Dexter Der Marodeur von Oxford
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-03734-652-5
Verlag: diaphanes
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
und andere Geheimnisse aus dem Fallbuch von Henry St Liver
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Reihe: Literatur
ISBN: 978-3-03734-652-5
Verlag: diaphanes
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
London, 1892. Dr. Henry St. Liver und Olive Salter haben mit jeder Menge mysteriöser Ereignisse und beunruhigender Vorfälle zu tun: Exhibitionistische Adlige, diebische Nonnen, verschwundene Ritualgegenstände, marodierende Wesen unklarer Spezies und seltsame Gourmets bevölkern die Fallgeschichten, gegen die sich die simplen Verbrecherjagden der Kollegen Sherlock Holmes und Dr. Watson durchsichtig und eindimensional ausnehmen.
Wider den viktorianischen Zeitgeist klären St. Liver und Salter Fälle aus dem Gebiet der »Psychopathia sexualis«. »Ein einziges Vergnügen« befand die britische Presse über dieses sprachlich brillante Stück Literatur, in dem die menschliche Sexualität die Welt abgründig, aber auch heiterer erscheinen lässt.
Ein viktorianischer Porno der anderen Art und ein Angriff auf den »guten Geschmack«. Mit einem Gastauftritt von Oscar Wilde.
Gary Dexter schreibt Bücher über Bücher und Kolumnen für , , , und für die verblichene . Er lebt in Norwich.
Weitere Infos & Material
Kapitel Eins
Das verschwundene Flabellum
Aber ich möchte nicht vorgreifen. Der Leser wird keinerlei Vorstellung von meiner persönlichen Verbindung mit Henry St Liver haben, noch wird er wissen, wie ich ihn zunächst kennenlernte.
Vielleicht sollte ich ganz kurz meine Kindheit und Jugend darstellen. Ich wurde 1870 in dem kleinen Ort Summerseat nordwestlich von Manchester geboren. Als ich drei Jahre alt war, zog meine Familie nach Sydney, Australien, wo mein Vater eine Anstellung bei einem Bergbaubetrieb angenommen hatte. Mit siebzehn wurde ich Lehrerin an einer Dorfschule in der Nähe von Goongerwarrie, Queensland, und in den Unterrichtspausen bildete ich mich selbst dank einiger ausrangierter Bände von Milton und Goethe und einer Lateingrammatik weiter. Ich kehrte im August 1892 im Alter von zweiundzwanzig Jahren nach England zurück, um mich zur Ärztin ausbilden zu lassen.
Natürlich hatte ich schon Fotografien und Stiche von London gesehen. Ich hatte Beschreibungen der Stadt gelesen und Karten studiert. Ich hatte sogar schon Londoner Gin probiert. Aber all das konnte nicht verhindern, dass ich nicht auf London vorbereitet war. Ich hatte beispielsweise nichts von den halsabschneiderischen Mieten geahnt, den irischen Bomben, den Morden auf den Straßen etc. etc. An meinem allerersten Tag, als ich in Tilbury an Land ging, geriet ich beinahe in einen Aufstand. Ich denke, Hafenarbeiter waren daran beteiligt. Es war jedenfalls sehr schwierig, von den Docks fortzukommen. Der Tumult hatte sich bis zur Regent Street ausgeweitet, wo ich später bemerkte, dass alle Fenster von Mr William Morris’ Laden eingeschlagen waren und sich Tapetenrollen sträflich vernachlässigt über den Gehsteig ausbreiteten.
Ich fand eine günstige Bleibe in Hoxton in der Nähe eines billigen Varietétheaters. Ich hatte nichts in meinem Koffer außer ein paar Kleidern und Büchern und meinem Manuskript, . Letzteres waren die Aufzeichnungen aus meiner Zeit in den unermesslichen Weiten des Outbacks. Ich schickte es an Verleger, und nach sieben oder acht Wochen zeigten sich Drebber and Drebber interessiert, so dass das Buch im Januar 1893 veröffentlicht wurde.
Nur kurze Zeit später leiteten mir die Herren Drebber folgenden Brief weiter:
Geschichte einer australischen Scheune
Lustvoll werfe ich mich auf die rote Erde; der Samen des Pantheismus sprießt in mir … (SS 58, 345)
Das Buch hatte sich in dem Monat, seit es erschienen war, nicht gut verkauft. Man hatte fünfhundert Stück gedruckt, und soweit ich wusste, waren vierzig Exemplare verkauft worden. Zehn davon hatte ich selbst zum vollen Preis erworben, um sie an die Zeitungen zu schicken. Eine Besprechung hatte ich bekommen (im : „kraftvoll … lebendig … Mr Iron besitzt verblüffende Einblicke in die Seelen seiner weiblichen Figuren“). Kurz gesagt: Es ging unter, ohne Spuren zu hinterlassen. Daher war dieser Brief die einzige unverlangte, unbefangene Rückmeldung, das einzige Zeichen, dass es ein menschliches Herz – Journalisten ausgenommen – berührt hatte. Wie man sich denken kann, studierte ich ihn sehr gründlich (hier war ein Objekt, das der Amateurdetektivin ein weites Feld eröffnete). Ich nahm die zittrige, gestochene Handschrift (ein alter Mann?) zur Kenntnis, die groß geschriebenen Abstrakta, die in die Korrespondenz von Pope oder Macaulay zu gehören schienen, den gleichwohl demütigen und bedächtigen Ton, den braunen Umschlag, der darauf schließen ließ, wiederverwendet worden zu sein (Armut? Oder Sparsamkeit?), und allem voran den faszinierenden Namen – St Liver – mit der Adresse in Shoreditch, die nicht mehr als einen viertelstündigen Fußweg entfernt war.
An diesem Abend antwortete ich:
Und für eine Weile blieb es dabei. Ich fühlte mich krank (ich leide an Asthma, Bleichsucht, Juckflechte, Heufieber, Schlaflosigkeit, Migräne, Neurasthenie, Tachykardie und lokalen physischen Störungen), verliebte mich schrecklich und wurde bitter enttäuscht und dachte so gut wie gar nicht an Henry St Liver. Dann erhielt ich nach drei Wochen einen weiteren Brief:




