E-Book, Deutsch, 334 Seiten
Carrisi Enigmas Schweigen
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-03792-156-2
Verlag: Atrium Verlag AG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 334 Seiten
ISBN: 978-3-03792-156-2
Verlag: Atrium Verlag AG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Donato Carrisi, geboren 1973 in einem Dorf in Apulien, lebt in Rom. Er studierte Jura und spezialisierte sich auf Kriminologie und Verhaltensforschung. Nach einer kurzen Tätigkeit als Anwalt arbeitet er heute als Autor und Regisseur. Neben seinem Bestseller Der Nebelmann mit Jean Reno wurde auch sein Thriller Diener der Dunkelheit mit Dustin Hoffman fürs Kino verfilmt.
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2
Wohl wissend, dass sie kein Auge zumachen würde, hatte Mila die Nacht auf dem Sofa verbracht, auf dem Joanna Shutton sie ein paar Stunden zuvor mit einer Wahrheit konfrontiert hatte, die sie niemals hätte wissen wollen.
Die Worte der Richterin hallten noch immer in ihr nach. »Du musst ihm nicht gegenübertreten«, hatte die Shutton ihr versichert. »Es reicht, wenn du dir anhörst, was wir über ihn wissen, und uns sagst, wenn es dich an etwas erinnert. Danach kannst du alles wieder vergessen.«
»Wieso seid ihr so sicher, dass es sich ausgerechnet um meinen Namen handelt?«, hatte sie protestiert. »›Mila‹ kann tausend Dinge bedeuten, genauso wie die Zahlen, von denen ihr auch nicht wisst, was sie meinen.«
»Vielleicht irren wir uns ja, aber wir haben die Pflicht, es zumindest zu versuchen.«
Indem sie an ihr Pflichtgefühl appellierte, hatte die Shutton einen Volltreffer gelandet.
Mila beobachtete, wie die Flammen im Kamin allmählich erstarben, bis das Feuer ganz ausgegangen war und sie in einer Eiseskälte zurückließ, die ihr wohlvertraut war. In der Stille des Hauses waren die Geräusche aus dem Wald gut zu hören. Der Wind, der gegen die Baumkronen peitschte, um sich seinen Weg zu bahnen, das Plätschern der Wellen am Seeufer.
Alice hatte gespürt, dass etwas nicht in Ordnung war, und schien beunruhigt. Mila fühlte sich schuldig, weshalb sie dem Wunsch ihrer Tochter nachgegeben hatte, ausgerüstet mit Taschenlampe, Lieblingsbüchern, iPod mit Elvis-Songs und bewacht von den lächelnden Gesichtern ihrer Stofftiere, in ihrer Deckenhöhle zu schlafen.
Das Dunkel war zurückgekehrt, um sie zu suchen. Mila musste eine Entscheidung fällen, die auch ihre Tochter betreffen würde. Eine Entscheidung, die notfalls rückgängig gemacht werden konnte.
Es war alles so gut gelaufen – bis zu diesem Moment. Warum hatte sie der Richterin bloß die Tür aufgemacht? Es war, als hätte sie gemeinsam mit ihr ein unheilvolles ins Haus gelassen, das keinen Namen hatte, sich von Wut und den Schreien unschuldiger Opfer ernährte und sich nicht mehr vertreiben ließ. Mila konnte es auch jetzt noch spüren.
Der Schlächter der Andersons hatte sich ihren Namen auf die Haut tätowiert.
Der Gedanke quälte sie. Doch nicht die Tatsache selbst erschreckte sie, sondern das Wissen, dass jemand anders seine Haut mit solchen Zeichen versah. Wie oft hatte sie sich selbst geritzt, um eine Ahnung von menschlicher Regung zu bekommen, einen Schmerz zu empfinden, der dem Mitgefühl nahe kam, zu dem sie nicht in der Lage war. Die Ähnlichkeit oder, schlimmer noch, die Nähe zwischen ihr und diesem Monster schockierte sie. Es konnte kein Zufall sein. . War das der Grund, warum er versuchte, sie in die Sache hineinzuziehen?
Fragen und Zweifel überkamen sie, und eine Stimme in ihrem Inneren verlangte, sie sollte alles so schnell wie möglich vergessen, die Worte der Shutton und den Fall Anderson aus ihrem Hirn verbannen und sich in die selbst gewählte Einsamkeit zurückziehen, um mit ihrer Tochter ihr neues Leben weiterzuführen. Schließlich könnte niemand sie dazu zwingen, das Rätsel um Enigma zu lösen.
Denn eines wusste Mila genau: Dieses Tattoo war eine Einladung.
Ich lasse mich nicht manipulieren, sagte sie sich. Die Vorstellung, sich mit diesem Mann zu befassen, obwohl sie ihm nicht mal von Angesicht zu Angesicht begegnen musste, setzte ihr zu. Und doch sehnte sich ein Teil von ihr, irgendwo tief in ihrem Unterbewusstsein, danach, sein Geheimnis zu lüften.
Das Dunkel rief nach ihr, sie spürte es, konnte es nicht ignorieren, sosehr sie sich auch bemühte. Denn selbst wenn es Mila gelang, ihre zweite Natur in Schach zu halten, so war sie doch nicht in der Lage, sie zu beherrschen.
Mit dem Morgengrauen wichen ihre letzten Widerstände, gemeinsam mit den Schatten der Nacht. Trotz der langen Nacht war Mila hellwach. Sie wusste, selbst wenn sie Enigmas Botschaft ignorierte, würde sie dieser Fall früher oder später aus dem warmen Nest vertreiben, das sie sich so mühevoll am Seeufer gebaut hatte, lauschig und behaglich wie die Höhle von Alice. Also konnte sie die Sache auch angehen.
Sie versuchte, sich einzureden, dass sie es für die Andersons tat, damit ihre Leichen gefunden wurden und sie ein würdiges Begräbnis erhielten. Aber wenn sie ehrlich war, musste sie zugeben, dass das nicht stimmte. Die Vorstellung, das Rätsel zu lösen, faszinierte sie. Nicht der mögliche Ruhm war es, der sie reizte. Nein, es war die absurde Überzeugung, dass sie die Welt zu einem sichereren Ort machen könnte, wenn sie den Kampf gegen das Dunkel aufnahm. Nicht zuletzt um ihrer Tochter willen.
Sie beschloss, Alice mit dem Duft von frisch gebackenen Pancakes zu wecken. Ihre Höhle hatte sie sich mithilfe von Decken, Wäscheklammern und einer Leine auf dem oberen Treppenabsatz gebaut, direkt vor der Speichertür. Mila schob das rot-grün karierte Plaid beiseite, das als Eingangstür diente. Ein Sonnenstrahl fiel in das Versteck.
Alice hob den Kopf mit den verstrubbelten Haaren vom Kissenberg auf den Eichendielen. Sie hatte wieder mal mit den iPod-Stöpseln in den Ohren geschlafen. Verwundert rieb sie sich die Augen und starrte auf das Tablett in Milas Händen.
»Pancakes? Heute ist doch gar nicht Samstag.«
Intuitiv hatte das Mädchen gespürt, dass die Veränderung ihrer täglichen Routine etwas zu bedeuten hatte.
Mila lenkte sofort vom Thema ab.
»Heute gehst du nach der Schule zu Jane. Ich werde gleich ihrer Mutter Bescheid sagen.«
»Warum denn das?«
»Ich muss in die Stadt und komme erst heute Abend zurück. Das ist doch okay für dich, oder?«
Alice blickte erneut auf die Pancakes, ohne etwas zu erwidern. Ihre Tochter schien zu glauben, sie hätte ihr Lieblingsfrühstück nur deswegen zubereitet, weil sie ein schlechtes Gewissen hatte. Und sie hatte ja recht: Tatsächlich suchte sie nach einer Rechtfertigung dafür, ihr neues Leben so einfach aufzugeben.
»Gehst du zu ihm?«
Mila seufzte.
»Nein, ich gehe zu deinem Vater.«
»Okay.«
Wie immer begnügte sich Alice mit der erstbesten Antwort. Trotzdem würde sie ihre Tochter zum Psychologen bringen müssen, wenn diese Fixierung nicht allmählich aufhörte.
»Auf jeden Fall bin ich rechtzeitig zum Abendessen wieder da.«
»In Ordnung, Mama.«
Mila horchte auf. Alice nannte sie fast nie »Mama«. Und wenn sie es doch einmal tat, verspürte sie stets einen Stich, weil sie sicher war, dass ihre Tochter ihr damit etwas Wichtiges mitteilen wollte, sie die Botschaft aber nicht verstand.
Sie reichte ihr das Tablett mit den Pancakes, dem Ahornsirup und einem Glas Milch.
»Finz ist heute Nacht wieder nicht nach Hause gekommen«, sagte sie. »Vielleicht müssen wir im Wald nach ihm suchen.«
Alice nahm einen Bissen und schwieg.
»Zieh dich bitte an, wenn du gegessen hast. Der Schulbus kommt in einer halben Stunde«, sagte Mila und ging sich fertig machen.
Tief unten in ihrem Kleiderschrank bewahrte sie eine Kiste auf. Sie zog sie hervor und holte nacheinander ihre Springerstiefel, eine schwarze Jeans, einen Rollkragenpullover und eine Lederjacke hervor – Kleidungsstücke, mit denen sie sich früher unsichtbar gemacht hatte. Ein dunkler Fleck unter tausend anderen, angepasst an die unendliche Farbenvielfalt der Erde.
Doch tief unten in der Kiste befand sich noch etwas, das sie lange nicht benutzt hatte: Das Handy stammte aus Zeiten, als von Smartphones noch keine Rede war. Doch es schien nach wie vor zu funktionieren, stellte sie fest, als sie das Kabel in eine Steckdose steckte, um den Akku aufzuladen. Sie musste dringend ein paar Anrufe tätigen. Der erste galt der Shutton.
»Zwölf Stunden«, sagte sie, kaum hatte die Richterin sich am anderen Ende der Leitung gemeldet. »Danach bin ich draußen.«
Sie fuhr mit ihrem alten Hyundai zum Bahnhof. Der Zug ging um halb acht. Dreißig Minuten später hatte sie die Stadt erreicht. Sie hatte kaum den Fuß auf den Bahnsteig gesetzt, als der Lärm sie bereits umhüllte. Ihr neues Leben am See hatte sie vergessen lassen, was es bedeutete, ohne die Stille zu leben. Plötzlich fühlte sie sich eingeengt.
Neben einem Kiosk auf dem Bahnhofsvorplatz wartete wie verabredet Simon Berish. Ihr alter Freund hatte sich nicht verändert, kleidete sich noch immer wie ein echter Gentleman. Er sah sie schon von Weitem und hob einen Arm, um ihr zu winken.
»Ich habe nicht damit gerechnet, dich so schnell wiederzusehen.« Er wirkte irgendwie enttäuscht.
»Ich auch nicht«, erwiderte Mila.
Sie hatten sich Lebewohl gesagt, als sie den Polizeidienst quittiert hatte. Sie erinnerte sich noch gut an ihr letztes Gespräch. Auch wenn Mila es nicht explizit erwähnt hatte, schloss die Absicht, mit allem Schluss zu machen, ihn mit ein. Berish hatte es akzeptiert. Am Ende hatten sie sich verabschiedet wie immer, aber in dem Bewusstsein, sich nie mehr wiederzusehen.
»Hast du Zeit für einen Kaffee?«, fragte er.
»Ich fürchte, nein. Die Richterin hat zu meinen Ehren in zwanzig Minuten ein Briefing anberaumt.«
Ohne zu insistieren, führte Simon sie zu seinem Auto. Am Himmel ballten sich graue Wolken. Es hatte geregnet, und auf dem Asphalt hatten sich zahlreiche Pfützen gebildet. Berish lief voran. Mila hatte den Verdacht, dass er ihrem Blick ausweichen wollte. Aber sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er nicht mehr lange würde an sich...




