E-Book, Deutsch, 400 Seiten
D'Avenia Der blinde Lehrer
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-641-28729-0
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 400 Seiten
ISBN: 978-3-641-28729-0
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Was wäre, wenn das Aussprechen eines Namens ihn zugleich mit Leben füllen würde? Dies ist die Schule, von der Omer Romeo träumt. Fünfundvierzig Jahre alt, wird er als Vertretungslehrer für Naturwissenschaften in eine Klasse in Rom berufen, die vor den Abiturprüfungen steht und in der die hoffnungslosen Fälle der Schule vereint sind. Eine Herausforderung für Omer, der erblindet ist und nicht weiß, ob er zukünftig weiter als Lehrer gebraucht wird. Da er nicht in der Lage ist, die Gesichter der Schüler*innen zu sehen, erfindet er eine neue Art des morgendlichen Aufrufens und lässt die Jugendlichen ihre Geschichten erzählen. Langsam öffnen sie sich ihm: das Mädchen, das eine unaussprechliche Wunde verbirgt, der Rapper, der in einem Kinderheim lebt, der Streber, der nur hinter einem Bildschirm mit anderen in Kontakt tritt, die verlassene Tochter oder der aufstrebender Boxer, der davon träumt, wie Rocky zu sein ... Dem blinden Lehrer gelingt schließlich, die Kinder seiner Klasse von einer bloßen Ansammlung isolierter Stimmen in einen harmonischen Chor zu verwandeln.
Alessandro D'Avenia, geboren 1977, stammt aus Palermo. Eine Zeit lang unterrichtete er am Gymansium Italienisch und Latein, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Sein erster Roman Weiß wie Milch, rot wie Blut stand in Italien jahrelang auf der Bestsellerliste und wurde in zwanzig Länder verkauft. Mittlerweile hat er mehrere von Presse und Leser*innen hochgelobte Romane veröffentlicht und zählt zu den erfolgreichsten italienischen Autoren.
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September
»Ich wusste nicht, dass Sie blind sind. Sind Sie sicher, dass Sie die Jahresvertretung annehmen wollen?«
Das fragte mich der Schulleiter am ersten Tag des neuen Schuljahres, als ich ihm gegenüber Platz nahm und meine Sonnenbrille absetzte. Die entgeisterte Betroffenheit auf seinem Gesicht konnte ich mir nur vorstellen.
Zwar ist es noch zu früh für eine verlässliche Massewahrnehmung, aber seine ist auf jeden Fall dicht, eingehüllt in den von Schimmel und Bleichmittel gesättigten Muff des Zimmers, während er selbst nach Rasierwasser und Mottenkugeln riecht. Seine Stimme ist trocken, ohne Nachklang, er würgt die Endvokale ab, als wäre er aus Gewohnheit kurz angebunden. Ich spüre, welchen Raum die Gegenstände in seinem Zimmer einnehmen, ihre Gerüche und ihre Beschaffenheit, ihre Angst und mitunter ihren Hunger. Gegenstände senden genau die Menge Leben aus, die ihre Besitzer auf sie übertragen, und verraten, ob der Mensch noch am Leben ist.
»Es sind dunkle Zeiten für uns Lehrer …«
Stille. Er hat den Witz nicht verstanden, wie es oft geschieht, wenn ich visuelle Metaphern gebrauche, um meinen Zustand, der mir noch immer Angst macht, zu entdramatisieren.
»Ich würde nicht wieder anfangen zu unterrichten, wenn ich mir nicht sicher wäre«, füge ich an.
»Wieder anfangen?«
»Ich hatte aufgehört …«
»Ah … nun, für einen Neustart sind Sie an eine recht glücklose Klasse geraten.«
»Glücklos bin ich auch. Auf einen mehr oder weniger kommt es nicht an.«
»Die Klasse bestand nur noch aus neun Schülern, dann ist ein Mädchen dazugekommen, das das Jahr wiederholt. Uns war es lieber, sie nicht auseinanderzureißen und auf andere Klassen zu verteilen.«
»Richtig so! Isolation: wie bei einem Virus.«
»Wie bei einer Problemgruppe. Es ist ein Wunder, dass sie es bis zur Hochschulreife geschafft haben.«
»Reif sein ist alles, sagte der König!«
»Wer?«
»Lear, Shakespeare: ›Dulden muss der Mensch / sein Scheiden aus der Welt / wie seine Ankunft: / Reif sein ist alles!‹
. Das pflegte meine Englischlehrerin an der Oberschule gern zu sagen, und sie erklärte uns, könne sowohl ›Reife‹ als auch ›bereit sein‹ bedeuten.«
»Aber wie wollen Sie es schaffen zu unterrichten?«
»Sehkraft wird überschätzt.«
»Ich kann Ihnen nicht folgen.«
»Seit den alten Griechen galt uns das Sehen stets als der nobelste Sinn.«
»Ist er das denn nicht?«
»Was denken Sie?«
»Nun, unsere Wahrnehmung beginnt stets mit den Augen.«
»Nachdem wir den Mutterleib verlassen haben. Aber während der neun Monate im Dunkeln hatten wir andere Prioritäten.«
»Die da wären?«
»Der Geruchssinn, das Gehör und vor allem der Tastsinn. Er ist am wichtigsten. Als wir noch nicht sehen konnten, waren wir mit allem in Berührung. Das Schicksal des Menschen liegt in seinen Händen.«
»Natürlich ist es an uns, zu entscheiden, was wir aus unserem Leben machen, aber was hat das mit den Händen zu tun?«
»Nehmen Sie mich wörtlich: Das Schicksal liegt in unseren Händen, in diesen Händen. Unsere Hände formen die Welt, in der wir leben möchten. Mit dem Gebrauch der Hände gestalten wir das Leben: Als unsere Hände anfingen, Häuser und Gräber zu bauen, trafen wir die Entscheidung, aus der Welt entweder ein Haus oder einen Friedhof zu machen.«
»Wie auch immer, auf der Liste der zu kontaktierenden Lehrer waren Sie jedenfalls der Letzte. Nehmen Sie die Vertretungsstelle an?«
»Sonst hätte ich wohl nicht auf der verdammten Liste gestanden.«
»Vielleicht haben Sie es sich inzwischen anders überlegt. Sie wissen ja, wie das ist: Sobald die Befristeten erfahren, welche Situation sie erwartet, machen sie häufig einen Rückzieher.«
»Ich nicht, unter zwei Bedingungen …«
»Neueinsteiger können nicht allzu viele Ansprüche stellen, aber in Ihrem Fall …«
»Ich danke Ihnen für Ihr Mitgefühl, aber ich bin kein Kind. Mir wäre lediglich daran gelegen, dass ich die ersten Unterrichtsstunden bekomme, und ich bräuchte jemanden, der mich in die Klasse begleitet.«
»Ich werde sehen, was sich tun lässt. Am Stundenplan einer Schule zu rühren, ist, als würde man auf eine Giftschlange treten. Aber wie machen Sie es mit mündlichen Tests und Leistungsprüfungen?«
»Man muss nur zuhören.«
»Ich meine die schriftlichen Prüfungen.«
»So wie sonst auch: Ich stelle die Fragen, und sie schreiben die Antworten.«
»Und wie korrigieren Sie die Arbeiten? Wie stellen Sie fest, ob sie abschreiben? Oder ob sie bei den mündlichen Tests ablesen?«
»Nur wirklich Verzweifelte klauen einem Blinden das Kleingeld, und dann sollte man sie nicht daran hindern. Ich werde mir die Antworten von ihnen vorlesen lassen. Keine Sorge. Es wird keine Probleme geben.«
»Das hoffe ich, in dieser Klasse hatten wir davon schon genug. Im letzten Jahr ist eine junge Vertretungslehrerin nach einem Monat in Tränen zu mir gekommen und hat gesagt, sie hätte den falschen Beruf ergriffen. Das Einzige, was zählt, ist, diese Klasse zum Abitur zu bringen.«
»Ein sehr gutes Ziel, finden Sie nicht?«
»Das sagte ich ja gerade.«
»Ums Altwerden kümmert sich die Natur, ums Reifwerden müssen wir uns selbst kümmern. Ach, und darf ich Sie um noch etwas bitten?«
»Was denn noch?«
»Darf ich Ihr Gesicht berühren?«
»Wie bitte?«
»Ich würde mir gern ein genaueres Bild von Ihnen machen. Sie sind mein neuer Vorgesetzter, es ist mir wichtig, dass ich Sie kennenlerne.«
»Wir haben uns bereits kennengelernt …«
»Ich verstehe Ihr Unbehagen, aber ich sehe mit den Fingern.«
»Muss das sein?«
»Ja.«
Nach wenigen Sekunden nehme ich eine Bewegung seines Körpers wahr, befangen beugt er sich zu mir herüber. Weil der Schreibtisch zwischen uns ist, stehe ich auf, strecke behutsam die Hände aus und ertaste seine Schultern. Dann lasse ich sie über seinen breiten Hals hinaufwandern und lege sie ganz leicht auf sein Gesicht. Ich spüre die Anspannung der Kiefermuskeln, die schlaffe Haut der sorgfältig rasierten Wangen. Seine Ohren sind klein, mit angewachsenen Ohrläppchen. Die Nase ist weich, ein dichter Schnurrbart rahmt die zusammengepressten Lippen. Die Augenhöhlen sind tief, die gerunzelte Stirn grenzenlos. Er ist glatzköpfig, und auf der linken Schädelseite ist eine Unebenheit, eine Art Beule. Gesichter sind Landkarten, sie zeigen die Geografie der Seele, es sind Orte, die nach einem Namen und einer Geschichte verlangen. Schmerz, Mühsal, Ängste, Böses, Gutes, Ohrfeigen, Zärtlichkeiten, Regen, Wind, Tränen, Schlaf, Glück: Tag für Tag, Geste für Geste wird unsere Physiognomie davon geprägt. Der Blick hat es eilig, sofort ein Fazit zu ziehen, und kann Unvollkommenheiten und Details nicht genau erfassen. Ich aber analysiere sämtliche Einzelheiten wie ein Geograf und versuche erst hinterher, sie zusammenzusetzen. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass der Tastsinn ehrlicher ist als das Sehen, er ist frei von den Vorurteilen unseres Blicks. Es klingt paradox, aber das, was wir vor Augen haben, sehen wir nicht, denn statt wirklich zu sehen, wollen wir lediglich bestätigt haben, was wir bereits zu wissen glauben, und uns damit die Blindheit für das bewahren, was wir lieber nicht sehen wollen.
Schweiß tritt auf seine Haut, und meine Finger halten inne, ruhen reglos auf seinen Wangen wie die einer Mutter bei ihrem Kind: Ein Gesicht entblößt sich erst, wenn man es lang genug berührt. Nichts erschreckt uns mehr, als vom Unbekannten berührt zu werden.
Es klopft an der Tür, und der Schulleiter zieht sich hastig zurück. »Herein!«, ruft er.
»Ich bringe Ihnen Kaffee.«
»Danke«, erwidert er knapp und zugeknöpft.
Ich spüre die Bewegung eines nicht sehr wendigen Körpers, bei der sich der Geruch von frisch gemachtem Kaffee und ein Herrenparfum mit maritimen Aromen in der Kopfnote und Geranie und Zitrone in der Basisnote mischen. Seit meiner Erblindung bin ich auch zu einer unfehlbaren Supernase geworden.
»Darf ich Ihnen Signor Romeo vorstellen, den Neuen für Naturwissenschaften.«
Ich strecke die Hand ungefähr dorthin, wo ich die Frau vermute. Sie weiß nicht, dass ich blind bin, denn ich habe meine Sonnenbrille wieder aufgesetzt.
»Guten Tag, Professore, ich bin Patrizia, Hefe und Salz dieser Schule. Man sieht es mir vielleicht nicht an, aber ohne mich bleibt hier alles fade und flach. Meinen Kaffee kennt man auf sämtlichen Etagen, er vertreibt den hartnäckigsten Schlaf und wappnet für die schweren Schlachten gegen Langeweile und Ignoranz; wann immer Sie einen wollen, sollen Sie ihn bekommen.« Sie drückt mir die Hand. Ihre ist weich, trotz der bei immer gleichen Handbewegungen typischen Hornhaut an manchen Stellen.
»Freut mich, Romeo. «
»Werden Sie meine Lieblinge übernehmen? Die arme Lehrerin … was für eine Tragödie.«
»Ihre Lieblinge?«
»Ja, diese Kinder sind ein so unglücklich zusammengewürfelter Haufen, dass man sie einfach gernhaben muss. Ich habe sie adoptiert. Anfangs braucht es ein bisschen Geduld, aber wenn man sie zu nehmen weiß …«
»Könnten Sie mir erklären, welches der … Oder vielleicht könnten Sie mich morgens in die Klasse bringen.« Ich nehme die Sonnenbrille ab, um die Situation klarzustellen.
»Oh mein Gott! Ich meine,...