Buch, Deutsch, 448 Seiten, Format (B × H): 135 mm x 205 mm
Buch, Deutsch, 448 Seiten, Format (B × H): 135 mm x 205 mm
ISBN: 978-3-96362-285-4
Verlag: Francke-Buch
Michelle ist mit gerade mal 25 Jahren verwitwet und weiß nicht, wie das gehen soll – ein Leben ohne Armin. Als sein Literaturagent sich bei ihr meldet und sich nach dem noch unbeendeten Manuskript des Finales von Armins Bestsellerreihe Neema erkundigt, gibt es für sie nur eine Option: das Buch selbst zu Ende schreiben. Für Armin. Zum Glück ist da Chrys – ihre und Armins beste Freundin –, die trotz all ihrer eigenen Baustellen nicht zulässt, dass Michelle die Flinte ins Korn wirft. Und dann mischt sich unerwartet auch noch Michelles Schwägerin Lara ein, die sie bislang eigentlich für relativ unerträglich gehalten hat.
Bald merken die drei Frauen: Armin mag nicht mehr bei ihnen sein, aber seine Worte sind es. Und Worte können Leben verändern …
Autoren/Hrsg.
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Kapitel 1 – Michelle
»Brauchst du Hilfe mit dem störrischen Stück Stoff?«
Meine Schwester heiratet und ich kann nicht zu ihrer Hochzeit gehen.
Für Armin und Michelle steht in goldener Glitterschrift auf der Einladung. Aber »Armin und Michelle« gibt es nicht mehr. Meine kleine Schwester heiratet und ich bin eine fünfundzwanzigjährige Witwe.
Ich stehe inmitten meines begehbaren Kleiderschranks, der eigentlich nur eine aufgemotzte Abstellkammer ist, und befinde mich zum dritten Mal an diesem Morgen in einem erbitterten Kampf mit den Tränen. Sie sind zwei zu null in Führung.
Was um alles in der Welt soll ich auf einer Hochzeit? Ich kann versichern, dass ein wandelnder Springbrunnen wie ich kein besonders angenehmer Gast für so eine Feierlichkeit ist. Der einzige Grund, warum ich mich heute Morgen trotzdem aus dem viel zu großen Doppelbett gequält habe, ist unsere Verwandtschaft, die aus halb Deutschland angereist ist. Ich weigere mich, ihnen den Gefallen zu tun, zu Hause zu bleiben, nur damit sie sich keine Gedanken machen müssen, wie sie der armen, trauernden Michelle begegnen sollen. Nein, das gönne ich ihnen nicht. Lieber vermiese ich ihnen die Gelegenheit, ihre schicken Ballkleider und Smokings auszuführen, mit meiner unglücklichen Miene und den unvermeidlichen Tränenausbrüchen.
Na ja, und dann ist da noch Beatrice, der ich versprochen habe zu kommen. Meine kleine, verliebte, überglückliche Schwester. Sie hat mich geradezu angefleht, an ihrem großen Tag dabei zu sein. Als käme es ihr gar nicht in den Sinn, dass eine Hochzeitsfeier der letzte Ort ist, an dem eine frisch verwitwete Frau einen ganzen Tag zubringen will. Sich liebevoll gewisperte Trauversprechen anzuhören, bis dass der Tod euch scheide – und wer weiß schon, wann das ist –, beim Sektempfang munter mit all den Tanten und Onkeln, Cousinen und Cousins und nicht zu vergessen meinem Bruder und seiner wunderbaren Gattin über den neusten Klatsch zu plaudern und dann bis spät in die Nacht ausgelassen zu tanzen? Aber es ist Beatrice’ großer Tag und ich bin ihre Schwester. Natürlich will sie mich dabeihaben und wahrscheinlich ist ihr auch gar nicht klar, wie schwer es mir fällt, ihr diese Bitte zu erfüllen.
Es ist Folter. Ich bin erst seit einer guten Stunde wach und schon jetzt ist dieser Tag eine Qual. Ich will nicht mit fromm gefalteten Händen in der ersten Kirchenbank sitzen und rührselig lächeln, ich will nicht hundertunddreiundvierzig Leuten begegnen, die zwar ganz genau wissen, dass Armin tot ist, aber sich nicht sicher sind, ob es besser wäre, mich an diesem Tag nicht darauf anzusprechen, nicht daran zu erinnern, dass er mit mir hier sein sollte – als würde ich es auch nur für eine Sekunde vergessen. Ich will nicht von der Hochzeitstorte essen, bis mir schlecht wird, ich will nicht von vermeintlich mitfühlenden Cousins zum Tanzen aufgefordert werden und ich will nicht mein Glas auf die große Liebe von Beatrice und ihrem Erik heben. Alles, was ich will, ist, Armin wiederzuhaben.
Es steht drei zu null für die Tränen, noch ehe ich es geschafft habe, mir die alberne hauchdünne Strumpfhose anzuziehen, die schon vom bloßen Angucken Laufmaschen bekommt. Ich beschließe, dass es mir egal ist. Wer sieht das schon unter einem bodenlangen Abendkleid? Und selbst wenn, dann denken die Leute ja doch nur: »Arme Michelle. So verwirrt, dass sie gar nicht bemerkt, wie sie herumläuft.«
Ich merke es wohl und gebe mir ehrlich Mühe. Ich trage sogar Kajal und Wimperntusche auf, als wäre es nicht völlig nutzlos. Ja, ich binde mir auch noch das dunkle Haar mit einer farblich zu meinem Outfit passenden Satinschleife zurück: schwarz. An das türkisfarbene Kleid, das ich eigentlich für diesen Anlass vorgesehen hatte und das in einem Kleidersack in meinem begehbaren Kleiderschrank hängt, will ich gar nicht denken.
Während ich vor dem Badezimmerspiegel stehe und versuche, die Spuren von fast vier Wochen Trauer aus meinem Gesicht verschwinden zu lassen, stelle ich mir vor, wie ich Armin im Schlafzimmer nebenan mit seiner Krawatte reden höre – wie immer, wenn er eine tragen muss. »Nun komm schon, du störrisches Stück Stoff!«, ruft er frustriert aus, als alles gute Zureden nichts gebracht hat.
»Störrisches Stück Stoff«, wiederhole ich amüsiert und so laut, dass er es hören kann.
»Das ist eine Alliteration«, brummt Armin nebenan. Literarisch kann ihm keiner was vormachen, aber was Krawattenknoten angeht, ist er ein Laie. Mein Mann ist durch und durch Autor. Tags, nachts, bei der Arbeit, am Frühstückstisch, im Bett und sogar dann, wenn er mit seiner Krawatte streitet.
»Michelle!«, ruft er verzweifelt aus dem Schlafzimmer. »Meine Krawatte, das störrische Ding, will nicht so, wie ich gern will!«
Ich pruste und rutsche prompt mit der Mascarabürste ab. Sie kollidiert mit dem Spiegel und hinterlässt einen dicken schwarzen Streifen auf dem Glas. Noch während ich notdürftig mit einem Stück Klopapier daran herumwische, werde ich aber wieder ernst.
Früher hätte ich an dieser Stelle eines solchen Krawattengesprächs alles stehen und liegen gelassen – die offene Wimperntusche und den Fleck auf dem Spiegel –, wäre hinüber zu Armin gegangen und hätte ihm die Krawatte gebunden. Aber heute kann ich nicht. Ich will genauso gerne wie sonst auch. Mein heillos überforderter, rührend verzweifelter Mann im Kampf mit schicker Kleidung, die er nicht leiden kann. Nichts würde ich lieber tun, als ihm zur Hand zu gehen und mir dafür einen Kuss abzuholen.
»Du bist unersetzlich, Michelle!«
»Ja, wie praktisch. Haushälterin und Köchin in einem.«
»Und Geliebte.«
»Hey, lass das sein! Das Kleid habe ich eben erst angezogen!«
»Ja, anziehen kannst du gut. Abendkleider, Krawatten ... ich kümmere mich dann um das Ausziehen, ja?«
»Ein andermal.«
»Heute Abend?«
»Jedenfalls nicht jetzt!«
Ich rubble mit dem ausgefransten Papiertuch über das Glas, als hinge mein Leben davon ab. Meine Brust wird so eng, dass ich kaum atmen kann, wenn ich daran denke, dass ich dieses Mal nicht nach nebenan gehen und Armin helfen kann, sein störrisches Stück Stoff zu binden. Denn anders als in meiner Erinnerung ist Armin heute nur eine Stimme in meinem Kopf. Wie die zahlreichen Figuren seiner Romane, deren Stimmen er immer behauptet hat zu hören.
Ob er wohl auch jemals diese erstickende Angst gespürt hat, sich umzudrehen und festzustellen, dass sie nicht wirklich da sind?
* * *
Genau wie bei meiner Hochzeit damals macht meine Mutter ein riesengroßes Tamtam aus Beatrice’ glücklicher Vereinigung mit Erik Kipfmüller. Er arbeitet zwar nur im Einzelhandel, aber da verdient er nicht schlecht, und das Beste ist, dass er das Geschäft seines Vaters erben und Beatrice deshalb bestimmt nie irgendwohin – weit weg von Ansbach und ihrer Familie – entführen wird. Nicht wie der andere Schwiegersohn, der die bedauernswerte Michelle dazu überredet hat, mit ihm fast zwanzig Kilometer entfernt ins ländliche Nirgendwo von Mittelfranken zu ziehen. Wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, muss ich gestehen, dass ich auch immer vorhatte, in meiner Heimatstadt Ansbach zu bleiben. Aber Armin zuliebe und um meiner Familie zumindest ein bisschen zu entkommen, habe ich mich eben darauf eingelassen. Und so schlecht ist es nicht.
»Michelle, du sitzt auf der falschen Seite!« Meine Mutter drückt mich kurz und kräftig an sich, ehe sie mich über den Mittelgang bugsiert, damit ich mich zu unseren Verwandten setze. »Eriks Familie sitzt links. Die Familie der Braut immer rechts. Das hier ist immerhin eine evangelische Trauung. Setz dich einfach und mach dir keine Gedanken. Ich habe alles im Griff.«
Bis eben habe ich relativ erfolgreich versucht, mir keine Gedanken zu machen. Ich habe es eigentlich recht gut geschafft, überhaupt nicht zu denken. Aber jetzt hat Großtante Adelheid mich in ihren Klauen.
»Michelle, Kindchen«, begrüßt sie mich mit sehr gewichtiger Miene. »Wie geht es dir?«
Ich bin mir nicht sicher, ob sie ein beschwichtigendes »Fabelhaft!« oder doch lieber ein mit den Tränen ringendes »Man lebt!« erwartet. Also nicke ich nur.
»Ach Kindchen«, seufzt Großtante Adelheid, als hätte ich ihr soeben mein Herz ausgeschüttet. »Ich verstehe dich. Es ist so grausam. Wie lange ist es jetzt her?« Aber sie wartet keine Antwort ab. »Ach, ich weiß noch, als damals mein lieber Reiner – Gott hab ihn selig – so überraschend und viel zu früh starb, da dachte ich, ich könnte niemals weiterleben. Aber«, fährt sie ohne Punkt und Komma fort, »es ging. Die Zeit heilt bekanntlich alle Wunden. Auch bei dir, Kindchen, auch bei dir. Du wirst sehen.«
Ich zähle in meinem Kopf bis zehn. Zuerst auf Deutsch, dann auf Französisch und schließlich versuche ich es noch auf Finnisch, doch das bekomme ich nicht mehr hin. Die Sieben fehlt. Es bringt aber auch nichts, denn ich bin danach noch genauso kurz vor einer Mischung aus Wut- und Tränenausbruch wie zuvor.
»Du entschuldigst mich«, presse ich hervor und springe auf, während ich mich nach einer Fluchtmöglichkeit umsehe. Nur weg, ehe ich Großtante Adelheid an den Kopf werfe, dass Onkel Reiner zweiundachtzig Jahre alt und seit Jahren krank gewesen ist, als er starb. Von überraschend und viel zu früh kann gar nicht die Rede sein. Armin dagegen war siebenundzwanzig, verflixt noch mal. Das ist kein angemessenes Alter, um zu sterben.
Am liebsten würde ich Großtante Adelheid erzählen, wie er am Morgen das Haus für einen Besuch bei einem Bibelforscher, den er für Recherchen interviewen wollte, verließ und nicht wiederkam. Wie stattdessen der furchtbare Anruf kam. Aus irgendeinem Krankenhaus in Nürnberg, obwohl ich doch genau wusste, dass Armin eigentlich in ein Kaff in der Nähe von Weißenburg hatte fahren wollen. Wie ich eine Nachbarin bitten musste, mich dorthin zu bringen, weil wir nur ein Auto haben, und wie wir ohne Navi wertvolle Minuten durch zwei versehentliche Umwege verloren haben. Wie ich mich beeilte, um schnell bei Armin zu sein, und wie man mir dort nur noch seine persönlichen Dinge aushändigen und mir einen Krankenhausseelenklempner schicken konnte.
Das ist überraschend und grausam und was sonst noch alles Großtante Adelheid so über den Tod zu sagen hat. Am Morgen noch Ehefrau und am Abend Witwe. Wenn ich wenigstens rechtzeitig bei ihm gewesen wäre.
Ich sehe Erik vor dem Altar stehen und nervös sein Einstecktuch richten und gehe, ohne großartig darüber nachzudenken, auf ihn zu.
»Brauchst du Hilfe mit dem störrischen Stück Stoff?«, frage ich und der wartende Bräutigam zuckt vor Schreck zusammen.
»Oh, nein, nein.« Fahrig stopft er das Tuch tiefer in seine Jacketttasche und zerknautscht dabei den Reversanstecker ein wenig.
»Bist du nervös?« Blöde Frage, die Nervosität steht ihm ins Gesicht geschrieben.
»Oh ja ... schon ein bisschen«, meint Erik. »Wie ge... ähm ... wie ist es für dich? Glaubst du, du schaffst das?«
Ebenfalls eine blöde Frage. Ich habe keine Ahnung, wie ich den Traugottesdienst durchhalten soll. Wahrscheinlich steht mir das auch ins Gesicht geschrieben.
Also schweigen wir.
Ich sehe Erik zu, wie er immer ein paar Schritte vor und dann wieder zurück tippelt und dabei zum Eingang schielt, vielleicht in der Hoffnung, jetzt schon einen klitzekleinen Blick auf seine schöne Braut zu erhaschen. Unwillkürlich frage ich mich, ob Armin an unserer Hochzeit auch so aufgeregt gewesen ist. Eigentlich habe ich es mir strengstens verboten, heute zu viel über ihn nachzudenken, aber kaum hat mich dieser Gedanke auch nur gestreift, tue ich die ganze Zeremonie über nichts anderes mehr.
Als es losgeht, schiebe ich mich hastig zurück neben Großtante Adelheid in die Bank und dann sitze ich eine Stunde lang in Gedanken versunken da wie ein Roboter, der nur eine einzige Funktion kennt: heulen.
Die Erinnerung an Armins und meine Hochzeit ist noch so frisch, als wäre es gestern gewesen. Verflixt, es ist ja auch erst knapp drei Jahre her. Wenn es nach meiner Mutter gegangen wäre, hätten wir natürlich länger gewartet, aber Geduld ist noch nie meine Stärke gewesen. Nach der Verlobung hat es ganz schnell gehen müssen. Vier Monate später standen wir vor dem Traualtar und leider haben es die meisten meiner Verwandten trotzdem spontan nach Ansbach geschafft. Doch damit konnte ich leben. An diesem Tag hatte ich sowieso nur Augen für meinen gut aussehenden Bräutigam mit seinem tiefschwarzen Anzug und einem weinroten störrischen Stück Stoff um den Hals. Ich frage mich bis heute, wer es ihm an diesem Morgen wohl gebunden hat.
Der Pfarrer fragt Erik und Beatrice, ob sie einander in guten wie in schlechten Tagen treu sein wollen, bis dass der Tod sie scheide, und sie antworten beide, was man von ihnen erwartet: Ja, mit Gottes Hilfe.
Armin und ich haben unsere eigenen Trauversprechen geschrieben. Natürlich ist das Armins Idee gewesen – ganz der Autor. Meines ist mir ein bisschen blass vorgekommen neben seinem literarischen Wunderwerk von einem Gelübde, das selbst meine hoheitsvolle Mutter zu Tränen gerührt hat. Das habe ich genau gesehen.
»Ist ja gut, Kindchen«, tröstet Großtante Adelheid mich und reicht mir zum wiederholten Mal ein Taschentuch. Wahrscheinlich wünscht sie sich, ich würde endlich still sein. Zu meinem gelegentlichen Schniefen ist seit einigen Minuten ein Schluckauf hinzugekommen.
»Was Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht trennen«, verkündet der Pfarrer feierlich, und als er die Gemeinde anstrahlt, nutzen Beatrice und ihr frischgebackener Ehemann den Moment für einen schnellen Hochzeitskuss.
»Der Mensch nicht«, denke ich bitter. Als wäre es Armin und mir – trotz gelegentlicher Streitereien – je in den Sinn gekommen, einander zu verlassen. Es sollte besser heißen: Was Gott zusammengefügt hat, das soll niemand trennen. Auch er selbst nicht.




