E-Book, Deutsch, 384 Seiten
Caboni Die Insel der Honigtöchter
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-641-29137-2
Verlag: Blanvalet
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 384 Seiten
ISBN: 978-3-641-29137-2
Verlag: Blanvalet
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Vom Dach der Opéra Garnier kann Alice über ganz Paris schauen. Hier oben hält sie ihre Bienen. Hier oben ist ihr Zufluchtsort. Doch von heute auf morgen ist der Stock verlassen. Eine Warnung für nahendes Unheil. Kurz darauf erhält Alice einen schrecklichen Anruf: Ihre Schwester, mit der sie wegen eines Streits seit zwei Jahren nicht gesprochen hat, ist gestorben. Sie hinterlässt Alice die Fürsorge für deren kleine Nichte. Doch Alice fühlt sich überfordert von der Verantwortung. Und so reist sie nach Sardinien, wo die Schwester lebte, um nach dem Vater des Kindes zu suchen. Was sie findet, bringt Alices Welt ins Wanken: uralte Wurzeln, ungeahnte Liebe und das heilende Lied der Bienen ...
Mehr Sommer-Wohlfühl-Flair vor der traumhaften Kulisse Italiens finden Sie in Cristina Cabonis 'Die Gartenvilla', 'Das Versprechen der Rosenfrauen' und 'Die Glücksmalerin'. Alle Romane sind einzeln lesbar.
Cristina Caboni lebt mit ihrer Familie auf Sardinien, wo sie Bienen und Rosen züchtet. Ihr Debütroman Die Rosenfrauen verzauberte die Leser weltweit und stand in Deutschland wochenlang auf der Bestsellerliste. Ihr zweiter Roman Die Honigtöchter, der auf ihrer Heimatinsel spielt, und Die Oleanderschwestern waren ebenfalls große Erfolge. Der Zauber zwischen den Seiten ist nun Cristina Cabonis viertes Buch, das in der faszinierenden Welt der Bücher spielt.
Weitere Infos & Material
1.
Cuevas de la Avaña ist ein Höhlensystem in der spanischen Provinz Valencia, in dem sich zahlreiche Höhlenmalereien befinden, darunter die stilisierte Darstellung einer Frau, die Honig sammelt. Womöglich hat vor mehr als 7000 Jahren ein einladender Gesang die Bienen angelockt und einen Künstler zu diesem Werk inspiriert.
Als Alice Pascal Azara die Biene sah, die sich auf ihren Handrücken gesetzt hatte, zuckte sie zusammen. Nicht weil sie Angst hatte. Sie wusste, dass sie nicht stechen würde.
Aber sie wusste nicht, was der Besuch der Biene ihr sagen wollte, nur dass es etwas Wichtiges war. Daran gab es keinen Zweifel. Sie hätte besser aufpassen müssen, für ihre Unachtsamkeit hatte sie schon einmal teuer bezahlt.
So war es immer.
Sie beschirmte die Biene mit der Hand, damit niemand im Konferenzsaal sie bemerkte, stand vorsichtig auf und ging auf die Glastür zu und weiter nach draußen. Hinter sich hörte sie, wie Guy Leroy, der Geschäftsführer der Firma für Datenanalyse, für die sie seit acht Jahren arbeitete, den Jahresbericht präsentierte. Sie musste sich beeilen. An diesem Tag ging es auch um ihren persönlichen Erfolg, sie durfte jetzt nicht fehlen.
Die Biene schien keine Angst zu kennen und krabbelte auf ihrem Handrücken herum.
Alice fragte sich, woher sie wohl kam. Sie zog Bienen magisch an, egal, ob im Haus ihrer Eltern in der Provence oder mitten in Paris, stets fanden sie sie.
»Was möchtest du mir dieses Mal sagen?«
Eine Erinnerung wallte in ihr auf, und sie schauderte. Dann konzentrierte sich Alice wieder auf die Biene und erlaubte sich noch einen Moment der Entspannung, um sie zu beobachten, dann hob sie den Arm in Richtung des kobaltblauen Himmels und flüsterte: »Die Sonne geht bald unter, flieg nach Hause.«
Sie kam gerade rechtzeitig in den Konferenzraum zurück.
»Das Ziel wurde weit übertroffen, und jeder von euch hat dazu beigetragen, vielen Dank.«
Beifall brandete auf.
Alice setzte sich in die Nähe des offenen Fensters, falls die Biene sich dazu entscheiden sollte zurückzukehren. Sie lächelte Noêlle Fabre, der Personalchefin, auf dem Stuhl neben ihr zu.
»Sehr gute Arbeit, meine Liebe, Glückwunsch zu deiner Beförderung, sie ist hochverdient.«
»Danke.«
Noëlle stand auf und legte ihr eine Hand auf die Schulter, dann winkte sie Leroy zu sich.
Alice warf noch einen letzten Blick nach draußen, die Biene war sicher auf dem Rückflug in ihren Stock. Dann richtete sie ihre ganze Aufmerksamkeit auf den Kollegen und lächelte. Die gelöste Stimmung tat ihr gut.
Das ganze Team hatte für dieses Ergebnis hart gearbeitet. Alice selbst war im Hintergrund geblieben, hatte Probleme analysiert und Lösungen erarbeitet. Diese Rolle wollte sie auch nach ihrer Beförderung weiter beibehalten.
Noëlle stand jetzt neben dem Geschäftsführer und strahlte ihn an, aus ihrem Blick sprach tiefe Zufriedenheit. Einen Moment lang wünschte Alice, sie wäre wie sie.
Aber nur kurz.
Lieber nicht, das war nicht ihre Welt. Sie las lieber den ganzen Tag Berichte. Zahlen hatten keine Meinung, stritten oder beschwerten sich nicht. Zahlen stellten keine Fragen, auf die man nicht antworten wollte. Kein Chaos, keine Überraschungen. Alles war unter Kontrolle.
Sie hob das Glas, das ihr ein livrierter junger Kellner gereicht hatte, und stieß in Gedanken mit sich selbst auf ihre Beförderung an. Sie hatte einen wichtigen Schritt auf der Karriereleiter nach oben gemacht.
»Solltest du nicht an seiner Seite sein?«
Sie hatte ihn nicht kommen hören, ihn nicht mal gesehen, abgelenkt durch den Besuch der kleinen Biene.
»Ich spreche nicht gerne in der Öffentlichkeit«, antwortete sie für ihre Verhältnisse ungewöhnlich direkt.
Gérard Clavel nahm nur selten an Konferenzen teil. Er war zurückhaltend, genau wie sie, aber bei diesem wichtigen Ereignis durfte er als Leiter der Rechtsabteilung nicht fehlen.
»Das ist mir schon aufgefallen. Ich frage mich, wie lange du noch im Hintergrund bleiben willst.«
Was meinte er damit? Alice hob den Kopf, überrascht von der Intensität seines Blicks. Ihr Herz schlug schneller. »Was willst du damit sagen?«
»Ich versuche es zu erklären.«
Seine sonore Stimme klang sinnlich, ein Hauch seines Aftershaves lag in der Luft, dezent und elegant. Sie spürte wieder dieses schwärmerische Gefühl, das sie früher für ihn empfunden hatte und das scheinbar immer noch nicht ganz erloschen war.
»Wenn du schüchtern oder unsicher wärst, könnte ich es noch verstehen, aber so ist es nicht. Deshalb bleibt die Frage, warum eine so starke und kompetente Frau wie du auf einen Moment des Triumphs wie diesen verzichtet.«
Überrascht trank sie einen Schluck. Der Wein war sehr herb, fast sauer. Er schmeckte ihr nicht, und sie stellte das Glas auf einem kleinen Tisch ab, neben einen Blumenstrauß, der allmählich zu welken begann. Bei ihrer Ankunft hatte sie daran gerochen, aber er duftete nicht. Er war schön, mehr nicht. Weiß – wie die gesamte Inneneinrichtung – passte er perfekt. Selbst die Kellner waren weiß gekleidet.
»Triumph ist ein weites Feld und vor allem ein subjektives Empfinden. Ich würde es eher Zufriedenheit nennen.«
Sie waren einen Schritt beiseitegetreten. Durch die großen Scheiben konnte Alice die Lichter der Stadt sehen. Sie hätte das rote Kleid nicht anziehen sollen. Zu auffällig. Aber schließlich war das ihr Abend. Der perfekte Anlass, um mal etwas anderes zu tragen als ein graues Kostüm. Oder ein schwarzes. Einmal hatte sie über ihren Schatten springen wollen.
»Du bist eine ungewöhnliche Frau.«
Sie nahm ihm das nicht übel, man hatte sie schon schlimmer tituliert. »Warst du deshalb gegen meine Kandidatur?« Mit den Jahren hatte sie gelernt, dass Männer wie Gérard sich den ganzen verfügbaren Raum nahmen. Besonders er. Ihre Gefühle ihm gegenüber waren widersprüchlicher Natur. Er war attraktiv, selbstsicher, er hatte etwas Besonderes an sich. Das gefiel ihr … von Anfang an.
»Sagen wir, das war einer der Gründe.«
»Ich war eure beste Option, und das weißt du auch.« Das war kein Selbstlob, sondern eine Tatsache. Sie hatte sich bestimmt doppelt so viel Mühe gegeben wie die anderen, ihre ganze Zeit in die Firma investiert. Sie kannte die Strukturen, das System, alle kritischen Punkte. Der Erfolg der Firma war ihr Lebenszweck. Der Einzige, den sie hatte.
»Ich habe nie das Gegenteil behauptet.«
Sie schloss die Augen. »Liegt es daran, dass ich eine Frau bin?« Sie wusste, dass sie ihn mit der Frage provozierte. Das war eigentlich nicht ihre Art, sie scheute Konflikte. Aber jetzt ließ sie nicht locker. War er wütend? Oder wollte er sich entschuldigen? Was wollte er überhaupt?
»Komm schon, du solltest mich gut genug kennen, um zu wissen, dass es das nicht ist.«
Das war keine Antwort, jedenfalls nicht die, nach der sie suchte. »Warum dann?«
Gérard lächelte.
»Nun, Alice, wenn ich dir in die Augen schaue – und das tue ich immer, wenn ich die Chance dazu habe –, habe ich den Eindruck, in einen tiefen, ruhigen See zu blicken. Nicht mal nach Stunden kann man den Grund erkennen.« Er hielt inne. »Ich frage mich, was sich unter der Oberfläche verbirgt. Und dass ich es nicht weiß, ist mir unangenehm.«
Seine Worte machten sie nachdenklich. Hatte er sie wirklich ständig im Auge? Er lächelte, und Alice fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen. Dann gewann die Logik wieder die Oberhand. Der Grund für sein Interesse war offensichtlich: Sie hatte Zugang zu allen wichtigen Informationen die Firma betreffend, natürlich war sie wichtig für ihn. Mit einem Schlag hatte sie ihre Selbstsicherheit eingebüßt. »Was genau willst du von mir, Gérard?«
»Ein Abendessen wäre ein guter Anfang.«
Erneut überrascht, dachte sie über das Angebot nach. Warum eigentlich nicht? Gerard strahlte Autorität, Sicherheit, Kontrolle aus, Qualitäten, die sie sehr schätzte. Der Gedanke beunruhigte sie. An diesem Abend schienen sich sogar ihre verborgensten Wünsche zu erfüllen. Sie nickte einer Kollegin zu und wandte sich wieder an ihn. »Ich denke darüber nach.«
Gérard schüttelte amüsiert den Kopf. »Ich habe noch eine Frage.«
Sie seufzte und lächelte wider Willen. »Ja?«
»Warum hast du deine Meinung geändert?«
Alice sah ihn erstaunt an. »Bitte?«
»Dieses Kleid, diese Farbe. Gewagt, auffällig. Alle schauen dich an. Du bist … unvergesslich.«
»Es ist nur ein Kleid.«
Er wusste, dass mehr dahintersteckte. »Ich dachte, du wolltest deinen Erfolg feiern, endlich mal aus dem Schatten treten. Aber auch dieses Mal bist du im Hintergrund geblieben.«
»Und warum sollte dich das etwas angehen?«
»Ich schaue dich an, Alice. Und ich sehe dich.«
Sie wich zurück. »Danke für das Gespräch, ich muss jetzt gehen. Einen schönen Abend noch, Gérard.«
Er wollte etwas erwidern, schüttelte dann aber den Kopf und vergrub die Hände in den Hosentaschen. »Bis bald, Alice.«
Er ging und wusste, dass sie ihm nachsah. Allein der Ton, in dem er ihren Namen ausgesprochen hatte, hatte sie aufgewühlt.
Damit nicht genug. Das alles war zu viel für sie, zu viele Gefühle, zu viel zu bewältigen. Ein Gewicht drückte auf ihre Schultern, ihr Atem beschleunigte sich. Sie zog rasch ihren Mantel über, wollte nur noch hier weg. Sie musste unbedingt ihre Gedanken ordnen. Erst wollte sie ein Taxi nehmen,...