E-Book, Deutsch, 336 Seiten
Evaristo Mr. Loverman
Die Auflage entspricht der aktuellen Auflage der Print-Ausgabe zum Zeitpunkt des E-Book-Kaufes.
ISBN: 978-3-608-12036-3
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 336 Seiten
ISBN: 978-3-608-12036-3
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Bernardine Evaristo, geboren 1959, wuchs als viertes von acht Kindern in London auf. Sie ist Professorin für Kreatives Schreiben an der Brunel University London und Präsidentin der Royal Society of Literature. Sie gewann als erste Schwarze Autorin den Booker-Preis für ihren Bestsellerroman Mädchen, Frau etc. (2021). Außerdem bei Tropen erschienen: Manifesto. Warum ich niemals aufgebe (2022), Mr. Loverman (2023) und Zuleika (2024).
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1
Die Kunst des Ehelebens
Samstag, 1. Mai 2010
Morris leidet an dem Gebrechen, das allgemein unter der Bezeichnung »Abstinenz« bekannt ist. O nein, kein Tropfen Fusel kommt ihm mehr über die Lippen, bis er mit den Füßen voran aus dieser Welt scheidet, hat er mir grad erst erklärt, in der Dancehall, während Mighty Sparrow sein »Barack the Magnificent« aus dem Soundsystem schmetterte.
Letztes Mal hatten wir das, als er beschloss, Vegetarier zu werden, ganz großer Witz, schließlich hat der Mann sein Leben lang so ziemlich jedes Teil vom Tier in sich reingestopft, bis auf Fell und Zähne. Aber egal, mit einem Mal fängt Morris an, im Gespräch mit exotischen Wörtern wie »Soja«, »Tofu« und »Quorn« um sich zu werfen, und mich fragt er, wie’s mir denn gefallen würd, wenn mir einer das Bein abhackt und es sich zum Abendessen brät? War mir nicht mal die Antwort wert. Anscheinend hatte er ne Doku über Legehennen gesehn, denen Wachstumshormone gespritzt werden, und messerscharf draus geschlossen, dass er dann demnächst zur Frau wird, dass ihm Männermöpse wachsen und dermehren gleich.
»Alles klar, Morris«, hab ich gesagt. »Aber mir fällt doch auf, dass du nach mehr als siebzig Jahren Hühnerverzehr immer noch keinen BH brauchst. Lass mal hörn, wie du dir das erklärst.«
Was soll ich sagen: Keinen Monat später komm ich an Smokey Joes Hühnerbraterei in der Kingsland High Street vorbei, und wen seh ich drinnen hocken und sich über sein Hähnchen hermachen, die Augen verdreht in wilder Ekstase, als wär er beim altgriechischen Bacchanal und würd von einem knackigen jungen Adonis mit nem Teller saftig goldiger Hähnchenschenkel gefüttert? Sein Gesicht, als ich reingestürmt kam und ihn ertappt hab, wie ihm noch das Fett übers Kinn läuft! Wieso ich da lache? Mann, Morris, du machst mich fertig.
Wir also in der Dancehall, zwischen all den schwitzigen, sexhungrigen Jungspunden (also, aus unserer Sicht), die mühelos mit den Hüften kreisen. Und ich immer bemüht, meine Hüften in ähnlicher Hula-Hoop-Manier zu schwingen, was sich inzwischen leider eher anfühlt, als würd man versuchen, ne rostige Suppenbüchse mit nem altmodischen Dosenöffner aufzukriegen. Darum versuch ich, locker in den Knien zu bleiben, ohne vor Schmerzen das Gesicht zu verziehn oder sie versehentlich zu tief zu beugen, weil ich dann nämlich nicht mehr hochkomm, das weiß ich schon, und dabei muss ich mich auch noch drauf konzentrieren, was Morris mir ins Ohr brüllt.
»Diesmal mein ich’s ernst, Barry. Mit dem ganzen Gift komm ich einfach nicht mehr klar. Mein Gedächtnis ist schon so schlecht, dass ich dienstags denk, es ist Donnerstag, das Schlafzimmer mit dem Bad verwechsle und meinen Älteren mit dem Namen vom Jüngeren anred. Und wenn ich mir dann nen Tee mach, lass ich ihn rumstehn, bis er kalt ist. Soll ich dir was sagen, Barry? Ich fang jetzt auch an, diesen Shakespeare zu lesen, den du so liebst, und Kreuzworträtsel zu machen. Und ich tret ins Fitnessstudio ein, mit Seniorenrabatt, dann kann ich jeden Tag in die Sauna, und der Kreislauf bleibt gut in Schwung, denn jetzt mal unter uns, an diesem verschwiegenen Ort …«
Er verstummte und guckte sich um, ob auch wirklich niemand lauschte. Klar, Morris. Zwei alte Knacker reden über die Plagen und Strapazen des Senilwerdens, und ein ganzer Club voll aufgeheizter junger Leute spitzt die Ohren?
»Letzte Woche ist mir aufgefallen, dass ich Krampfadern krieg«, flüsterte er so dicht an meinem Ohr, dass er reinspuckte und ich es mit dem Finger auswischen musste.
»Morris«, sag ich. »Krampfadern kriegt man halt als alter Mann. Gewöhn dich dran. Und das mit der Vergesslichkeit? Wahrscheinlich hast du Frühdemenz, da kannst du gar nichts machen, außer viel fetten Fisch essen. Und von wegen nichts mehr trinken …«
Dann hielt ich den Mund, denn Morris sah mit seiner kläglich gerunzelten Stirn auf einmal aus wie n kleiner Dackel. Normalerweise plänkelt er immer gleich zurück, packt den vielbeschwornen Cricketschläger aus und zieht mir damit eins über. Morris ist zwar empfindlich, aber nicht überempfindlich, sonst wär er wirklich mehr Frau als Mann – vor allem zu dieser ganz bestimmten Zeit im Monat, wenn sie den irren Blick kriegen und man besser nichts Falsches sagt und auch nichts Richtiges auf die falsche Art. Sogar, wenn man was Richtiges auf die richtige Art sagt, kann’s noch passieren, dass sie mit dem Fleischmesser auf einen losgehen.
»Denk dir nichts. Ich mach doch nur Spaß, Mann.« Ich knuffte ihn in die Brust. »Wenn du tattrig würdst, wär ich der Erste, der’s dir sagt. Kein Anlass zur Sorge, mein Freund. Du bist genauso bei Trost wie eh und je.« Dann brummelte ich noch in mich rein: »Was allerdings nicht viel heißen will.«
Aber Morris starrte mich nur weiter an, mit diesem waidwunden Blick, für den er schon gut neunundsechzig Jahre zu alt ist.
Ich kam zu dem Schluss, dass er unter Alkoholentzug leiden muss. Nicht, dass ich so direkt Erfahrung mit Entzugserscheinungen hätte, denn für mich geht kein Tag je vorbei, ohne dass der süße Balsam meine Lippen benetzt. Der Unterschied zu Morris ist bei mir nur, dass ich die meisten Tage wirklich kaum mehr mach, als mir die Lippen zu benetzen, kleiner Aperitif hier, kleiner Digestif da, Schlückchen zum Aufwärmen oder Runterkommen. Ein Gläschen Appleton-Rum, ein Fläschchen Red Stripe oder Dragon Stout, um die Berauschungsbranche daheim auf den Inseln am Laufen zu halten. Nennen wir’s wohltätiges Handeln. Nur am Samstagabend geb ich meinen bacchanalistischen Tendenzen so richtig nach. Morris hingegen trinkt keinen Alkohol; er ertrinkt drin. Voll, randvoll ist der Mann. Der Alkoholanteil im Blut muss bei ihm um die neunzig Prozent liegen, ungelogen. Sorgen machen muss er sich trotzdem nicht, er gehört zu den Saufbolden, denen das gut zu Gesicht steht.
Jetzt rang er sich endlich durch, sich locker zu machen und ein Grinsen sehn zu lassen. Wo ich bin, bleibt keiner lang betrübt. Yesss. Ich bin der Große Stimmungsaufheller. Ich bin Valium in Menschengestalt.
»Wir sind jetzt Oldies«, sag ich zu ihm. »Damit müssen wir uns abfinden. Und außerdem müssen wir dran glauben, dass wir unsere besten Jahre noch vor uns haben, nicht hinter uns. Mit diesem Zug, der ohne Halt dem Nichts entgegenrollt, kommt man nur klar, wenn man positiv bleibt. Sind wir nicht im Zeitalter des Positiven Denkens? Kennst doch den Spruch: Das Glas ist entweder halb voll oder halb leer. Machen wir’s halb voll. Deal, mein Freund?«
Ich halt ihm die Hand zum Einschlagen hin, aber er fasst’s komplett falsch auf und fängt stattdessen an, sich wie ein Teenager aufzuführen und sich an einem hiphoppigen Faust-an-Faust-plus-Fingerflattern-Handschlag zu versuchen, den wir beide nicht richtig hinkriegen, und wer uns dabei sieht, muss uns für zwei jämmerliche alte Hipster halten, die cool sein wollen.
Morris, ach, mein lieber Morris, was fang ich bloß an mit dir? Du warst schon immer so ein Sorgenkind. Und wer sagt dir schon genauso lang: »Morris, nimm’s dir von der Seele, und pack’s auf meine«?
Jetzt schau dich an, dein Weltergewicht-Körper – aufs Haar derselbe noch, der früher seine Gegner mit dem »Morris-Tänzchen« im Ring umkreiste und damit 1951 auf Antigua sogar Jugendmeister wurde – ist noch so kräftig wie sonst was, trotz der ein, zwei läppischen Krampfäderchen. Du bist noch derselbe Mann, den ich seit damals kenn. Mit denselben eindrucksvollen Armmuskeln. Demselben Bauch, mehr hohl als rund. Und immer noch keine Falten, bis auf die paar am Hals, die sowieso keiner sieht außer mir.
Aber, Morris, eins weiß ich über dich doch ganz genau – dein Herz wie dein Gemüt sind immer schon begeistert mit dem Schiffchen namens Lady Rum in See gestochen. Niemals gehst du mir so spät im Leben noch komplett von Bord aufs Trockne und strandest auf der einsamen Insel, die Stocknüchtern heißt.
Das weiß ich ohne jeden Zweifel, denn ich, Barrington Jedidiah Walker, Esq., hab dich, Monsieur Morris Courtney de la Roux, schon gekannt, da waren wir noch zwei kleine Schlawiner mit Piepsstimmchen und glatten Wangen, die’s nicht erwarten konnten, richtig Eier in die Hose zu kriegen.
Wobei ich mich wirklich nicht beschweren will, denn solang Morris versucht, ein besserer Mensch zu werden, fährt er mich in seinem Ford Fiesta heim, weil ich schon zu beduselt bin, um mich noch ans Steuer zu setzen und durch die Straßen und Gässchen im Londoner Osten zu gondeln, ohne dass die Boys in Blau mich festsetzen. Das vermiss ich schon – sturzbesoffen ein Auto steuern und damit durchkommen, wie wir’s in...