E-Book, Deutsch, Band 26, 592 Seiten
Reihe: Jack Ryan
Clancy / Cameron Gefahr im Verzug
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-641-32783-5
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Thriller
E-Book, Deutsch, Band 26, 592 Seiten
Reihe: Jack Ryan
ISBN: 978-3-641-32783-5
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Es geht um Leben und Tod, als Jack Ryan einen Hilferuf seines alten Freundes Pat West erhält: Dieser wird in Indonesien der Ketzerei verdächtigt und inhaftiert. Sofort beginnt er mit den Vorbereitungen für eine Rettungsmission. Doch sie können nicht auf offiziellem Weg gegen die indonesische Regierung vorgehen. Alle Hoffnung ruht auf dem Campus, der vor Ort nach einer Lösung sucht. Bleibt nur noch das Problem, vor dem Pat West in seiner Nachricht eigentlich gewarnt hat: Um seine eigene Festnahme macht er sich weniger Sorgen als um eine geheimnisvolle KI namens 'Calliope'. Diese scheint über Indonesien in chinesische Hände gefallen zu sein. Die Macht des Programms stellt alles in den Schatten, was sich Jack Ryan und der Campus je hätten vorstellen können.
Marc Cameron ist erfolgreicher amerikanischer Romanautor und Experte für Personenschutz und Selbstverteidigung. Er stand 29 Jahre im Polizeidienst und war im United States Marshals Service auf den Schutz von Würdenträgern spezialisiert.
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1
Wäre die junge Frau an der Bar eine Spur attraktiver gewesen, hätte Geoff Noonan eine Falle gewittert.
»Denk an deine Nummer.« Das sagten sie immer. Ja doch, er kannte seine Nummer auf der Attraktivitätsskala, und das hier würde schon irgendwie klappen.
Die Sicherheitsleute beneideten die anderen um ihre Reisen und ritten bei jedem Meeting auf Akronymen, fragwürdigen Statistiken und blödsinnigen Regeln wie diesem »Denk an deine Nummer«-Schwachsinn herum. Hämisch betonten diese Spaßbremsen, dass eine Fünf in Plymouth auch in Phuket oder Phnom Pen nur eine Fünf bleibe – wie im Übrigen auch überall sonst auf der Welt. Und sie erinnerten gern jeden daran, dass Achten und Neunen nie wie durch ein Wunder versuchten, mit einer Fünf anzubandeln. Niemals. War die Situation zu gut, um wahr zu sein, handelte es sich um eine Falle. Als Software-Ingenieur und -Entwickler war Noonan klug genug, um zu wissen, dass diese Primitivlinge recht hatten, jedenfalls meistens. Manchmal allerdings … Manchmal sprachen die Umstände dagegen. Manchmal war einer scharfen Frau gar nicht bewusst, dass sie eine scharfe Frau war, besonders wenn sie gerade scharf genug war.
Noonan beobachtete, wie die indonesische Schönheit an der Bar ihre Zehen um die Querstrebe des Hockers krümmte, so wie eine Katze mit der Schwanzspitze zuckte, um überschüssige Energie loszuwerden. Das war gut, zugegeben, aber nicht zu gut. Oder doch? Nein. Nicht so gut, wie wenn sie eine Acht oder so was wäre.
Die Magma Lounge des Hilton im indonesischen Bandung war mit überdimensionierten Ledersofas ausgestattet, die Menschen förmlich verschluckten, besonders wenn sie so kurze Beine hatten wie Noonan. Halb versunken zwischen den unglaublich weichen Polstern, dachte er weder an seine schwangere Frau und seine beiden Kinder noch an seinen Schwiegervater, einen Bundesrichter in Hartford. Eigentlich hätten ihn der Gefährlichkeitsgrad seines Tuns und die möglichen Folgen eines Seitensprungs veranlassen sollen, sich die Sache zweimal zu überlegen, nur kamen sie ihm gar nicht erst in den Sinn. Er dachte nur darüber nach, wie er zu gegebener Zeit aufstehen konnte, ohne dabei wie ein Volltrottel auszusehen.
Die Frau an der Bar sah für Noonans Geschmack gut genug aus, allerdings nicht so gut, dass bei ihm die Alarmglocken schrillten. Und hätten sie geschrillt, hätte er sie womöglich gar nicht gehört. Sein Seelsorger von der First Congregational Church in Beacon Hill hatte kürzlich bei einem Eheberatungsgespräch bemerkt, dass Geoff offenbar die Gabe abgehe, im Vorfeld einer moralischen Verfehlung, wie er es nannte, Schuldgefühle zu empfinden – jenes leichte Kribbeln im Nacken, das die meisten Menschen noch rechtzeitig von einem Fehltritt abhält. Noonan besaß durchaus ein Gewissen. Nur dauerte es immer eine Weile, bis es sich meldete. Ganz gleich, was er getan hatte, Augenblicke später versank er in Schuldgefühlen. Nur konnte er sich beim nächsten Mal offenbar nicht mehr daran erinnern, und diese Gedächtnisschwäche handelte ihm ständig Ärger ein.
Wieder fing er den Blick der Frau auf.
Im Moment sah der Ärger verdammt hübsch aus.
Ihr honigfarbener Teint und ihre makellosen Gesichtszüge ließen vermuten, dass sie Sundanesin war, also der in Bandung und West-Java vorherrschenden Ethnie angehörte. Von Indonesiern war oft zu hören, dass Sundanesen die attraktivsten Menschen ihres Landes seien. Noonan konnte das nicht beurteilen, doch er musste zugeben, dass er nicht viele hässliche Frauen gesehen hatte, seit er vor fünf Tagen mit seinen Bossen zur Computerspielmesse nach Jakarta gekommen war. Bandung war sogar noch besser – und schlimmer, aber hauptsächlich besser.
Blaue Augen und strohgelbe Strähnen im dunklen Haar der Frau ließen vermuten, dass sie mehr als nur ein paar holländische Zweige in ihrem Stammbaum hatte – eine Hinterlassenschaft niederländisch-ostindischer Plantagenbesitzer, die neben Tee auch Chinarindenbäume kultivierten, aus denen bis heute Chinin gewonnen wurde. Ihr hautenges, feuerwehrrotes Kleid war schulterfrei und herzförmig ausgeschnitten. Die verführerischen, faustgroßen Rundungen des Dekolletés bildeten einen reizvollen Kontrast zu der nervösen Art, mit der sie die Zehen des einen zierlichen Fußes krümmte und von der Spitze des anderen einen Schuh baumeln ließ.
Noonan rutschte aus den Tiefen der Polsterung nach vorn und nahm von dem Kellner seinen dritten Dirty Martini des Abends entgegen. Er erhob das Glas in Richtung der Frau. Riskante Sache, so ein Zuprosten aus der Entfernung. Es bestand die Gefahr, dass sie jemanden oder etwas hinter ihm ansah. Noonan hielt den Atem an, bis sie die Geste mit ihrem Drink erwiderte – Fruchtsaft, wie es aussah. Was ihn nicht überraschte, denn die meisten Sundanesen waren Muslime. Er fragte sich, ob ihre Religion sie davon abhalten würde, sich in einer Bar mit einem Fremden einzulassen. Vielleicht war sie ja nur hier, um sich mit einer Freundin zu treffen.
Er würde es gleich erfahren.
Sie war aufgestanden und kam über den geblümten Teppich auf ihn zugeschlendert. Das rote Kleid umschmiegte so eng ihren Bauch, dass er die Vertiefung ihres Nabels unter dem Stoff erkennen konnte. Ihre Nervosität war wie weggeblasen. Ihr Gang wirkte selbstsicher, jedoch nicht eingebildet, als wäre sie sich ihrer Attraktivität bewusst, hätte aber nicht die Absicht, sie als Waffe einzusetzen. Noonan warf einen Blick über die Schulter, nur um sicherzugehen. Er wollte nicht wie ein Idiot dastehen, wenn er sich erhob, um sie zu begrüßen, und sie an ihm vorbeirauschte, um mit einer Freundin zu sprechen, die sie am anderen Ende der Bar entdeckt hatte.
Aber da war niemand, und das versetzte Geoff Noonan einen Adrenalinstoß, der ihn vom Scheitel bis in die Zehenspitzen durchzuckte. Es konnte tatsächlich klappen.
Noonan war selbstkritisch genug, um zu wissen, dass er bestenfalls eine Sechs war. Die Frauen im Büro nannten ihn den Giftzwerg, was er unfair fand, denn mit seinen 1,70 Meter war er doch gar nicht so klein. Er vermutete, dass es mehr mit den Witzen zu tun hatte, die er im Pausenraum erzählte.
Er stand auf, als die Frau auf halber Strecke zu ihm war. Sie war eine solide Sieben, etwas zu schmal in den Hüften für seinen Geschmack und obenrum nicht ganz so gut bestückt, wie er es eigentlich mochte, aber doch, eine Sieben. Eine Sieben, die sich mit einer Sechs einließ. Das konnte klappen. Außerdem war er Amerikaner. Das war doch einen Zusatzpunkt wert. Oder? Vielleicht wollte sie sich nur zu einem Drink einladen lassen und dabei ihr Englisch üben, aber selbst das wäre besser, als nach einem Tag wie heute allein in einer Bar rumzuhocken.
Etwas weit Angenehmeres als Schuldgefühle regte sich in seinem Inneren.
Zwei Wochen zuvor war Geoff Noonan noch ein brillanter, wenn auch etwas verschrobener Software-Entwickler bei Parnassus Games in Boston gewesen, der sich damit zufriedengab, am Computer zu zocken und sich vielleicht mal in ein Striplokal am Boston Common zu schleichen, wenn seine Frau bei einer Schwangerschaftsuntersuchung war. Obwohl kein Mann mit übermäßigen Skrupeln, hätte er bis vor Kurzem niemals auch nur in Erwägung gezogen, seine Firma an den Höchstbietenden zu verraten.
Alles änderte sich, als Todd Ackerman mit dem Fahrrad verunglückte und sich beide Beine brach. Eigentlich hätte Ackerman die Tech-Konferenz in Jakarta besuchen sollen, doch wegen des Unfalls hatte Noonan für ihn einspringen müssen. Sie hatten zusammen mehrere Sachen entwickelt, die ihnen die Aufmerksamkeit der Bosse eingetragen hatten. Doch sah man einmal von ihrer Expertise im Bereich Computerspiele ab, hätten die beiden Software-Entwickler nicht unterschiedlicher sein können. Ackerman war am College ein Baseball-Star gewesen, Noonan dagegen immer der Letzte, der in ein Team gewählt wurde, und nicht nur im Sport. Ackerman liebte Konferenzen in fernen Ländern. Noonan bekam Durchfall von ungewohnter Kost. In Menschenmengen hatte er das Gefühl, keine Luft zu kriegen. Ackerman war Kanadier – und die galten ja als umgänglich – und lächelte mehr, als ein normaler Mensch eigentlich lächeln sollte. Die Bosse mochten ihn, tranken mit ihm, spielten mit ihm Golf. Noonan tolerierten sie, weil er ein brillanter Kopf war. Hätten sie einen der beiden Entwickler der Firmenspionage verdächtigt, dann ohne jeden Zweifel Noonan. Er war wortkarg und verklemmt, und wenn er mal lachte, dann meist über seine eigenen schmutzigen Witze.
Niemand verdächtigte Ackerman. Er war ein netter Typ.
Ackerman war es gewesen, der den Abstecher nach Bandung im Anschluss an die Konferenz organisiert hatte, um sich mit dem Vertreter einer aufstrebenden indonesischen Gaming-Firma zu treffen. Ackerman hatte die ausländischen Bankkonten eingerichtet, Alibis gezimmert, einen Fluchtplan geschmiedet – alles. Noonan war sich darüber im Klaren, dass er an dem Geschäft nicht beteiligt worden wäre, wenn Ackerman sein Fahrrad nicht geschrottet hätte. Er war ein notwendiges Übel – und jetzt ein reiches notwendiges Übel.
Zuerst hatte er gezögert, nicht weil er Skrupel hatte, sondern weil er eine Falle vermutete. Doch als ihm Ackerman eröffnete, um wie viel Geld es dabei ging, brauchte er nicht mehr lange zu überlegen. Er würde die bescheuerte Konferenz besuchen, sich anschließend mit dem Käufer treffen und die Hälfte von fünfundzwanzig Millionen Dollar einstreichen. Nicht schlecht. Seine Frau ging jeden Sonntag in die Kirche, obwohl sie nach allem, was er wusste, keine einzige Sünde zu beichten hatte. Selbst sie würde das mit den zwölfeinhalb Millionen verstehen,...