E-Book, Deutsch, 335 Seiten
Reihe: Fischer Klassik Plus
Darwin Die Abstammung des Menschen
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-10-401934-5
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Fischer Klassik PLUS
E-Book, Deutsch, 335 Seiten
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ISBN: 978-3-10-401934-5
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Charles Darwin wurde 1809 in Shrewsbury, England geboren. Er studierte u.a. Medizin und Theologie, sein eigentliches Interesse aber galt der Geologie und Biologie. Im Jahre 1831 ging er von Plymouth aus auf eine Weltreise, die die Weichen für sein ganzes weiteres Leben und Schaffen stellte. Charles Darwin starb 1882.
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Zweites Kapitel Über die Art der Entwickelung des Menschen aus einer tiefer stehenden Form
Es steht fest, daß der Mensch gegenwärtig einer bedeutenden Variabilität unterliegt. Nicht zwei Individuen derselben Rasse sind völlig gleich. Wir mögen Millionen von Gesichtern vergleichen, und jedes wird verschieden sein. Ebenso groß ist die Verschiedenheit in den Proportionen und Dimensionen der verschiedenen Körperteile. Die Länge der Beine ist einer der variabelsten Punkte[58]. Obgleich in einigen Teilen der Erde ein langer Schädel, in anderen ein kurzer Schädel vorherrscht, so besteht doch eine große Verschiedenheit in der Form selbst innerhalb der Grenzen derselben Rasse, wie bei den Ureinwohnern von Amerika und Süd-Australien – die letzteren eine Rasse »wahrscheinlich so rein und homogen in Blut, Sitten und Sprache wie nur irgendeine« – und selbst bei den Einwohnern eines so beschränkten Gebietes wie die Sandwich-Inseln[59]. Ein hervorragender Zahnarzt versichert mir, daß in den Zähnen beinahe ebenso große Verschiedenheit herrsche wie in den Gesichtern. Die Hauptschlagadern haben so oft einen abnormen Verlauf, daß man es zu chirurgischen Zwecken für nützlich befunden hat, aus 1040 Leichen zu berechnen, wie oft jede Verlaufsart vorkommt[60]. Die Muskeln sind außerordentlich variabel; so fand Prof. Turner, daß die Muskeln des Fußes auch nicht bei zweien unter fünfzig Leichen völlig gleich waren, und bei einigen war die Abweichung beträchtlich[61]. Er fügt hinzu, daß die Fähigkeit, die geeigneten Bewegungen auszuführen, in Übereinstimmung mit den verschiedenen Abweichungen modifiziert worden sein müsse. Mr. Wood hat 295 Muskelvariationen bei 36 Personen beschrieben[62] und bei einer anderen Reihe derselben Zahl nicht weniger als 558 Variationen gefunden, die an beiden Seiten des Körpers vorkommenden als eine gerechnet. In der letzteren Reihe fand sich nicht ein Körper unter sechsunddreißig, der völlig mit den stehenden Beschreibungen des Muskelsystems in den anatomischen Textbüchern übereingestimmt hätte. Ein einziger Leichnam wies die außerordentliche Zahl von 25 verschiedenen Abnormitäten auf. Derselbe Muskel variiert zuweilen in verschiedener Weise; so beschreibt Prof. Macalister[63] nicht weniger als zwanzig verschiedene Variationen des Palmaris accessorius.
Der alte berühmte Anatom Wolff[64] behauptet, daß die inneren Eingeweide variabler seien als die äußeren Teile: »Es gibt keinen einzigen Teil, der sich nicht in verschiedenen Menschen verschieden verhält«. Er hat selbst eine Abhandlung über die Auswahl typischer Beispiele für die Darstellung der Eingeweide geschrieben. Eine Erörterung über das ideal Schöne der Leber, Lungen, Nieren usw. in eben der Weise wie über das göttlich Schöne des menschlichen Antlitzes klingt unseren Ohren seltsam.
Die Variabilität oder Verschiedenartigkeit der geistigen Fähigkeiten bei den Angehörigen derselben Rasse, ganz zu schweigen von den größeren Differenzen zwischen den Menschen verschiedener Rassen, ist so notorisch, daß kein Wort darüber gesagt zu werden braucht. Ebenso ist es mit den Tieren; den Leitern von Menagerien ist diese Tatsache bekannt, und wir sehen sie bestätigt bei unseren Hunden und anderen domestizierten Tieren. Brehm besonders behauptet, daß jedes Affen-Individuum von denen, die er in Afrika in Gefangenschaft hielt, seine eigene besondere Veranlagung und Laune gehabt habe; er erwähnt einen durch seine hohe Intelligenz bemerkenswerten Pavian; und die Wärter im Zoologischen Garten zeigten mir einen neuweltlichen Affen, der gleichfalls wegen seiner Intelligenz bemerkenswert war. Auch Rengger betont die Verschiedenheit der geistigen Eigenschaften bei den Affen derselben Spezies, die er in Parguay hielt; und diese Verschiedenheit ist, wie er hinzufügt, zum Teil angeboren, zum Teil das Resultat der Behandlung oder Erziehung[65].
Ich habe an anderer Stelle[66] die Vererbung so ausführlich erörtert, daß ich hier kaum etwas hinzuzufügen brauche. Hinsichtlich der Vererbung der unbedeutendsten sowohl wie der bedeutungsvollsten Eigenschaften sind noch weit mehr Tatsachen in bezug auf den Menschen als auf die Tiere gesammelt worden. Doch sind die Tatsachen in bezug auf die letzteren reichlich genug. So ist z.B. die erbliche Überlieferung von geistigen Eigenschaften bei unseren Hunden, Pferden und anderen Haustieren unbestreitbar. Außer speziellen Neigungen und Gewohnheiten werden sicher auch allgemeine Intelligenz, Mut, bösartiges und gutes Temperament usw. vererbt. Beim Menschen beobachten wir ähnliches in fast jeder Familie, und wir wissen jetzt durch die bewunderungswürdigen Arbeiten von Galton[67], daß das Genie, welches eine wunderbar komplexe Kombination hoher Fähigkeiten umfaßt, zur Erblichkeit neigt. Andererseits ist es ebenso gewiß, daß Wahnsinn und Geisteskrankheiten gleicherweise durch ganze Familien laufen.
In betreff der Ursachen der Variabilität sind wir in allen Fällen sehr unwissend; aber wir können sehen, daß sie sowohl beim Menschen wie bei den Tieren in Beziehung zu den Bedingungen stehen, welchen jede Art während mehrerer Generationen ausgesetzt gewesen ist. Gezähmte Tiere variieren mehr als Tiere im Naturzustand, und dies augenscheinlich infolge der verschiedenen und wechselnden Natur der Bedingungen, denen sie unterworfen worden sind. In dieser Hinsicht gleichen die verschiedenen Menschenrassen den domestizierten Tieren, und dasselbe gilt für die Individuen derselben Rasse, wenn sie ein sehr ausgedehntes Areal, wie etwa Amerika, bewohnen. Wir sehen den Einfluß verschiedener Bedingungen bei den zivilisierten Nationen; die Glieder derselben, verschiedenen Ständen und Berufen angehörend, weisen mehr Abstufungen im Charakter auf als die Glieder barbarischer Nationen. Aber die Gleichförmigkeit der Wilden ist oft übertrieben worden, und in einigen Fällen läßt sie sich kaum behaupten[68]. Trotzdem ist es ein Irrtum, den Menschen für »weit mehr domestiziert« anzusprechen als irgend ein anderes Tier[69], selbst wenn wir nur auf die Bedingungen sehen, denen er ausgesetzt gewesen ist. Gewisse wilde Rassen, wie die Australier, sind nicht verschiedeneren Bedingungen ausgesetzt als viele Arten mit weitem Verbreitungsgebiet. In einer sehr bedeutungsvollen Hinsicht weicht der Mensch von jedem domestizierten Tiere ab: seine Nachkommenschaft ist niemals lange kontrolliert worden, weder durch methodische, noch durch unbewußte Selektion. Keine Rasse oder menschliche Gruppe ist von anderen Menschen so völlig unterjocht worden, daß gewisse Individuen, die ihren Herren irgendwie hervorragend von Nutzen gewesen sind, erhalten und so unbewußt ausgewählt worden wären. [Man denke aber an die jahrhundertelange klerikale Züchtung, die ein frommes, zum Denken wenig befähigtes Geschlecht, und die politische Züchtung, die den Typus des »Untertanen« gezüchtet hat. H. S.] Ebensowenig sind gewisse männliche und weibliche Individuen absichtlich ausgelesen und miteinander gepaart worden, ausgenommen in dem bekannten Fall der preußischen Grenadiere; und in diesem Falle folgte man dem Gesetz der methodischen Zuchtwahl; denn es wird behauptet, daß in den Dörfern, welche die Grenadiere mit ihren großen Weibern bewohnten, viele große Menschen gezüchtet worden seien. Auch in Sparta wurde eine Art Selektion ausgeübt, denn es war vorgeschrieben, daß alle Kinder kurz nach der Geburt untersucht werden sollten; die wohlgebauten und kräftigen wurden erhalten, die anderen dem Untergang geweiht[70].
Wenn wir annehmen, daß alle Rassen des Menschen eine einzige Art bilden, so ist ihr Verbreitungsgebiet enorm; aber schon gewisse besondere Rassen, wie die Amerikaner und Polynesier, haben sehr ausgedehnte Verbreitungsgebiete. Es ist ein bekanntes Gesetz, daß weitverbreitete Arten variabler sind als Arten mit beschränktem Verbreitungsgebiet; und die Variabilität des Menschen kann zutreffender mit derjenigen weitverbreiteter Arten als mit jener der domestizierten Tiere verglichen werden.
Beim Menschen wie bei den Tieren scheint die Variabilität nicht nur durch dieselben allgemeinen Ursachen bewirkt zu werden; hier wie dort werden auch dieselben Körperteile in einer durchaus analogen Weise affiziert. Godron und Quatrefages haben das mit so ausführlichem Detail erwiesen, daß ich hier nur auf ihre Werke zu verweisen brauche[71]. Monstrositäten, die allmählich in geringe Variationen übergehen, sind ebenfalls beim Menschen und den niederen Tieren so ähnlich, daß bei beiden dieselbe Klassifikation und Terminologie angewendet werden kann, wie Isidore Geoffroy S. Hilaire gezeigt hat[72]. In dem Buche über Vererbung und Variabilität habe ich die Gesetze der Abänderung in einer flüchtigen Skizze unter folgende Gesichtspunkte gebracht: Die direkte und bestimmte Wirkung veränderter Bedingungen, wie sie sämtliche oder fast alle Individuen einer Art darbieten, die unter denselben Umständen in derselben Weise abändern; die Wirkungen lange fortgesetzten Gebrauchs oder Nichtgebrauchs der Teile; der Zusammenhang homologer Teile; die Variabilität mehrfach vorhandener Teile; Kompensation des Wachstums (von diesem Gesetz habe ich jedoch beim Menschen kein gutes Beispiel gefunden); die Wirkungen des gegenseitigen mechanischen Druckes der Teile (wie z.B. der Druck des Beckens auf den Schädel des Kindes im Mutterleib); Entwickelungshemmungen, die zur Verkleinerung oder...




