E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Christian / Griffiths Algorithmen für den Alltag
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-7453-0785-6
Verlag: riva
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Wissenschaft der perfekten Entscheidung – vom Aufräumen bis zur Partnersuche
E-Book, Deutsch, 400 Seiten
ISBN: 978-3-7453-0785-6
Verlag: riva
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Brian Christian ist der Autor des Wall Street Journal-Bestsellers The Most Human Human, der 2011 vom New Yorker zum Lieblingsbuchs des Jahres gewählt wurde. Er schreibt für Zeitungen und Zeitschriften im In- und Ausland, darunter The Atlantic, The Guardian, The Paris Review und Wired. Er lebt in San Francisco. Tom Griffiths ist Professor für Psychologie und Kognitionswissenschaft an der Princeton University, wo er das Institut für Kognitions- und Gehirnwissenschaften leitet. Er hat mehr als 150 wissenschaftliche Artikel veröffentlicht, die thematisch von der kognitiven Psychologie bis zur kulturellen Evolution reichen, und wurde mehrfach ausgezeichnet. Er lebt in Berkeley, Kalifornien.
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EINLEITUNG
ALGORITHMEN FÜRS LEBEN
Stellen wir uns vor, jemand sucht eine Wohnung in San Francisco – in keiner amerikanischen Stadt dürfte es derart schwierig sein, eine Unterkunft zu finden. Der boomende Technologiesektor und das strenge Baurecht haben dafür gesorgt, dass die Stadt an der Pazifikküste so teuer wie New York ist und einen härter umkämpften Wohnungsmarkt hat als die Stadt am anderen Ende des Kontinents. Neue Wohnungsanzeigen verschwinden nach wenigen Minuten wieder, Sammelbesichtigungen arten zu Massenaufläufen aus, und oft landen die Schlüssel in den Händen dessen, der es schafft, dem Vermieter als Erster einen Scheck über die Kaution in die Hand zu drücken.
Auf einem derart erbittert umkämpften Markt hat man kaum Zeit für jene Art von Recherche und Überlegung, die in der Theorie das Verhalten des rationalen Konsumenten prägen sollte. Anders als Besucher eines Einkaufszentrums oder Online-Kunden, die verschiedene Optionen vergleichen können, bevor sie eine Entscheidung fällen, muss sich ein Neuankömmling in San Francisco augenblicklich entscheiden: Er kann diese Wohnung nehmen und darauf verzichten, andere Optionen zu sehen, oder er kann sich für immer von dieser Wohnung verabschieden.
Nehmen wir der Einfachheit halber an, dass der Wohnungssuchende nur ein Ziel hat: Er will seine Chance erhöhen, sich die beste verfügbare Wohnung zu sichern. Er will das doppelte Bedauern darüber, zwischen der Skylla der »entgangenen Gelegenheit« und der Charybdis der »nie gesehenen Möglichkeit« gefangen zu werden, auf das absolute Mindestmaß verringern. Dabei gerät er sofort in ein Dilemma: Wie kann er wissen, dass die Wohnung, die er gerade besichtigt, tatsächlich die Beste ist, wenn er keine Vergleichswerte hat, um sie zu beurteilen? Und wie kann er diese Vergleichswerte finden, ohne sich einige Wohnungen anzusehen – und sie sich entgehen zu lassen? Je mehr Information er sammelt, desto eher wird er das beste Angebot erkennen, wenn er es sieht – aber gleichzeitig wird es umso wahrscheinlicher, dass er sich dieses Angebot bereits hat entgehen lassen.
Was soll unser Wohnungssuchender also tun? Wie kann er eine fundierte Entscheidung fällen, wenn sich seine Versuche, sich richtig zu informieren, negativ auf das Ergebnis auswirken? Es ist eine quälende, beinahe paradoxe Situation. Angesichts eines solchen Problems werden die meisten Leute intuitiv erklären, dass man ein Gleichgewicht zwischen ausreichender Suche und Entscheidungsfreudigkeit finden muss – dass man sich genug Wohnungen ansehen muss, um einen Standard definieren zu können, um an diesem Punkt die Erste zu nehmen, die diesem Standard entspricht. Und tatsächlich ist die Idee des Gleichgewichts vollkommen richtig. Aber die meisten Leute können nicht klar bestimmen, worin das Gleichgewicht besteht. Zum Glück gibt es eine Antwort auf die Frage, wo wir es finden können.
Die Antwort ist: 37 Prozent.
Um die größte Chance zu haben, die beste Wohnung zu finden, muss der Wohnungssuchende 37 Prozent der Suche (das heißt elf Tage, wenn er sich einen Monat Zeit dafür gibt) damit verbringen, unverbindlich Optionen zu prüfen. Das Scheckheft kann er in dieser Zeit zu Hause lassen, denn es geht nur darum, seinen Standard festzulegen. Aber wenn er 37 Prozent der Suche hinter sich hat, muss er das Scheckheft mitnehmen und bereit sein, sich augenblicklich für die erste Wohnung zu entscheiden, die besser ist als alle, die er bis dahin gesehen hat. Das ist nicht bloß ein intuitiv befriedigender Kompromiss zwischen unverbindlicher Suche und dem Wagnis der Entscheidung. Es ist die nachweislich optimale Lösung.
Das wissen wir, weil die Wohnungssuche zu einer Kategorie von mathematischen Problemen gehört, die als »optimale Stopp-Probleme« bezeichnet werden. Die 37-Prozent-Regel gibt eine Abfolge einfacher Schritte zur Lösung solcher Probleme vor – die Informatiker bezeichnen dies als »Algorithmus«. Und wie sich herausstellt, ist die Wohnungssuche nur eines von vielen optimalen Stopp-Problemen, die wir im Alltag lösen müssen. Der Frage, ob wir eine von mehreren Optionen wählen oder ausschließen sollen, begegnen wir in unserem Leben immer wieder unter verschiedenen Umständen. Wie oft sollen wir um den Block fahren, bevor wir uns für eine Parklücke entscheiden? Wie lange sollen wir ein riskantes Geschäft fortsetzen, bevor wir unseren Gewinn einstreichen und aussteigen? Wie lange sollen wir auf ein besseres Angebot für unser Haus oder unser Auto warten?
Mit demselben Problem sind wir in einem besonders heiklen Bereich konfrontiert, nämlich bei der Partnersuche. Die optimale Stopp-Theorie ist die Wissenschaft von der Serienmonogamie.
Es gibt einfache Algorithmen, die uns nicht nur bei der Wohnungssuche, sondern in allen Lebenssituationen helfen können, in denen wir mit der Frage konfrontiert sind, welches der geeignete Augenblick ist, um eine Suche zu beenden. Derartige Probleme müssen wir jeden Tag lösen – obwohl die Dichter natürlich mehr über die Irrungen und Wirrungen der Parnersuche als über die Parkplatzsuche geschrieben haben –, und in einigen Fällen quälen wir uns sehr mit der Entscheidung. Aber diese Quälerei muss nicht sein. Zumindest mathematisch sind diese Probleme gelöst.
Jeder gestresste Mieter, Autofahrer und Partnersuchende, den wir in einer normalen Woche in unserer Umgebung sehen, versucht im Grunde, das Rad neu zu erfinden. Diese Leute brauchen keinen Therapeuten, sondern einen Algorithmus.
Der Therapeut sagt ihnen, dass sie das richtige Gleichgewicht zwischen Impulsivität und übermäßiger Grübelei finden sollen.
Der Algorithmus sagt ihnen, dass sie das richtige Gleichgewicht bei 37 Prozent finden.
*
Es gibt einige Probleme, mit denen wir alle konfrontiert sind, Probleme, die direkt der Tatsache entspringen, dass unser Leben räumlich und zeitlich begrenzt ist. Was sollten wir an einem Tag oder in einem Jahrzehnt tun oder nicht tun? Welches Maß an Unordnung ist erträglich, und wie viel Ordnung ist übertrieben? Welches Verhältnis zwischen neuen Erfahrungen und liebgewonnenen Gewohnheiten ist eine Gewähr für ein erfülltes Leben?
Man könnte meinen, derartige Probleme beträfen nur das menschliche Leben, aber das stimmt nicht. Seit mehr als einem halben Jahrhundert ringen die Informatiker mit den Gegenstücken dieser Alltagsprobleme und haben sie in vielen Fällen gelöst. Wie soll ein Computerprozessor seine »Aufmerksamkeit« verteilen, um alle Aufgaben, die ihm der Benutzer stellt, mit möglichst geringem Overhead-Aufwand und in möglichst kurzer Zeit erfüllen zu können? Wann sollte er von einer Aufgabe zur anderen wechseln, und wie viele Aufgaben sollte er überhaupt annehmen? Wie kann er seine begrenzten Speicherressourcen am besten nutzen? Sollte er mehr Daten sammeln oder anhand der Daten, die er bereits hat, eine Entscheidung fällen? Für einen Menschen ist es eine Herausforderung, den Tag richtig zu nutzen, aber Computer sind in der Lage, Millisekunden effizient zu nutzen. Und wir können sehr viel daraus lernen, wie sie das tun.
»Algorithmen fürs Leben« mag wie eine sonderbare Juxtaposition klingen. Viele Leute denken bei dem Wort »Algorithmus« an die unduchschaubare Funktionsweise von Big Data, an obskure Machenschaften eines allmächtigen Staats und großer Unternehmen: Algorithmen sind in ihren Augen ein zentraler Bestandteil der Infrastruktur der modernen Welt, aber kaum eine Quelle praktischer Anleitungen für die Bewältigung des menschlichen Alltags. In Wahrheit ist ein Algorithmus nichts anderes als eine endliche Abfolge von Schritten, die man befolgen muss, um ein Problem zu lösen, und Algorithmen sind sehr viel älter als der Computer und keineswegs auf seine Funktionsweise beschränkt. Algorithmen wurden von Menschen verwendet, lange bevor Maschinen damit zu arbeiten begannen.
Das Wort »Algorithmus« ist vom Namen des persischen Mathematikers al-Chwarizmi abgeleitet, der im 9. Jahrhundert ein Buch über Rechenverfahren schrieb. (Der Titel des Buchs war Hisab Al-dschabr wa’l-muqabala – und das »Al-Dschabr« ist die Quelle unseres Worts »Algebra«.1) Die ältesten bekannten mathematischen Algorithmen sind jedoch deutlich älter als al-Chwarizmis Werk: Auf einer viertausend Jahre alten sumerischen Tontafel, die in der Nähe von Bagdad gefunden wurde, ist eine Methode für die schriftliche Division beschrieben.2
Algorithmen gibt es jedoch nicht nur in der Mathematik. Wenn man ein Brot nach Rezept backt, befolgt man einen Algorithmus. Wenn man einen Pullover nach einem Muster strickt, befolgt man einen Algorithmus. Wenn man einen Feuerstein mit einer Abfolge präziser Schläge mit einem Stück Holz oder einem Geweihstück bearbeitet – ein unverzichtbarer Arbeitsschritt bei der Anfertigung von Steinwerkzeugen –, befolgt man einen Algorithmus, was zeigt, dass Algorithmen seit der Steinzeit ein fester...




