E-Book, Deutsch, 496 Seiten
Feehan Sunrise Lake
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-641-29533-2
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 496 Seiten
ISBN: 978-3-641-29533-2
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Christine Feehan wurde in Kalifornien geboren, wo sie heute noch mit ihrem Mann und ihren elf Kindern lebt. Sie begann bereits als Kind zu schreiben und hat seit 1999 mehr als siebzig Romane veröffentlicht, die in den USA mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet wurden und regelmäßig auf den Bestsellerlisten stehen. Auch in Deutschland ist sie mit den »Drake-Schwestern«, der »Sea Haven-Saga«, der »Highway-Serie«, der »Schattengänger-Serie«, der »Leopardenmenschen-Saga« und der »Shadows-Serie« äußerst erfolgreich.
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1
Mami, Daddy tut wieder etwas Schlimmes.
Die Kinderstimme sagte ganz genau das, was sie zu ihrer Mutter gesagt hatte, als sie vier war. Und fünf. Und sieben.
Stella Harrison wusste, dass sie träumte, konnte den Traum aber dennoch nicht abschütteln. Dies war die fünfte Nacht in Folge, in der sie ihn hatte, und jedes Mal hatte die Kameralinse sich ein wenig weiter geöffnet und ihr etwas mehr von dem Schreckensszenario gezeigt, das sie nicht aufhalten konnte. Von dem Angler. Mit der Jeanslatzhose, der olivfarbenen Wathose und der blauen Kappe, die er tief in die Stirn gezogen hatte, sodass sie sein Gesicht nicht sehen konnte. Er war zwischen den Felsen im dichten Schilf hindurch in den See hinausgewatet, um dem Schatten mehrerer Bäume zu entkommen.
Sie versuchte, ihn zu warnen. Ihm etwas zuzurufen. Zu schreien. Nein, werfen Sie die Angel nicht aus. Doch jeden Abend sah sie, wie die Schnur an genau der gleichen Stelle eintauchte. In dem etwas dunkleren kleinen Kreis, wo das Wasser sich so verlockend kräuselte. Wie ein programmierter Roboter machte der Angler immer dasselbe. Er trat vor, warf die Schnur aus und ließ den Köder mitten in dem tintenschwarzen Loch in der Tiefe verschwinden.
Dann veränderte sich der Blickwinkel, und die Kamera zeigte ihr Aufnahmen unter Wasser. Dort hätte es ruhig und friedlich sein müssen. Mit Fischen, die umherschwammen. Nicht mit einem Mann im Taucheranzug, der auf diesen Haken wartete, um den Angler in ein furchtbares Spiel zu verwickeln. Den Kampf um den Fisch zu einem echten Kampf auf Leben und Tod zu machen, bei dem der Angler immer weiter vom sicheren Ufer fort in das dichte Röhricht gelockt wurde – näher an die Bedrohung, die unter Wasser lauerte.
Der angebliche Fisch leistete Widerstand. Er schien groß zu sein und das erschöpfende Ringen wert. Während er den Fisch einholte und glaubte, einen preiswürdigen Fang an Land zu ziehen, achtete der Angler immer weniger auf seine Umgebung.
Plötzlich richtete sich der Mann unter Wasser vor dem arglosen Petrijünger auf und stieß ihm so fest vor die Brust, dass er hintenüberfiel, mit dem Kopf auf einem Stein aufschlug und unterging. Sofort zog der Taucher ihn weiter unter Wasser und hielt ihn dort fest, obwohl der benommene Angler sich heftig wehrte.
Stella konnte nur entsetzt zusehen, wie der Mörder die Tat ruhig beendete, indem er die Leiche einen Moment an die Wasseroberfläche kommen ließ, um sie mit dem unteren Teil der Wathose über einen Felsen zu zerren. Dann tauchte er die Leiche des Anglers wieder unter Wasser und verwickelte sie mit dessen eigener Angelschnur direkt unter der Wasserlinie im Schilf und den ufernahen Pflanzen. Schließlich schwamm der Mörder in aller Ruhe davon, als wäre nichts gewesen.
Danach schnappte die Kameralinse wieder zu, und alles wurde schwarz.
Als Stella in zerwühlten Bettdecken erwachte, schwitzte sie so stark, dass ihr Haar feucht war. Abrupt setzte sie sich auf, drückte die Handballen gegen die Augen und rieb sich immer wieder übers Gesicht, um den Albtraum loszuwerden. Nicht schon wieder. Das war Jahre her. Jahre. Sie hatte ein neues Leben. Neue Freunde. Ein neues Zuhause. Eine Heimat.
Und nun fingen diese Albträume wieder an. Das war das fünfte Mal gewesen. Fünf Mal hintereinander. Und es war nicht mehr so, als lebte sie in einer großen Stadt. In einer kleinen Gemeinde wie dieser würde normalerweise jeder von einem Mord erfahren. Aber der Killer war brillant. Absolut genial, deshalb käme er wohl damit davon – es sei denn, sie würde die Polizei auf seine Verbrechen aufmerksam machen. Doch selbst dann war nicht sicher, dass er gefasst werden würde.
Sie hatte nicht gemerkt, wie sie sich vor und zurück wiegte, um sich zu beruhigen, und zwang sich, damit aufzuhören. Auch das hatte sie seit Jahren nicht mehr getan. All diese schrecklichen Sachen, die sie sich als Kind angewöhnt hatte, die ihr als Teenager wieder zu schaffen gemacht hatten und die sie überwunden zu haben glaubte, schlichen sich wieder bei ihr ein.
Sie würde keine Ruhe mehr finden, obwohl es draußen noch dunkel war. Dabei hatte sie sich vorgenommen, länger zu schlafen. Sie hatte nur wenig Freizeit, doch die Saison ging langsam zu Ende. Das Sunrise Lake Resort gehörte ihr nun schon seit mehreren Jahren, und sie hatte es von einer tristen, schlecht laufenden Ferienanlage in ein Touristikziel verwandelt, das nicht nur großen Gewinn abwarf, sondern auch die örtlichen Unternehmen auf Erfolgskurs gebracht hatte. Sie liebte dieses Resort, alles daran, sogar die harte Arbeit. Die ganz besonders. Sie blühte auf, wenn sie Probleme lösen musste, und hier gab es jede Stunde ein neues, sodass sie ständig reagieren musste. Sie brauchte das, und als Managerin und später Besitzerin von Sunrise Lake bekam sie es.
Als der vorherige Besitzer vor vier Jahren beschlossen hatte, es sei an der Zeit, sich zurückzuziehen, hatte er ihr die Anlage verkauft. Sie hatten die Übernahme unter der Hand gehalten, und er hatte das erste Jahr so weitergemacht, als würde noch alles ihm gehören. Doch im Laufe der Zeit waren seine Besuche immer seltener geworden. Stella hatte das Haupthaus renoviert, aber für ihn für diese Fälle eine besondere Hütte bereitgehalten.
Das Anwesen war wunderschön, hoch in den Bergen und um einen recht großen Uferabschnitt des Sunrise Lake gelegen. Knightly, die nächste Stadt, erreichte man in einer Stunde über eine ziemlich kurvige Straße talabwärts. Der Ort war klein, und die Gemeinschaft daher umso enger verbunden.
Stella hatte dort gute Freunde gefunden. Es gefiel ihr, in der Provinz zu leben. Da fühlte sie sich geerdet, verbunden, lebendig. Und es gab sehr viele Freizeitmöglichkeiten, von Skilaufen über Wandern bis hin zum Klettern. Sie passte in diese Gegend. Und sie würde das alles nicht wegen ein paar Albträumen wegwerfen. Das wäre zu dumm. Das Problem war nur, dass die Träume so lebhaft waren und immer detaillierter wiederkehrten.
Es war ja auch nicht so, als gäbe es einen Toten – bislang jedenfalls nicht. Ihr schauderte. Aber es würde einen geben. Sie wusste es. Mit absoluter Sicherheit. Irgendwo würde in den nächsten zwei Tagen ein Angler ermordet werden. Doch man würde keinen Beweis für einen Mord finden. Sie musste aufhören, darüber nachzudenken, sonst wurde sie verrückt.
Sie stieg aus dem Bett und ging unter die Dusche. Sie hatte bei der Renovierung besondere Aufmerksamkeit auf das Bad und die Küche gelegt. Sie kochte sehr gern, aber vor allem wollte sie nach einem langen Arbeitstag genug heißes Wasser zum Duschen und Baden haben. Entsprechend war ihr großes Bad eine wahre Wucht.
Die frei stehende Badewanne war tief und die Dusche viel geräumiger als üblich. Es gefiel ihr, so viel Platz zu haben und Düsen auf allen Seiten, weil sie oftmals von der Arbeit oder ihren Freizeitaktivitäten Muskelkater hatte. Oder weil sie die ganze Nacht mit ihren Freundinnen durchgetanzt hatte. Deshalb passte ihre Dusche perfekt für sie.
Sie hatte das Haus für zwei Personen eingerichtet, obwohl sie nicht glaubte, dass sie jemals eine bessere Hälfte haben würde. Sie war zu distanziert. Sie erzählte niemandem von ihrer Vergangenheit, nicht einmal ihren engsten Freunden. Und sie verabredete sich nicht. Sobald ihr jemand zu nahe kam, zog sie sich zurück.
Das heiße Wasser rann über ihr dichtes blondes Haar. Darauf war sie ein wenig stolz, auch wenn sie es nur selten offen trug. Dank der finnischen Großeltern auf der mütterlichen Seite war es fast silbern, und sie hatte dieses sehr helle Haar zusammen mit den leuchtend blauen Augen wohl von ihnen geerbt. Die Dicke ihres Haars und die dunkleren Wimpern waren eine Gabe von der anderen Seite. Ihr Vater stammte aus einer wohlhabenden Familie in Argentinien und hatte ihre Mutter auf dem College in San Diego kennengelernt. Bei der Verteilung der Gene hatte Stella Glück gehabt.
Das heiße Wasser wusch die letzten Erinnerungen an den Albtraum fort und half gegen die Übelkeit in der Magengegend. Leider wollte dennoch jenes ungute Gefühl nicht weggehen. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sie hatte solche Albträume erst zweimal gehabt, und beide Male war die Realität noch schlimmer gewesen als die Träume. Seufzend drückte sie sich das Wasser aus dem Haar, schlang ein Handtuch darum und trocknete sich mit einem warmen Duschtuch ab.
Dann zog sie ihre Lieblingsjeans und ein bequemes T-Shirt an, streifte ein Sweatshirt über und stieg in ihre Stiefel, ehe sie sich das Haar flocht. Normalerweise föhnte sie es nicht, und da sie meist auch kein Make-up trug oder sich schick machte, wenn sie einen Tag freihatte, war sie schnell fertig.
»Bailey, ich kann nicht glauben, dass du immer noch schläfst. Steh auf, du fauler Hund.« Sie stemmte die Hände in die Hüften und versuchte, ihren Airedale, der nach wie vor in seinem Körbchen neben ihrem Bett lag, streng zu mustern.
Der Hund öffnete die Augen, schaute sie an und sah sich dann im dunklen Zimmer um, als wollte er sie fragen, ob sie verrückt sei, so früh aufzustehen. Dann erhob er sich mit einem schweren Stöhnen und folgte ihr durch das große Haus zur Tür. Draußen auf der Veranda zögerte Stella. Vor einer Weile hatte sie aufgehört, die Haustür abzuschließen und die Alarmanlage anzustellen, doch in letzter Zeit kroch ihr wieder öfter ein unangenehmer Schauer über den Rücken, und auch das Rumoren in der Magengegend war zurück. Geduldig wartete Bailey darauf, dass sie sich entschied.
Stella wusste, dass es lächerlich war, wie ein Schaf vor ihrer Tür zu stehen. Sie traf doch andauernd...




