E-Book, Deutsch, Band 2, 464 Seiten
Reihe: Ein Fall für Harry Bosch
Connelly Schwarzes Eis
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-311-70272-6
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der zweite Fall für Harry Bosch
E-Book, Deutsch, Band 2, 464 Seiten
Reihe: Ein Fall für Harry Bosch
ISBN: 978-3-311-70272-6
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Michael Connelly ist mit über 89 Millionen verkauften Büchern in 45 Sprachen einer der US-amerikanischen Krimi-Superstars. 1956 geboren, wuchs er in Florida auf, wo er als Journalist arbeitete, bis ihn die Los Angeles Times als Gerichtsreporter in die Stadt holte, in der sein literarisches Idol Raymond Chandler seine Romane spielen ließ, was Connelly ihm später gleichtun sollte. Im Kampa Verlag erscheinen neben den Fällen des legendären Ermittlers Harry Bosch und der Nachtschicht-Detective Rene?e Ballard auch Connellys Romane mit Jack McEvoy und Michael »Mickey« Haller. Connelly lebt in Kalifornien und in Florida.
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1
Der Rauch stieg über dem Cahuenga-Pass senkrecht nach oben und kroch dann unter einer Schicht kühler Luft in die Breite. Von der Stelle, wo Harry Bosch stand, sah die Rauchsäule wie ein grauer Amboss aus, der sich über dem Pass erhob. Die späte Nachmittagssonne verlieh dem Grau einen rosa Stich, nach unten hin wurde es zu einem tiefen Schwarz, das aus einem Buschfeuer quoll, welches sich den Abhang auf der Ostseite des Passes hinaufbewegte. Er schaltete seinen Funk-Scanner auf die Koordinationsfrequenz für Notfalleinsätze in Los Angeles County und hörte zu, wie die Einsatzleiter von Feuerwehrtrupps ihrer Zentrale berichteten, dass in einer Straße schon neun Häuser niedergebrannt seien und dass die Häuser der nächsten Straße genau in der Bahn des herankommenden Feuers lägen. Das Feuer bewege sich auf die freien Abhänge im Griffith Park zu, wo es für Stunden wüten könnte, bevor es unter Kontrolle zu bringen sei. Bosch hörte die Verzweiflung in den Stimmen der Männer.
Er beobachtete eine Staffel von Hubschraubern, die aus der Entfernung wie Libellen aussahen, wie sie sich in den Rauch hineinstürzten und wieder auftauchten, Wasser und rosa Feuerlöschmittel über brennenden Häusern und Bäumen abließen. Es erinnerte ihn an die Entlaubungsaktionen in Vietnam. Der Lärm, das unkontrollierte Auf und Ab, das Hin und Her der überladenen Maschinen. Er sah das Wasser auf die brennenden Dächer stürzen, sah den Dampf, der schlagartig aufstieg.
Sein Blick glitt vom Feuer nach unten in das verdorrte Buschwerk, das sich den Hügel hinunterzog und die Pfeiler umgab, die sein eigenes Heim am Abhang der Westseite des Passes abstützten. Er sah Gänseblümchen und Wildblumen im Dickicht. Aber nicht den Kojoten, den er in den letzten Wochen beobachtet hatte, wie er in dem ausgetrockneten Bachbett unter seinem Haus auf Futtersuche ging. Ab und zu hatte er dem Aasfresser Hähnchenstückchen zugeworfen, aber das Tier hatte das Futter nicht angerührt, solange Bosch zuschaute. Erst wenn Bosch von der Veranda wieder hineinging, würde das Tier hervorkriechen und die Gaben annehmen. Harry hatte den Kojoten wegen seiner Scheu auf den Namen Timido getauft. Manchmal hörte er spät in der Nacht sein Heulen, wie es vom Pass zurückschallte.
Er sah wieder zum Feuer hinüber, und im gleichen Moment gab es eine laute Explosion. Eine dichte Kugel schwarzen Rauchs drehte sich in dem grauen Amboss nach oben. Auf dem Scanner überschlugen sich die Stimmen vor Aufregung, und ein Feuerwehrmann meldete, dass der Propangasbehälter eines Grills in die Luft geflogen sei.
Harry schaute zu, wie der dunklere Rauch in der größeren Wolke aufging, und schaltete dann den Scanner zurück auf die allgemeine Polizeifrequenz von Los Angeles. Er hatte heute Einsatzbereitschaft. Weihnachtsdienst. Eine halbe Minute hörte er zu, vernahm aber nichts außer normalem Funkverkehr. Es schien eine ruhige Weihnacht in Hollywood zu sein.
Er schaute auf die Uhr, nahm den Scanner mit hinein, zog das Blech aus dem Backofen und ließ sein Weihnachtsdinner, gebratene Hühnerbrust, auf einen Teller rutschen. Dann nahm er den Deckel von einem Topf mit gedünstetem Reis und Erbsen und schüttete sich eine große Portion auf den Teller. Sein Essen brachte er zu einem Tisch im Esszimmer, wo schon ein Glas mit Rotwein stand, direkt neben drei Briefkarten, die schon Anfang der Woche gekommen waren, die er aber nicht geöffnet hatte. Im CD-Player lief Coltranes Arrangement von »Song of the Underground Railroad«.
Während er aß und trank, öffnete er die Karten, überflog sie kurz und dachte an die Absender. Es war das Ritual eines Mannes, der allein war. Ihm war das klar, aber es störte ihn nicht. Er hatte Weihnachten oft genug allein verbracht.
Die erste Karte war von seinem früheren Partner, der sich mit Buch- und Filmtantiemen zur Ruhe gesetzt hatte und nach Ensenada gezogen war. Auf der Karte stand, was immer auf Andersons Karten stand: »Harry, warum ziehst Du nicht hierher?« Die nächste kam ebenfalls aus Mexiko, von dem Typ, bei dem er sechs Wochen im vorigen Sommer in Bahia San Felipe gewohnt, mit dem er gefischt und Spanisch geübt hatte. Bosch hatte sich von einer Schusswunde in der Schulter erholt. Die Sonne und die Seeluft halfen ihm, sich auszukurieren. In seinem Weihnachtsgruß auf Spanisch lud ihn Jorge ein wiederzukommen.
Die letzte Karte öffnete Bosch langsam und vorsichtig. Er wusste, von wem sie war, bevor er die Unterschrift sah. Sie war in Tehachapi abgestempelt worden. Das genügte ihm. Jemand hatte sie mit der Handpresse auf dem grauweißen Papier der Recyclingmühle des Gefängnisses gedruckt, und die Krippenszene darauf war etwas verschmiert. Die Karte stammte von einer Frau, mit der er eine Nacht verbracht hatte, an die er aber in mehr Nächten dachte, als er zählen konnte. Auch sie wollte, dass er sie besuchte. Aber sie wussten beide – er würde es nie tun.
Er trank etwas Wein und steckte sich eine Zigarette an. Coltrane war jetzt mit der Live-Aufnahme von »Spiritual« zu hören. Sie war im Village Vanguard in New York aufgenommen worden, als Harry noch ein Kind gewesen war. Aber dann zog der Radio-Scanner – er murmelte immer noch leise auf dem Tisch neben dem Fernseher vor sich hin – seine Aufmerksamkeit auf sich. Polizeifunk-Scanner waren schon so lange die Hintergrundmusik seines Lebens, dass er das Gequassel ignorieren und sich auf das Saxophon konzentrieren konnte und dabei immer noch die Worte und Codes wahrnahm, auf die es ankam. Was er hörte, war eine Stimme, die sagte: »Eins-K-Zwölf, Personal Zwei braucht Ihre zwanzig.«
Bosch stand auf und ging hinüber zum Scanner, als ob der Funkspruch klarer würde, wenn er das Gerät ansähe. Er wartete zehn Sekunden, dass jemand auf die Aufforderung reagierte. Zwanzig Sekunden.
»Personal Zwei, Standort ist das Hideaway, Western südlich von Franklin. Zimmer sieben. Ah, Personal Zwei sollte eine Maske mitbringen.«
Bosch wartete auf mehr, aber das war’s. Der angegebene Standort, Western und Franklin, lag innerhalb der Grenzen des Polizeibezirks Hollywood. Eins-K-Zwölf war der Funkcode für einen Detective vom Downtown-Hauptquartier im Parker Center. Genauer gesagt, vom Raub-Mord-Dezernat. Personal Zwei war der Code für einen Deputy Chief. Es gab nur drei bei der Polizei von Los Angeles, und Bosch war sich nicht sicher, wer davon Personal Zwei war. Aber das war nicht wichtig. Die Frage war, was würde einen der ranghöchsten Männer der Polizei am Weihnachtsabend herauslocken?
Eine zweite Frage beschäftigte Harry noch intensiver. Wenn der Detective von Raub-Mord schon vor Ort war, warum hatte man dann ihn selbst – den Bereitschaftsdetective für Hollywood – von dem Fall nicht als Ersten benachrichtigt? Er ging in die Küche, stellte seinen Teller ins Spülbecken, wählte die Nummer des Reviers an der Wilcox Avenue und ließ sich den wachhabenden Commander geben. Ein Lieutenant namens Kleinman hob ab. Bosch kannte ihn nicht. Er war neu, versetzt vom Polizeibezirk Foothill.
»Was ist los?«, fragte Bosch. »Ich hab auf dem Scanner etwas über eine Leiche Nähe Western und Franklin gehört, und niemand hat mir was davon gesagt. Komisch, weil ich nämlich Bereitschaft habe.«
»Mach dir keine Sorgen«, sagte Kleinman. »Die Hüte haben das Ding schon im Sack.«
Kleinman musste ein Oldtimer sein, vermutete Bosch. Er hatte die Bezeichnung schon seit Jahren nicht mehr gehört. Mitarbeiter vom Raub-Mord trugen in den vierziger Jahren Bowlerhüte aus Stroh. In den Fünfzigern waren es graue Fedoras. Danach waren Hüte out – uniformierte Polizisten nannten Raub-Mord-Detectives jetzt »Anzüge«, nicht mehr »Hüte«. Out waren aber nicht die Spezialisten vom Raub-Mord. Die dachten immer noch, sie wären Spitze, hochgestellt wie ein Katzenarsch. Bosch hatte die Arroganz des Dezernats gehasst, sogar als er selbst dazugehört hatte. Hier im Bezirk Hollywood, der Kloake von L.A., war niemand eingebildet. Das war ein Vorteil, wenn man hier arbeitete. Es war Polizeiarbeit, sonst nichts.
»Worum geht’s?«, fragte Bosch.
Kleinman zögerte ein paar Sekunden, dann sagte er: »Wir haben eine Leiche in einem Motelzimmer an der Franklin Avenue. Sieht aus wie Selbstmord. Aber RM übernimmt – das heißt, sie haben’s schon übernommen. Es geht uns nichts mehr an. Und das kommt von ganz oben, Bosch.«
Bosch sagte nichts. Er überlegte einen Moment. RM setzte sich in Bewegung wegen eines Weihnachtsselbstmords? Das machte keinen … Dann wurde es ihm schlagartig klar.
Calexico Moore.
»Wie alt ist das Ding?«, fragte er. »Ich hab gehört, Personal Zwei soll eine Maske mitbringen.«
»Überreif. Sie haben gesagt, es soll ein richtiger Kartoffelkopf sein. Das einzige Problem ist, dass nicht viel vom Kopf übrig ist. Sieht aus, als ob er sich beide Läufe einer Schrotflinte in den Mund geschoben hätte. Das hab ich wenigstens auf der RM-Frequenz gehört.«
Sein Scanner konnte die RM-Frequenz nicht empfangen, deshalb hatte er den ersten Funkverkehr in der Sache nicht mitbekommen. Die Anzüge hatten anscheinend nur die Frequenz gewechselt, um dem Fahrer von Personal Zwei die Adresse durchzugeben. Andernfalls hätte Bosch erst am nächsten Morgen auf dem Revier von dem Fall erfahren. Er wurde wütend, ließ es sich aber nicht an der Stimme anmerken. Zunächst wollte er so viel wie möglich aus Kleinman herausholen.
»Es ist Moore, nicht wahr?«
»Sieht so aus«, sagte Kleinman. »Seine Dienstmarke liegt dort auf der Kommode. Brieftasche. Aber wie ich schon gesagt habe, niemand wird...




