E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Cueto Die blaue Stunde
1. Auflage 2010
ISBN: 978-3-8270-7301-3
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
Roman
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-8270-7301-3
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
Der erfolgreiche Anwalt Adrián Ormache findet nach dem Tod seiner Mutter heraus, dass sein Vater in den achtziger Jahren, als der »Leuchtende Pfad« seinen Guerillakrieg gegen den Staat führte, eine Militärkaserne leitete - brutal und erbarmungslos. In eine seiner Gefangenen jedoch verliebte er sich und lebte mit ihr in einem Zimmer, statt sie, wie üblich, an seine Soldaten »weiterzureichen«. Bis ihr eines Tages die Flucht gelang. Adrián begibt sich auf die Suche nach der früheren Geliebten seines Vaters. Konfrontiert mit der Vergangenheit, werden ihm seine Heimat und sogar sein eigenes Leben zusehends fremd. Alonso Cueto, einer der wichtigsten Schriftsteller der lateinamerikanischen Gegenwartsliteratur, beschreibt die Folgen von zehn Jahren Bürgerkrieg und Terror in Peru.
Alonso Cueto wurde 1954 in Lima, Peru, geboren. Er wurde vielfach ausgezeichnet und erhielt für »Die blaue Stunde« (2005) den renommierten spanischen Premio Herralde. Im Februar 2008 erschien sein Roman »Das Flüstern der Walfrau«.
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I
Kurz bevor diese Geschichte begann, veröffentlichte die Zeitschrift Cosas in ihren Gesellschaftsnachrichten ein Foto von mir. Es war ein rechteckiges Foto, das die ganze Seite einnahm. Ich blickte lächelnd direkt in die Kamera. Mein Kopf war erhoben, mein Sakko glänzte, und einige Finger von mir waren auf der Schulter meiner hübschen Frau Claudia zu sehen. Ich sah gut aus mit dieser Mischung aus Spontaneität und Eleganz, die so mancher von uns an den Tag zu legen versteht, wenn ein Fotograf in der Nähe ist. Meine Krawatte war fest geknüpft, das Haar sorgsam zerzaust, und das Band einer seit fünfzehn ruhigen Jahren bestehenden Ehe umschloss eng meinen Ringfinger. Neben mir Claudia und mein Geschäftspartner Eduardo und seine Ehefrau Milagros; alle vier schauten wir in die Linse, mit Whiskygläsern wie Ehrenzeichen, eingehüllt in die wohlwollende Arroganz unseres Lächelns, als hätten wir gerade einen Preis als glücklichste Paare des Abends erhalten. Einige Tage darauf reichte Claudia mir beim Frühstück die Zeitschrift mit dem Foto. Wenig später rief meine Schwägerin mich im Büro an. »Ihr seht wunderschön aus«, bemerkte sie. Es schmeichelte mir, aber es wunderte mich nicht, dass das Foto größer war als die anderen auf derselben Seite. Zu jener Zeit sah ich mich oft und immer gut getroffen, glaube ich. Die Gegebenheiten des Lebens waren günstig für mich, um es so zu sagen. Ich war zweiundvierzig Jahre alt. Ich verdiente neuntausend Dollar im Monat. Ich wog achtzig Kilo, ein gutes Gewicht für meine Körpergröße von einszweiundachtzig. Ich ging jeden Tag eine Stunde ins Fitnessstudio. Außerdem war ich Gesellschafter einer Anwaltskanzlei, die über einen Kreis von hundert guten Klienten verfügte. Ich hatte viel Arbeit, aber auch große Unterstützung in der Kanzlei. Damals war es, als irgendein Freund mir einmal in vorwurfsvollem Ton sagte, ich käme ihm jeden Tag zufriedener vor. Der Anwaltsberuf ist von jeher meine Berufung gewesen. In der Schule hatte ich einmal einen Aufsatz mit dem Titel »Das Recht im Alltag« geschrieben. Der Hauptgedanke dieses Textes war, dass jede soziale Beziehung, einschließlich Liebe und Freundschaft, auf einem stillschweigenden Pakt beruht. Eltern, Kinder, Eheleute, Verliebte, Freunde, Geschwister einigen sich, ohne es ausdrücklich festzulegen, über ihr Verhalten. Wenn jemand sich nicht an den geltenden Vertrag hält, wenn jemand sein bisheriges Verhalten verändert, wird er dem Versprechen untreu, das er der Beziehung gegeben hat, das heißt, er bricht seinen Vertrag. Das Recht gründet auf den menschlichen Beziehungen. Oder zumindest glaubte ich das damals. Doch als Kind interessierte mich nicht nur das Recht. In meinem Kopf spukte auch die Idee herum, zu schreiben. Einmal versuchte ich mich an einem romantischen Abenteuerroman. Seit einigen Wochen habe ich nun an meine gescheiterte schriftstellerische Berufung gedacht. Ich habe daran gedacht, weil ich diese Geschichte erzählen wollte. Ich weiß nicht, warum. Es schützt mich, dass ich nicht das Gesicht desjenigen sehe, der dies liest (es gibt einen Autor, der beauftragt ist, diesem Buch seinen vermaledeiten Stil und seinen Namen zu leihen). Ich werde mir den Namen Adrián Ormache geben. Trotzdem werden manche erraten, wer ich bin. Sie werden mich oder meine Frau Claudia erkennen. Meine Frau Claudia. Seltsam, sie so zu nennen. Wie eine Fremde. Ihr wogender Name erinnerte mich an die Form eines Regenbogens, oder zumindest habe ich ihr das gesagt, als ich sie vor zwanzig Jahren auf einem Fest kennenlernte; das Kompliment war dumm, aber ihr gefiel es. In der Zeit, in der diese Geschichte begann, war Claudia eine vorbildliche Gefährtin. Sie kleidete sich gut, sie begleitete mich zu den Cocktailpartys, und sie hatte sich mit den Ehefrauen der anderen Anwälte angefreundet. Eine bessere Ehefrau kannst du nicht haben, sagte meine Schwiegermutter. Sie hatte recht. Mit ihren Kostümen und ihren Umgangsformen machte Claudia immer eine gute Figur bei Freunden und Bekannten. Sie richtete lange, exquisite Abendessen bei uns zu Hause aus, bei denen der Tisch reich mit Fleisch, Salaten und Desserts gedeckt war. Die wichtigen Anwälte – Muñiz, del Prado, Rodrigo – blieben bis spät am Abend mit ihren Frauen da und verabschiedeten sich immer mit einer Umarmung von uns. So war es auch bei einigen Politikern: Ferrero, Lourdes Flores, das eine oder andere Mal Belaúnde höchstpersönlich. Alle waren sie gute Freunde. Es gefiel mir, dass meine Töchter sie zu Hause sahen. Wir haben zwei ziemlich reizende Töchter (das ist das Wort, das mir einfällt, jetzt, da ich sie erwähne). Heute studiert Alicia, die ältere, Jura an der Katholischen Universität. Sie ist sich ihrer Berufung erfreulich sicher. Sie wird den Anwaltsberuf ergreifen, wie ich. Sie ist intelligent und hübsch (das sage ich nicht, weil ich ihr Vater bin, man verstehe mich recht). Sie ist noch in dem Alter, in dem sie alles zu wissen glaubt, aber sie ist immer freundlich und sogar liebevoll zu den älteren Familienmitgliedern. Sie besitzt, wie ich wohl ohne Übertreibung sagen darf, eine überdurchschnittliche Intelligenz. Die jüngere, Lucía, ist genauso intelligent wie ihre Schwester. Lucía ist ein empfindsames Mädchen, vom Wesen her verträumt und mit einigen natürlichen Ängsten behaftet, wie der Furcht vor Dunkelheit und vor Spinnen. Sie hat eine ausgeprägte Fantasie und ein Bedürfnis nach Zuwendung, das sie veranlasst, mir Geschichten und Witze zu erzählen, die sie ohne Pause abspult. Mit ihren grünen Augen, ihrem seidigen Haar und ihren langen Beinen ist sie eines der hübschesten Mädchen, die ich je gesehen habe. Ihre Gesprächigkeit ist Ausdruck ihrer Bemühungen, die sie immer als jüngste Tochter unternommen hat, um sich im Kreis dreier erwachsener Gestalten bemerkbar zu machen. Lucía ist ein großer Fan von Gitarrenmusik und schließt sich oft mit ihren Freundinnen in ihrem Zimmer ein, um Platten von Kurt Cobain zu hören. Als sie dreizehn Jahre alt wurde, habe ich ihr einen Bass gekauft. Zum Glück war das Instrument nicht besonders laut. Zudem war unser fünfhundert Quadratmeter großes Haus in San Isidro weitläufig genug, dass jeder von uns, einschließlich der beiden Putzfrauen, der Köchin und des Chauffeurs von Claudia, weit entfernt vom wunderbaren Klang dieser Saiten leben konnte. Wenn Lucía nicht mit ihrer Musik beschäftigt war, war sie die beste Gesellschaft. Sie erzählte mir kleine Geschichten, vertraute mir ihre Probleme und die ihrer Freundinnen an, bat mich, mir einen Kuss geben und mich umarmen zu dürfen. Diese Umarmungen gehören heute zu meinen wertvollsten Erinnerungen. Ich vermisse diese Augenblicke, denn ich glaube, dass sie im Licht des ganzen Geschehens jetzt einer sehr fernen Zeit angehören. In jenen Tagen umarmte meine Tochter einen anderen Mann, der für immer verschwunden ist. Meine Frau Claudia hatte von ihrer Mutter das Geschick geerbt, die Windeln zu wechseln, Fragen zu beantworten und die Klagen der Mädchen zu besänftigen. Sie las Bücher über typische Verhaltensmuster in der Phase zwischen dem siebten und zehnten und zwischen dem elften und dreizehnten Lebensjahr. Meine Schwiegermutter hatte ihre Töchter liebevoll und besonnen erzogen und sie mit einer Mischung aus Stärke, moralischem Empfinden und angemessener Nächstenliebe ins Leben entlassen. Claudia machte es genauso mit Alicia und Lucía. Überdies half ihr unsere finanzielle Sicherheit, die richtigen Erziehungsentscheidungen zu treffen. Meine Arbeit war recht erfolgreich, dank meiner guten Beziehungen zu meinen Klienten (um es so auszudrücken). Außerdem hatten meine Schwiegereltern im Lauf vieler arbeitsreicher Jahre in ihrer Fabrik ein Vermögen zusammentragen können. Mein Schwiegervater war in schon extravaganter Weise großzügig, wenn es galt, uns zu Ferienreisen einzuladen. Er bezahlte uns die luxuriösesten Hotels, richtete in der Bar ein Guthaben für mich ein und kaufte den Mädchen Geschenke. Die Inseln der Karibik gehörten zu seinen Lieblingszielen, und so trugen Claudia und ich an mehr als einem Winterende eine perfekte Bräune zur Schau. Ich habe mich selten gegen die Pflichten der Eitelkeit gewehrt. Es gefiel mir, ein schönes Haus, eine angenehme, zärtliche Frau mit der Gabe der perfekten Gastgeberin und entsprechende Töchter zu haben, die sich gut in der Schule machten. Mir gefiel es, ich schäme mich nicht, es zuzugeben, mich gut zu kleiden. Und doch, das, was mir gefiel, war bisweilen auch …, damals schon (und diese Zeit erscheint mir jetzt so fern …), ich meine, dass etwas wie Beklommenheit auf mir lastete, dass eine Hand mir den Hals zudrückte und es mir schwer machte, mich zu bewegen, sogar bei den alltäglichsten Verrichtungen. Angefangen beim morgendlichen Aufstehen, Kämmen und Ankleiden bis hin zu allem Übrigen: in den Tag hinauszugehen, in den Lärm eines jeden Tages hinauszugehen, den Korridor der Pflichten zu betreten, die abgestufte Anstrengung, sich anzuziehen, zu rasieren, einen Körper zu gestalten und, in einen Gentleman verwandelt, den ersten Schritt in einem Wohnzimmer zu tun. Vielleicht verursachte diese Schwere auf der Haut, diese Beklommenheit meine...