E-Book, Deutsch, 190 Seiten
Coloane Kap Hoorn
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-293-30324-9
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Reisebericht
E-Book, Deutsch, 190 Seiten
ISBN: 978-3-293-30324-9
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Francisco Coloane, geboren 1910 auf der Insel Chiloé als Sohn eines Walfänger-Kapitäns, hörte schon als Kind die Geschichten der Indianer. Mit seinen Erzählungen, in denen er Feuerland und Patagonien für die Literatur entdeckt hat, wurde er zu einem der bekanntesten Schriftsteller Lateinamerikas. 1964 wurde er mit dem Premio Nacional de Literatura, dem großen Literaturpreis Chiles, ausgezeichnet. Francisco Coloane starb 2002 in Santiago de Chile.
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Kap Hoorn
Die Westküste Feuerlands zerbröckelt in zahlreiche Inseln, zwischen denen sich geheimnisvolle Kanäle schlängeln, die sich am Ende der Welt in der »Teufelsgruft« verlieren.
Seeleute aus allen Breiten versichern, dass dort, eine Meile vor jenem schicksalsträchtigen Vorgebirge, das am Kap Hoorn das ewige Duell der beiden größten Ozeane der Welt sekundiert, der Teufel mit tonnenschweren Fesseln angekettet ist, die er in fürchterlichen Sturmnächten, wenn Wassermassen und dunkle Schatten sich bäumen und vom Himmel in abgründige Tiefen zu stürzen scheinen, hinter sich herschleppt und dabei die Fußeisen auf dem Meeresgrund klirren lässt.
Bis vor ein paar Jahren wagten sich nur kühne Pelztierjäger und Robbenfänger in diese Gegenden, Menschen verschiedenster Rassen, mutige Männer, deren Herz nichts anderes war als eine zusätzliche geballte Faust. Einige sind ihr Leben lang nicht mehr von diesen Inseln losgekommen. Andere, Namenlose, die anscheinend von der Geißel des Hungers von Osten nach Westen getrieben werden, gelangen hin und wieder in diese unwirtlichen Regionen, wo Schneestürme jäh über sie herfallen und ihre Seele zerhacken, bis sie nur noch eine Klinge ist, hart und kalt wie ein Eiszapfen.
Auch bei blutigen Gefängnisausbrüchen entkommene Sträflinge sind auf den Inseln untergetaucht, manchmal bei den Indianern. Männer, die sich den Weg freigeschossen haben und sich überall dort, wo der Arm des Gesetzes hinreicht, nicht mehr blicken lassen können, denn wo die Kanäle enden, befindet sich ein Ort von finsterer Berühmtheit: das Zuchthaus von Ushuaia.
Unter diesem Himmelsstrich darf sich der Mensch über nichts wundern: dass eine Nussschale mit vier Matrosen in See sticht und mit dreien zurückkehrt; dass ein Kutter mitsamt Besatzung spurlos verschwindet und der seltsamen Dinge mehr. Über nichts darf er sich wundern, wenn Gold und Felle gleichmäßig unter den Männern der Besatzung aufgeteilt werden.
Wo die Kanäle enden, in der Nähe von Kap Hoorn, liegt die Insel Sunstar. Die einzigen Bewohner dieser Insel, Jackie und Peter, sitzen in der endlosen Dezemberdämmerung auf der Schwelle ihrer aus rohen Baumstämmen gezimmerten, aus zwei Räumen bestehenden Hütte; auf dem Dach wachsen gelblich grüne Flechten und Moose – wie ein sprödes Lächeln dieser rauen Landschaft – dem Himmel entgegen, der, unheildrohend, den meisten Teil des Jahres seinen Schnee auf ihr ablädt.
Die Jäger behaupten, sie seien Brüder, doch Genaues weiß niemand; und von ihnen selbst ist nichts zu erfahren, weil sie den Mund nur aufmachen, um zu fluchen oder ihr Essen zu verschlingen.
Jackie hat das ausdruckslose Gesicht eines Säuglings; er ist von normaler Statur, mit einem funkelnden Glanz in den hinter wimpernlosen, geröteten und geschwollenen Lidern tiefliegenden Augen, sodass er manchmal einem großen Fötus oder einer weißlichen Robbe gleicht.
Peter ist anziehender; er hat die verschlagenen Züge eines Fuchses, eines trägen Raubtiers. Auf den ersten Blick wirkt er sanftmütig, doch sein von der Sonne gebleichtes Flachshaar weist ein paar dunklere Strähnen auf, die, ohne dass man zu sagen wüsste, warum, auf etwas Gemeines, Aggressives hinweisen, was sich unter seiner scheinbaren Sanftmut verbirgt.
Es heißt, sie hätten ein paar Pfund Sterling zurückgelegt und würden weitersparen, um in ihr Land zurückzukehren. In welches Land? Woher sind sie gekommen?
In diesen Regionen gibt es viele Männer, deren Herkunft niemand kennt und von denen niemand weiß, wo sie einmal enden werden. Sie scheinen der Erde selbst entstiegen zu sein, den einzigartigen einsamen Gewässern am äußersten Breitenkreis.
Sie sprechen eine kehlige Mischung aus Spanisch und Englisch. Die Einsamkeit und ihr Umgang mit den Indianern haben sie der Gabe beraubt, Gedanken zu spinnen und lange Sätze zu formulieren. Ihre Sprache ist abgehackt und schwer verständlich für zivilisiertere Menschen, die auf der Suche nach den begehrten Fellen die Magellanstraße hinunterfahren.
Die beiden haben etwas Fisch gegessen und sitzen nun auf der Türschwelle, ruhen sich mitten am Nachmittag aus, der um sie herum mit den ungewöhnlichsten Farbspielen des australen Sonnenuntergangs schon zur Neige geht.
Vor ihnen liegen, still und tief, die Gewässer des Kanals. Am Ufer der mit Südbuchen gesäumten Buchten ist das Wasser dunkler, und es ist, als schwebten unheimliche schwärzliche Dunstschleier über der glatten Oberfläche.
Die Stille ist vollkommen, regungslos und kalt.
Jackie reißt gähnend seinen Robbenkiefer auf, stützt den Kopf in die Hand und starrt zu einem verschneiten Berggipfel in der Ferne hinauf, nur um den Blick auf irgendetwas ruhen zu lassen, und nicht etwa aus dem Bedürfnis heraus, die Schönheit der Natur zu genießen.
Mit einem Mal schaut er gespannt auf, lauscht einem Geräusch, das vom nahen Ufer kommt. Zuerst ist es ein Plätschern, wie wenn ein Otter aus dem Wasser steigt und über die Klippen klettert; danach ist es das leise Eintauchen von Rudern.
Aus Jägergewohnheit holt Jackie eine Winchester aus der Hütte und bleibt in der Tür stehen. Peter ist ebenfalls aufgestanden und blickt zum Ufer hinüber.
Nach einer Weile verstummt das leise Plätschern, kurz darauf hört man etwas durch das Unterholz des Buchenwäldchens brechen, das die Hütte auf der einen Seite umgibt. Eindeutig: Zwischen den dicht belaubten niedrigen Buchen nähert sich jemand.
Jackie stellt missmutig das Gewehr hinter die Tür: In der Gegend benutzt von Mann zu Mann niemand eine Waffe. Niemand benutzt eine Waffe, weil eine Kugel soviel wert ist wie das Fell eines Seehundes oder eines Otters. Und wenn einer das lästige Aufteilen der Felle umgehen will, dann entledigt er sich auf andere Weise seines Partners, lässt ihn auf einer einsamen Felseninsel mitten im Meer zurück oder begnügt sich mit einem kleinen Stoß an der Reling des durch die windstille Nacht tuckernden Kutters.
Ein brauner Fleck tauchte zwischen dem Grün der Zweige auf, und ein gebückter Mann in nassen, zerrissenen Kleidern kam wie ein geprügeltes Tier, das einem Tümpel entsteigt, über die kleine Pampalichtung auf sie zu.
Die Brüder wechselten einen kurzen Blick. Der Mann blieb ein paar Schritte vor ihnen stehen; er war hoch gewachsen, hager und würdevoll, obwohl völlig heruntergekommen, mit schwarzen Stoppeln im Gesicht und einem buschigen Schnauzbart. Er hob den Kopf und sagte schwankend und mit seltsam flehendem Blick: »Etwas zu essen … Ich bin aus Ushuaia geflohen …«
Seine Stimme klang heiser, als hätte er sie während der tagelangen Flucht nicht benützt und sie hätte daher ihren Klang verloren.
Peter – der mit den dunklen Strähnen im flachsigen Haar – schüttelte den Kopf, zeigte mit der ausgestreckten Hand in die Richtung, woher der Mann gekommen war, und stieß knurrend hervor: »Los! Hau ab! Verschwinde!«
Der Mann bettelte nicht, er wusste, dass er unwillkommen war. Als er sich zum Gehen wandte, fiel sein Blick auf einen Stoß an der Hüttenwand gestapelter Jungrobbenfelle.
Die von den Jägern begehrtesten Felle sind die der Pelzseehunde, obwohl es den europäischen Pelzwarenherstellern inzwischen gelungen ist, mit den Bälgen junger Robben, die in der ersten Lebenswoche getötet und innerhalb von vierundzwanzig Stunden gehäutet werden, das feine Fell täuschend ähnlich zu imitieren. Die Babyrobbenfelle werden »Popis« genannt, und die Aufkäufer in den Magallanes zahlen vierzig bis fünfzig Pence das Stück. In den arktischen Regionen gibt es Jungrobben im Überfluss. Sie sind schwierig zu jagen, weil die Weibchen an unzugänglichen Stellen gebären und der Robbenschlag innerhalb einer Woche nach dem Werfen abgeschlossen sein muss.
»Ihr jagt Popis?« sagte der Flüchtige mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln. »Ich kenne eine Höhle, einen riesigen Wurfplatz, wo es mehr Popis gibt, als man jagen kann.«
Peters Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen gleich dem dunklen Sumpf, der in silberheller Nacht wie eine Quelle aufleuchtet.
»Vorher aber etwas zu essen! Ich bin halb tot vor Hunger«, bat der Flüchtige.
»Sag uns zuerst, wo die Wurfhöhle liegt!« rief Jackie.
»Habt ihr schon einmal von der Vogelinsel gehört?«
»Aber klar, die kennt doch jeder. Natürlich wissen wir, dass es dort eine Wurfhöhle gibt und dass niemand auf diese verdammte Insel kommt, weil der Höhleneingang direkt am Ozean, hinter Klippen und Riffen liegt.«
»Genau«, sagte der Flüchtige zufrieden. »Niemand ist bisher hineingekommen; aber wo es Vögel gibt, gibt es Robben, und wo es Robben gibt, gibt es Fische. Kurz bevor man ins offene Meer gelangt, kommt man an einer Bucht vorbei; an der Stelle, wo ganze Robbenherden schwimmen und sich im Wasser tummeln, gibt es einen verborgenen Zugang.«
»Gut, kannst bleiben, Mann«, lächelte Peter hinterhältig.
Der Mann aß etwas Trockenfisch und Reste vom gerösteten Fleisch und richtete sich zum Schlafen ein paar Felle hinter der verwahrlosten schimmeligen Küche.
Die Gringos legten sich auf ihre aus rohen Buchenbrettern gezimmerten Pritschen an der Wand, die zum Schutz vor Wind und Schnee mit Werg und vermoderten Fellresten abgedichtet war.
Wieder herrschte...




