Cameron | Was geschieht in der Nacht | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 272 Seiten

Cameron Was geschieht in der Nacht

Roman
Deutsche Erstausgabe
ISBN: 978-3-95438-153-1
Verlag: Liebeskind
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 272 Seiten

ISBN: 978-3-95438-153-1
Verlag: Liebeskind
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein New Yorker Ehepaar reist mit dem Zug in eine abgeschiedene, schneeverwehte Kleinstadt im Norden Europas, um im örtlichen Waisenhaus ein Kind abzuholen, das sie adoptieren wollen. Er hofft, durch das Kind seiner Frau wieder näherzukommen. Sie, gezeichnet vom Kampf gegen eine tödliche Krankheit, will ihn nach ihrem Tode nicht allein zurücklassen. Am Ziel ihrer Reise angelangt, quartieren sich die beiden im Grand Imperial Hotel ein, das von der Pracht längst vergangener Tage zeugt und in dem eine Handvoll skurriler Gäste logiert. Am nächsten Morgen setzt das Taxi sie fälschlicherweise nicht beim Waisenhaus ab, sondern vor dem Haus von Bruder Emmanuel, einem mysteriösen Heiler. Dies löst eine Reihe von Verwicklungen aus, die den Plan, das Kind abzuholen, nach und nach in den Hintergrund treten lassen. In diesem Buch darf nichts für bare Münze genommen werden - und nie weiß man, was als Nächstes geschieht. Peter Cameron stört empfindlich unsere Gewissheiten über den natürlichen Ablauf der Welt und liefert dabei einen Roman ab, dessen eigenartige Spannung und grotesker Humor ihresgleichen suchen.

Peter Cameron, geboren 1959 in New Jersey, wuchs in England und den USA auf. Nach dem College erste Veröffentlichungen im »New Yorker«. Bekannt wurde er durch seinen internationalen Bestseller »Die Stadt am Ende der Zeit«, der von James Ivory verfilmt wurde. Cameron ist Autor von acht Romanen, die in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden. Er lehrte u. a. Kreatives Schreiben an der Columbia University und in Yale. Derzeit lebt er in New York.

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1
Der Abend senkte sich so beunruhigend abrupt herab wie der hastig fallende Vorhang vor einer Laienaufführung, die fürchterlich danebenging. Und dann sah der Mann, dass die Dunkelheit nicht hereinbrach, weil die Sonne unterging, sondern weil der Zug in einen dichten Wald gefahren war und die offene Schneelandschaft des Nachmittags hinter sich gelassen hatte. Tannen drängten sich hoch und mächtig an die Gleise, wie Kinder, die sich an die Fenster ihres Klassenzimmers drückten, um besser sehen zu können, was für ein grausiger Unfall sich auf der Straße ereignet hatte. Seine Frau saß ihm gegenüber. Sie waren allein in dem kleinen, holzvertäfelten Abteil dieses altmodischen Zugs. Lange Zeit hatte sie gedankenverloren aus dem Fenster gestarrt, fasziniert, wie es schien, von der endlosen Weite der Tundra, schreckte dann aber unversehens zurück, als der Zug in den finsteren Wald fuhr, als könnten die Bäume, die seitlich über den Wagen strichen, bis zu ihr hereinreichen und sie treffen. Sie hob die Hand an die wunde Stelle auf ihrer Wange, die sie sich am Abend zuvor böse aufgeschürft hatte. Sie waren auf den Markt der Stadt gegangen, in der sie zuletzt Station gemacht hatten, denn auch wenn sie keine Touristen waren, waren sie doch Fremde, die etwas über die Orte erfahren wollten, die sie besuchten, wenn auch nur für eine Nacht. Die Frau hatte etwas Reizvolles auf dem Markt entdecken wollen, denn sie befand sich an einem Punkt ihres Lebens, an dem sie alles Ansprechende und Schöne, das sich ihr bot, sehen und wertschätzen wollte, nur war dieser Markt eindeutig ohne jeden Reiz gewesen, es gab nichts als Fisch und Fleisch und Wurzelgemüse, und der Fisch sah nicht frisch aus, das Fleisch war kein Muskelfleisch, da lagen nur Innereien, Hirne, Füße, Lippen und Herzen, und das Gemüse war reines Wintergemüse, Wurzeln und Knollen und anderes farbloses Zeug, das aus seinen kalten, irdenen Betten gerissen worden war. Keine leuchtenden Tomaten- und Pfirsichpyramiden, keine Basilikumsträuße, keine Kapuzinerkresse, keine glitzernden Fischaugenjuwelen, keine marmorierten Stücke Rundfleisch. Und dann entdeckte sie etwas entfernt einen Stand, an dem es eindrucksvolle Gewächshausblumen gab, und wollte hinlaufen, um endlich etwas zu finden, das nicht völlig ohne jede Lebensfreude war. Aber ihr Mann hatte bereits vor ihr gesehen, dass es sich um künstliche Blumen handelte, und versuchte, sie in eine andere Richtung zu steuern, doch sie riss sich los und lief auf die bunt leuchtenden Blumen zu, wollte ihr Gesicht in ihren duftenden, weichen Blüten vergraben, einen ganzen Armvoll kaufen und sie wie eine Braut mit sich herumtragen, wie eine Diva im Rampenlicht. Doch vor dem Stand eines Fischhändlers rutschte sie in einer eisigen Pfütze aus, fiel hin und schürfte sich Wange und Hände auf dem nassen, fischigen Beton auf. Erst, als ihr Mann sie erreichte und ihr wieder aufhalf, begriff sie, dass die Blumen aus Plastik waren. Nicht mal aus Seide! Dann hätte sie sie zumindest anfassen können. Jetzt im Zug wandte die Frau ihre Aufmerksamkeit dem Buch zu, das aufgeschlagen auf ihrem Schoß lag. Es war ein altes Buch, Der dunkle Wald von Hugh Walpole, das sie im Wartesaal eines Bahnhofs gefunden hatte, wo sie umgestiegen waren, offenbar von einem anderen Reisenden dort zurückgelassen. Eine Weile nach Einbruch der Dunkelheit – oder ihres Eintritts in sie – las sie nun darin weiter, blickte dann aber unvermittelt von ihrem Buch auf, sah in die an den Fenstern vorbeirauschende Dunkelheit hinaus und fragte: Gibt es kein Licht? Es war gerade noch hell genug, um festzustellen, dass es offenbar keines gab. Ich sehe keine Lampe, sagte ihr Mann. Man sollte doch denken, dass sie hier eine Beleuchtung haben, sagte sie. Ja, sagte er, das sollte man denken. Sie seufzte enttäuscht, ob nun wegen der fehlenden Beleuchtung oder seiner Reaktion darauf, konnte er nicht sagen. Wahrscheinlich wegen beidem, und mehr. Sie waren seit Tagen unterwegs, erst per Flugzeug, dann mit Bahn und Schiff, und jetzt saßen sie wieder im Zug, denn ihr Ziel war ein Ort am Rand der Welt, im hohen Norden eines nördlichen Landes, nicht leicht zu erreichen. Ihre Reise glich einer Reise in ein früheres Jahrhundert, dauerte Tage, nicht Stunden, und die Erde unter ihnen war ernst und sehr real und bestand nachdrücklich auf ihrer unermesslichen Weite. Und so real war auch dieser Abend, die Dunkelheit eine Folge der mittlerweile untergegangenen Sonne und nicht der Verdunkelung. Beide blickten aus dem Fenster. Die Frau berührte ihr Spiegelbild, das durch die Dunkelheit draußen sichtbar geworden war. Sieh mich an, sagte sie, so hager. Mein Gott, hager: Wie ich dieses Wort hasse. Hager und Schakal und Hybris. Leckgeschlagen und … Welche Worte hasse ich noch? Das hatte sie neuerdings angefangen: auf vertraute Weise auf eigenartige, angeblich bereits lang gehegte Vorlieben und Meinungen anzuspielen, von denen bisher nie die Rede gewesen war. Die nie existiert hatten, soweit der Mann wusste. Und so überhörte er ihren ungereimten Einwurf und fragte sie, worum es in dem Buch ging. Eine Weile lang sagte sie nichts, sondern betrachtete ihr Spiegelbild, wie es über das dunkle Tannengitter raste. Worum?, fragte sie endlich. Wie meinst du das? Er antwortete nicht, weil er ihrem Widerspruchsgeist nicht nachgeben wollte. Schließlich sagte sie: Es geht um den Krieg. Welchen Krieg? Einen der Weltkriege, sagte sie. Den ersten, denke ich. Sie sind in den Gräben. Und? Und? Der Krieg ist schrecklich. Es ist schlimm genug, dass ich das lesen muss. Bring mich nicht auch noch dazu, darüber zu reden. Okay, sagte er. Tut mir leid. Sie sah ihn an, und ihre Ablehnung fiel plötzlich in sich zusammen. Nein, sagte sie. Red keinen Unsinn. Mir tut es leid. Ich bin einfach nur nervös, weißt du … wegen allem. Das verstehe ich, sagte er. Ich auch. Wegen allem? Nein, sagte er. Nicht wegen allem. Einfach, weil … wie alles gehen wird. Oder auch nicht, sagte sie. Sie waren beide eingeschlafen und wurden gleichzeitig von einem sonderbaren Gefühl geweckt: Stille. Der Zug war stehen geblieben. Vor dem Fenster konnten sie durch die von ihrem Atem beschlagene Scheibe einen Bahnsteig und ein Gebäude erkennen. Kein Mensch war zu sehen, alles verlassen, und zu hören war allein das kitzelnde Streicheln des Schnees, der gegen das Fenster geweht wurde. Der Mann dachte an die warmen Moleküle ihres Atems, die sich am kalten Glas der Scheibe fingen und sich unabhängig von ihnen zusammenschlossen. Das muss es sein, sagte sie. War es nicht der erste Halt? Ja, sagte er. Dann ist es das. Ich sehe kein Schild. Nein. Sie wischte einen schlierigen Kreis aufs Fenster, was jedoch nichts änderte, da war nur der hölzerne Bahnsteig, auf dem eine einzelne Laterne einen hellen Schneekegel aus der riesigen Nacht ringsum schnitt. Das muss es tatsächlich sein, sagte jetzt auch er, stand auf und öffnete die Tür des Abteils nach draußen. Geh nicht, sagte sie. Aber das muss es sein, sagte er. Das kann es nicht, sagte sie. Das ist kein richtiger Bahnhof. Da ist keine Stadt, nichts. Es muss ein Zwischenhalt sein. Ein Zwischenhalt? Ja, sagte sie. Eine Pause, kein offizieller Halt. Er trat hinaus auf den Bahnsteig, brachte die perfekte Schneedecke durcheinander. Er fühlte sich wie ein Barbar. Aber da die Perfektion nun schon einmal zerstört war, wusste er, dass er weitermachen musste, ist ein Haarriss in einem schönen Stück Porzellan doch noch ärgerlicher, als wäre ebendieses Stück auf dem Boden zerschellt. Und so lief er in immer weiteren Kreisen über den Bahnsteig, wirbelte den Schnee auf, so gut er konnte, und näherte sich dem Gebäude weit genug, um in einem Echo von verblichener Farbe den Namen der Stadt zu sehen, die ihr Ziel darstellte. Plötzlich kam er sich albern vor, hielt in seinem Herumtoben inne und wurde sich in der nachfolgenden Stille einer beängstigenden Bewegung hinter sich bewusst. Der Zug. Er drehte sich um und sah, wie er sich langsam zu bewegen begann, so langsam, dass er einen Moment lang dachte, es müsse die Dunkelheit sein, die sich da bewegte, doch dann war klar, es war der Zug, denn er konnte sehen, wie sich seine Frau vorreckte und aus der noch offenen Tür blickte, das weiße Gesicht in stummer Verwunderung, und einen kurzen Moment lang fühlte es sich an wie der Tod: als müsste er seine Liebe, die da ohne ein Wort ins Schneedunkel glitt, aus dieser Welt entlassen. Doch dann verwischte ein Gefühl von Dringlichkeit seine Vision, er rief zu seiner Frau hinüber und rannte neben dem sich beschleunigenden Zug her, und sie war auf den Beinen, warf ihre Taschen aus der...


Peter Cameron, geboren 1959 in New Jersey, wuchs in England und den USA auf. Nach dem College erste Veröffentlichungen im »New Yorker«. Bekannt wurde er durch seinen internationalen Bestseller »Die Stadt am Ende der Zeit«, der von James Ivory verfilmt wurde. Cameron ist Autor von acht Romanen, die in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden. Er lehrte u. a. Kreatives Schreiben an der Columbia University und in Yale. Derzeit lebt er in New York.



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