Mentalität und Ihren Werten eine unvergleichbare Ausstrahlungskraft besaß. Entstanden in scharfer Abgrenzung zum Adel und einzig im europäischen Kulturraum vorhanden, entwickelte diese kleine Klasse Tugenden und eine spezifische Kultur, die unsere westliche Welt bis heute fundamental prägt. Gunilla Budde analysiert die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Wurzeln, um dann alle wichtigen Aspekte des Bürgertums in seiner Hochzeit zu beleuchten: von der bürgerliche Öffentlichkeit mit Vereinen, Festen und ihrer spezifischen Repräsentanz, über Moralvorstellungen bis zur ökonomischen und politische Gefährdung des Bürgertums. Am Ende stellt sich die Frage, ob das Bürgertum als Klasse unwiederbringlich untergegangen ist, oder doch eine Renaissance erlebt.
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[Menü] Einführung: Soviel Bürgertum war nie
Selbst das Dienstmädchen ist zurück. Soziologische Studien haben es unlängst gezeigt: In so manchem bürgerlichen Haushalt öffnen wieder junge, angestellte Frauen die Tür. Sie kommen zwar nicht mehr, wie im 19. Jahrhundert, aus der nahegelegenen ländlichen Region, sondern aus dem mehr oder weniger fernen Ausland. Doch ihre Arbeitsbedingungen erinnern sehr an die Zeit, in der die dienstbaren Geister als „Minimalbedingung eines wirklich bürgerlichen Haushalts“ (Jürgen Kocka) galten. Die Rückkehr des Dienstmädchens ist nur das I-Tüpfelchen; eine Renaissance des Bürgertums kündet sich allenthalben an. Hatte noch vor wenigen Jahren der Berliner Verleger Wolf Jobst Siedler die Krawattenträger auf dem Berliner Kurfürstendamm vermisst und ihr Fehlen als Ende der Bürgerlichkeit gedeutet, weisen aktuelle Stimmen in eine andere Richtung. In den neu aufflammenden Wertediskussionen der Feuilletons lebt die bürgerliche Wertewelt wieder auf. Beobachten lässt sich dies auch im Alltagsleben: In einem kaum überschaubaren Benimmbüchermarkt, im Comeback der Tanzstunde, in vollbesetzten Opernpremieren und gut besuchten Vernissagen, bei denen wieder das „kleine Schwarze“ mit Perlenkette gegenüber der Jeans triumphiert, in den tiefschwarzen Zahlen von Klavierbauern und Quotenrennern wie den diversen Fernsehshows, die „das perfekte Dinner“ als Höhepunkt gepflegter Gastlichkeit zelebrieren. Sonntags bricht man wieder zu einem der „Salons“ seiner Stadt auf, um gebildete Konversation zu pflegen und zur vorabendlichen Entspannung genießt man historische Dokusoaps, die in Herrenhäuser des 19. Jahrhunderts und „Bräuteschulen“ der Fünfzigerjahre des 20. Jahrhunderts entführen. Auch auf gehobenem Niveau begegnen wir der Bürgerlichkeit neu. In den gesellschaftspolitischen Diskursen feiert, angestoßen von osteuropäischen Bürgerrechtlern der 1980er Jahre, die Zivilgesellschaft als dem 20. Jahrhundert adäquatere, da von einer reinen bürgerlichen Trägerschicht entkleidete Variante der bürgerlichen Gesellschaft, eine neue Blütezeit. Gleichsam allgegenwärtig im wissenschaftlichen, politischen und journalistischen Tagesgeschäft steht Zivilgesellschaft für die Anerkennung von Pluralität, die Toleranz gegenüber Anderen, ein vertrauensbasiertes Miteinander und nicht zuletzt für die Wiederbelebung bürgerlicher Eigen- und Gemeinschaftsverantwortung. Den Wenigsten ist bewusst, auf welche Traditionen sie sich mit diesen Beschwörungen der Rückkehr der Bürgerlichkeit und der bürgerlichen Gesellschaft berufen. Vergessen scheint zu Beginn des 21. Jahrhunderts die durchaus wechselvolle Geschichte der Erfinder und Architekten dieser Gesellschaft, die Geschichte des keineswegs immer positiv konnotierten Bürgertums und seiner Wertewelt. Doch nicht nur die Wahrnehmungen und Wertungen des Bürgertums schillerten. Mit seinem ständigen Changieren zwischen utopischen Versprechungen und exklusiver Realität, zwischen Aufgeschlossenheit und Engstirnigkeit, zwischen Selbstverliebtheit und Selbstzweifel, zwischen Weitherzigkeit und Vorurteil trug das Bürgertum immer einen Januskopf. Spätestens an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurden diese Ambivalenzen aus den eigenen Reihen vor den Pranger geführt, wurden kritische Stimmen lauter, die mit dem Finger auf das Philisterhafte, Heuchlerische und Intolerante des Bürgertums wiesen. Damit begann die lange Karriere des negativ besetzten Bürgerbegriffs, das behäbige „Gut-Bürgerliche“, das belächelte „Kleinbürgerliche“, der verspottete „Spießbürger“ gewannen die Oberhand. Dass die historische Forschung das Bürgertum erst in den 1980er Jahren entdeckte, hing einerseits durchaus mit diesem Nimbus zusammen. Andererseits war es auch die konsequente Folge des seit den 1970er Jahren intensivierten Historikerblicks ins „lange 19. Jahrhundert“. In dieser Zeit begonnene Entwicklungen, so die forschungsleitende Annahme, setzten sich fort und trugen Mit-Verantwortung für die Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Das Bürgertum als eine der prägenden Kräfte des 19. Jahrhunderts geriet ins Visier. Dies geschah mit unterschiedlicher Akzentuierung. In den Zentren der Bürgertumsforschung, in Bad Homburg, Bielefeld, Frankfurt am Main und Berlin gingen die Vorstellungen von Genese und Entwicklung dieser sozialen Formation an entscheidenden Punkten auseinander: Der Frankfurter Ansatz unter der Ägide von Lothar Gall betrachtete die Stadt als zentralen Handlungsraum des Bürgertums, der nach regional unterschiedlichen Stadttypen differierte und die ihnen entsprechenden Ausprägungen des Bürgertums hervorbrachte. Von Beginn an beherrschte in diesem Ansatz das Wirtschaftsbürgertum die Szenerie, das als mit dem Bildungsbürgertum im städtischen Raum eng verschränkt gesehen wurde. Das alte Stadtbürgertum und das moderne Bürgertum gingen hier eine enge Symbiose ein, wurden weniger trennscharf von einem „modernen“ Bürgertum betrachtet. Der Bad Homburger und vor allem Bielefelder Ansatz (federführend hier vor allem Werner Conze, Rainer M. Lepsius, Jürgen Kocka, Hans-Ulrich Wehler, Reinhart Koselleck, Klaus Schreiner, Wolfgang Mager und Peter Lundgreen) betrachtete das Bürgertum als Träger einer bürgerlichen Gesellschaft, die mit dem Anspruch antrat, die ständische Gesellschaft abzulösen. Man konstatierte eine klare Trennung von Bildungs- und Besitzbürgertum, die sich an Einfluss und Macht im Laufe des 19. Jahrhunderts einander ablösten. Auch wenn durchaus in Teilbereichen Verbindungslinien zum alten Stadtbürgertum erkannt wurden, überwog die Auffassung, dass sich das neue Bürgertum primär außerhalb der traditionellen Städteordnung bewegte. Entsprechend stark wurde das Innovationspotenzial des „neuen“ Bürgertums als Protagonist der Modernisierung betont. Überdies wurde die Herausbildung eines solchen Bürgertums als europaweiter Prozess begriffen, der historische Vergleich, den der Bielefelder Ansatz einforderte, sollte nach Ähnlichkeiten und Unterschieden beim Weg in die Moderne fragen. Diese unterschiedliche Akzentuierung beeinflusste auch die Vorstellungen von der Blütezeit des Bürgertums. Für die Frankfurter Forschergruppe lag die bürgerliche Hochphase in den ersten zwei Dritteln des 19. Jahrhunderts, während im Kaiserreich ein nicht aufzuhaltender Niedergang begann. Vom Bielefelder Projekt inspirierte Forschungen sahen dagegen keinen Machtverlust, sondern eher eine innerbürgerliche Machtverschiebung und das Kaiserreich durchaus als noch stark bürgerlich geprägt. Auch wenn lange der Konsens bestand und entsprechend die Forschungsrichtung leitete, dass mit dem Ersten Weltkrieg die Hochzeit des Bürgertums sich ihrem Ende zuneigte, sind in der letzten Zeit aus dieser Richtung durchaus, wenn auch noch wenig empirisch fundierte Überlegungen angestellt worden, die – gewandelte – Formen von Bürgerlichkeit auch im 20. Jahrhundert erkennen wollen. Gemeinsam ist beiden Ansätzen die Vorstellung, dass das so heterogene Bürgertum in einer spezifischen bürgerlichen Kultur eine einigende Klammer fand. Im Zuge der Perspektiverweiterung auf kulturelle Aspekte untersuchte man jetzt die „Bürgerlichkeit“ und das bürgerliche „Lebensweltkonzept“ und meinte damit eine gemeinsame Referenzkategorie, die sich in gemeinbürgerlichen Praktiken, habituellen Dispositionen und wertgestützten Selbst- und Fremdkonzeptionen niederschlug. Doch auch hier gab es Unterschiede: Für die Bielefelder diente die bürgerliche Kultur als überspannendes Netz, dass regionale und zum Teil sogar nationale Bezüge überwölbte. Regionale Besonderheiten, auf die die Frankfurter Studien rekurrierten, gerieten damit in den Hintergrund. Der Schwenk der Bürgertumshistoriographie zur Kultur war doppelt motiviert. Zum einen war er Resultat der Suche nach zusammenhaltstiftenden Elementen des nicht nur sozio-ökonomisch so wenig homogenen Bürgertums. Zum anderen erlaubten es Studien zum Bürgertum, die mit der Perspektive auf eine bürgerliche Kultur andere Handlungsräume und -bezüge in den Blick nahmen und nach Ausprägung und Bedeutung von Symbolen und symbolischen Akten, Aushandlungen und Aushandlungsstrategien, Erinnerungen und Erinnerungsorten, Festen und Festtagsritualen, Werten und Wertevermittlungen fragten, auch den weiblichen Part des Bürgertums in den Blick zu nehmen. Denn: Die bürgerliche Gesellschaft war, dem universalistischen Lippenbekenntnis zum Trotz, eine hochgradig geschlechtsdualistisch konzipierte Welt, die...




