E-Book, Deutsch
Fessel In die Welt
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-89656-664-5
Verlag: Querverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Roman
E-Book, Deutsch
ISBN: 978-3-89656-664-5
Verlag: Querverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Nach mehr als drei Jahrzehnten in Berlin legt Nell ein Sabbatjahr ein und zieht in die norddeutsche Kleinstadt, in der sie ihre Jugend verbracht hat - und in der ihre Mutter heute noch lebt. Aber eigentlich ist Nell auf der Flucht - vor ihrer eigenen Vergangenheit. Ihre große Liebe Irma hat sich nach fast zwölf Jahren überraschend von ihr getrennt, und seitdem hat Nell das Gefühl, dass die Zeit ihrer Mutter bald abläuft, und ihre eigene ebenfalls. Wo soll sie leben, wenn sie alt ist, und mit wem? Vielleicht ist es doch besser, zu den Wurzeln zurückzukehren, in eine Stadt, in der sie kaum jemanden noch kennt, in der sie aber ein Gefühl von Heimat empfindet. Aber die beschauliche Kleinstadt ist von ganz eigenwilligen Persönlichkeiten bevölkert: Nells unorthodoxe Mutter hat kein Interesse daran, umhegt zu werden, Louis, der benachbarte Zimmermann, trägt sein eigenes Geheimnis mit sich herum, und auch Beate, die das Hotel gegenüber leitet, hat noch einiges vor. Als Nell sich mit einer früheren Klassenkameradin einlässt, ist die ersehnte Ruhe wieder dahin. Dann steht auch noch Nells bester schwuler Freund, Jack, vor der Tür, und Nell muss sich entscheiden - gehen oder bleiben?
Karen-Susan Fessel, geboren 1964 in Lübeck, aufgewachsen in Meppen/Ems. Studium der Theaterwissenschaft, Germanistik und Romanistik, seit 1994 Schriftstellerin und freie Journalistin. Im Jahr 2020 erhielt Karen-Susan Fessel das Bundesverdienstkreuz am Bande für ihr literarisches Schaffen und soziales Engagement. Sie lebt in Berlin. Zahlreiche Veröffentlichungen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Mehr über die Autorin unter: www.karen-susan-fessel.de
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Teil I
Ende September
Nell Sie sah tatsächlich genauso aus. Sie sah genauso aus wie auf dem Foto, das sie Nell vorab in ihrer Mail geschickt hatte. Nur ein wenig blasser wirkte sie, als hätte der Berliner Altweibersommer ihr bereits in den wenigen Stunden ihres Aufenthaltes in dieser Stadt die Pigmente aus der Haut gezogen. „Guten Tag“, sagte sie und streckte die Hand aus, eine schmale, knochige Hand mit langen, dünnen Fingern, aber einem erstaunlich festen Druck. „Ich bin Aino.“ „Hallo. Komm rein.“ Nell trat zurück und ließ Hector los, der sofort schwanzwedelnd um die Füße der jungen Finnin herumzutänzeln begann und seinen kleinen Kopf so weit nach oben streckte, wie es ihm möglich war. „Das ist Hector, mein Hund.“ „Er sieht ja auch aus wie ein Hund“, sagte Aino in nahezu akzentfreiem Deutsch und bückte sich kurz, um Hector über den Kopf zu streicheln. Hector rannte eifrig vor ins Zimmer, um seine alte Quietscheente zu holen. Während er die Ente vor Aino auf den Boden warf und sich dann sofort daraufstürzte, ging Nell voraus ins Zimmer, das von der restlichen, langsam schwindenden Morgensonne erhellt war. „Das wäre dann das Zimmer. Hier, vorn neben dem Eingang, ist die Küche, gegenüber das Bad.“ Sie zog für Aino den zweiten Stuhl vom Tisch. „Das ist auch schon alles.“ Aino blieb in der Mitte des Zimmers stehen und sah sich um. Nach einem Moment wurde Nell klar, dass sie sich nicht setzen würde, und schweigend nahm sie selbst Platz. Die Sonnenstrahlen reichten genau bis zu den Füßen der jungen Finnin, die in hellen Sneakern einer Marke steckten, die Nell nicht kannte. Aino stand reglos da und sah sich um, ihre Augen wanderten über die karge Einrichtung – den schlichten, großen Holztisch mit seinen zwei Stühlen, das Bett mit dem gelben Überwurf darüber, das kombinierte Kleider- und Bücherregal, welches die gesamte Nische einnahm, Hectors viel zu großes Weidenkörbchen in der Ecke –, dann drehte sie langsam den Kopf und betrachtete die Fensterfront mit dem Balkon davor. Für einen Moment fühlte sich Nell wieder zurückversetzt in den Tag vor gut einem halben Jahr, als sie selbst die Wohnung zum ersten Mal betreten hatte. Es war ein eisiger Januarmorgen gewesen, die Sonne hatte viel tiefer gestanden als jetzt, es aber gerade noch über das Flachdachgebäude der Schulanlage auf der anderen Seite des Weges geschafft. Ihre Strahlen hatten den leeren Raum mit einem kalten, klaren Licht erhellt, das die Kratzer und Dellen, die der Vormieter auf dem hellen Laminatboden hinterlassen hatte, deutlich zum Vorschein gebracht hatte. Nell hatte genauso dagestanden wie ihre zukünftige Untermieterin in diesem Augenblick; genau wie sie hatte sie sich umgesehen, den Anblick der fremden Wohnung in sich aufgesogen und versucht, sich selbst darin zu sehen. Nell war es damals nicht gelungen; als der Angestellte der Hausverwaltung die Balkontür geöffnet und einen Schwall eisiger Winterluft hereingelassen hatte, war sie zusammengezuckt und hatte die Arme um den Oberkörper geschlungen, während Hector mit eifrigen Schritten durch den Spalt auf den Balkon hinausgelaufen war und seine kleine Schnauze durch die Belüftungsaussparungen in der Front der Balkonbrüstung gesteckt hatte. Es war Nell nicht möglich gewesen, sich in dieser kleinen, frisch sanierten Einzimmerwohnung vorzustellen, aber sie hatte sie dennoch genommen und war nur eine Woche später eingezogen. Jack hatte versucht, sie davon abzuhalten, aber sie hatte den Mietvertrag bereits unterschrieben, als sie ihm von der Wohnung erzählte. Adam, Lise und er hatten ihr beim Umzug geholfen, und die Missbilligung in ihren Gesichtern, als sie die wenigen Möbel und Kisten gemeinsam hineintrugen, hatte Nell zu einer Art trotzigem Aufbegehren verleitet. „Ich finde, die Wohnung passt zu mir!“, hatte sie wider besseres Wissen gesagt, aber Jack hatte den Kopf geschüttelt. „Sie passt vielleicht zu deiner Situation, aber nicht zu dir“, hatte er erwidert, und Lise hatte böse genickt. Nur Adam hatte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter gelegt. „Hier kann man es eine Weile gut aushalten“, hatte er gesagt, und so war es auch gekommen. Nell hatte es eine Weile gut ausgehalten. Aber diese Weile war nun vorbei. Aino drehte sich um, und im Gegenlicht wirkten ihre Augen immer noch erstaunlich hell. „Ja“, sagte sie. „Das ist eine schöne kleine Wohnung.“ Sie ließ ihre Umhängetasche, die sie über der Schulter trug, heruntergleiten und kam zu Nell herüber, um sich auf den freien Stuhl zu setzen, der immer noch dastand, als hätte er auf sie gewartet. „Ich finde sie gut. Hier kann man gut sechs Monate wohnen.“ Nell musste lächeln, aber Aino lächelte nicht zurück. Sie starrte Nell ernst an, aber Nell mochte sie trotzdem. Hector kam angetrabt und warf seine Ente erneut mit Schwung vor Ainos Füße, und als sie der Ente einen kleinen Schubs gab, stürzte er sich mit einem begeisterten Grunzen erneut darauf und schüttelte sie knurrend unter dem Tisch, über den hinweg Aino und Nell sich immer noch ansahen. „Hier ist meine Adresse, wenn etwas sein sollte“, sagte Nell und schob Aino einen Zettel zu. Aino nahm den Zettel und betrachtete ihn. „Gut“, sagte sie. „Bis März, ja?“ „Bis März, genau“, sagte Nell. „Erst mal. Und wenn du möchtest, kannst du gleich hierbleiben. Ich fahre schon heute.“ Nell war kein spontaner Mensch, noch nie gewesen. Schon als Kind hatte sie ihre Tage geplant, sich morgens beim Aufwachen Dinge vorgenommen, die sie erledigen und erleben wollte; insgeheim führte sie jeden Tag aufs Neue eine imaginäre Strichliste, auf der sie mit einem tiefen Gefühl der Befriedigung abhakte, was sie hatte umsetzen können. Nicht wenige Male war ihr Hang zur Organisation und Strukturierung bei anderen auf Unverständnis und Ärger gestoßen: „Mit dir kann man nichts spontan unternehmen“, hatte Irma oft mürrisch bemerkt, „alles musst du vorher planen. Selbst das Essen! Ich weiß doch heute noch nicht, was ich morgen essen will!“ Nell hingegen wusste meist genau, was sie am nächsten Tag essen wollen würde. Und sie wusste auch gern, wo sie in der folgenden Nacht schlafen würde, wenn sie auf Reisen ging. Manchmal störte sie sich selbst an ihrem Hang zur Planung, der sich mit steigendem Alter zuweilen zum Zwang ausgewachsen hatte, aber eigentlich hatte sie sich gut damit eingerichtet. Und jetzt brauchte sich Irma ja auch nicht mehr daran zu stören. An diesem warmen Septembertag aber hatte Nell spontan gehandelt. Sie hatte der verdutzten Aino den Schlüssel überreicht, Hector angeleint und sein Körbchen gegriffen und war gegangen. Als sie die Autotür zuzog, hatte es einen Moment des Zögerns gegeben, aber sie hatte ihn beiseitegewischt wie eine lästige Haarsträhne und den Motor gestartet. Kurz vor der Autobahnauffahrt hatte Jack angerufen, aber Nell hatte ihn weggedrückt und das Telefon ausgeschaltet. Dann hatte sie den Blinker gesetzt und die steile Kurve zur Auffahrt genommen, und erst, als sie die Stadtautobahn schon lange hinter sich gelassen hatte und das Navigationsgerät die nächste Abzweigung in 297 Kilometern anzeigte, erst da fiel ihr auf, dass ihre Hände sich so stark um das Lenkrad gekrampft hatten, dass die Fingerknöchel weiß hervorragten. Erst über zwei Stunden später hatte sie angehalten, um Hector hinauszulassen und einen dünnen Kaffee auf einem Autohof zu trinken. Der Kaffee schmeckte schlecht, aber dennoch nach Ungewissheit und damit nach Freiheit. Nell legte beide Hände um den Becher und den Kopf in den Nacken. Über ihr wölbte sich der strahlend blaue Nachmittagshimmel; nicht eine Wolke war zu sehen. Die bereits abgeernteten Weizenfelder hinter der Tankstelle leuchteten in einem satten Gelb, ein Schwarm Feldsperlinge stob tschilpend auf und flog mit rauschendem Flügelschlag davon. Hector trabte den ausgefahrenen Feldweg entlang und blieb an einem vertrockneten Ginsterbusch stehen, um ausgiebig daran zu riechen. Für einen winzigen Moment fiel Nell die Angst an, von hinten, unvermittelt, mit Wucht. Was, wenn sie sich falsch entschieden hatte? Das nächste halbe Jahr erstreckte sich auf einmal vor ihr wie eine Unendlichkeit und zugleich wie ein Nadelöhr, durch das sie hindurchmusste, ohne sehen oder auch nur erahnen zu können, was danach kam. Nell streckte sich, trank ihren Kaffee aus und rief Hector, der bereitwillig angerannt kam, mit gespitzten Ohren und einem abenteuerlustigen Ausdruck im Gesicht. Hector lebte, das vermutete Nell zumindest, ausschließlich in der Gegenwart, die damit letztlich zur Unendlichkeit gerann. Manchmal hoffte sie, dass etwas von Hectors Unbekümmertheit auf sie abfärbte. Vielleicht aber konnte sie sich auch einfach dazu entschließen, nicht mehr weiterzudenken als bis zum nächsten Tag. „Komm, Hector, weiter geht’s!“, sagte sie und zerknüllte den Pappbecher in ihrer Hand. Hector rannte vor ihr den Weg entlang, auf kurzen Beinen und mit wehenden Ohren, munter und neugierig auf das, was ihn erwartete. Nell schloss die Augen und holte tief Luft. „Weiter geht’s“, sagte sie ein zweites Mal, und diesmal hörte es sich für sie selbst an wie ein Credo. Sie brauchte länger als sonst für die Fahrt. Kurz vor Hannover geriet sie an einer Baustelle in einen Stau, und als es Nell schließlich gelang, nach einer Dreiviertelstunde, in der sie nur wenige hundert Meter vorangekommen war, von der Autobahn...