Buch, Deutsch, 360 Seiten, Format (B × H): 133 mm x 201 mm, Gewicht: 358 g
Der Kampf um die Krone
Buch, Deutsch, 360 Seiten, Format (B × H): 133 mm x 201 mm, Gewicht: 358 g
Reihe: Die Fischerkinder / Melissa C. Feurer
ISBN: 978-3-96362-275-5
Verlag: Francke-Buch GmbH
Das dramatische Finale der »Fischerkinder« – jetzt bei Francke!
Nach ihrer spektakulären Flucht leben Mira und Chas in den USA in Sicherheit, doch der Gedanke an ihre geliebte Heimat, die unter dem Regime von König Auttenberg leidet, lässt ihnen keine Ruhe. Es droht ein Krieg mit grausamen Folgen für alle Beteiligten. Wer kann die Katastrophe noch abwenden – wenn nicht Chas, der Sohn des Königs?
Unter Lebensgefahr wagen Mira und Chas den Weg zurück in die Rebellenstadt. Sie haben nur ein Ziel vor Augen: Chas muss sich der Begegnung mit seinem Vater stellen. Eine Konfrontation, die nur tödlich enden kann …
Weiterhin lieferbar:
• Band 1: Die Fischerkinder – Das verbotene Buch
ISBN 9783754340806 (Book on Demand)
• Band 2: Die Fischerkinder – Im Auge des Sturms
ISBN 9783961400621 (Brendow)
Autoren/Hrsg.
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Kapitel 1
Die Botschaft
»Vorsicht!« Eine Hand schloss sich um Miras Arm und hielt sie davon ab, den ersten Schritt auf den Fußgängerüberweg zu setzen.
Sie fuhr herum und blickte in Chas’ Gesicht, das eine Mischung aus Schrecken und Spott spiegelte. »Wenn ich richtig gezählt habe, ist das jetzt schon das dritte Mal, dass du beinahe überfahren worden wärst.«
Mira hatte keine Zeit, ihm zu erklären, dass er bei einem der drei Male zumindest beteiligt, wenn nicht gar schuld gewesen war. Sie war zu sehr damit beschäftigt, das Gefährt zu betrachten, vor das sie eben um ein Haar gelaufen wäre. Kein Wunder, dass sie es übersehen hatte: Alles, was es auf Augenhöhe zu sehen gab, waren sechs schmale Stelzen, die in glänzend schwarzen Gleisen im Asphalt verankert waren. Um das eigentliche Fahrzeug zu sehen, musste Mira den Kopf in den Nacken legen. Es glitt etwa in Höhe eines zweiten Stockwerks dahin und erinnerte an eine Mischung aus Düsenjet – etwas, das Mira nur aus Büchern kannte – und Zugwaggon.
Mit großen Augen sah Mira der seltsamen Konstruktion nach, die an ihnen vorüberzog und das Ende einer Autoschlange an der nächsten Kreuzung erreichte. Anstatt jedoch ebenfalls anzuhalten, glitt das Stelzengefährt über die wartenden Autos hinweg, um hundert Meter weiter abzubremsen und sich mit blinkenden Rücklichtern auf die Fahrbahn herabzusenken wie eine Art überdimensionaler Aufzug. Zwei doppelte Schiebetüren öffneten sich und spien eine Handvoll Passagiere auf den Bürgersteig aus, ehe das Fahrzeug wieder in luftige Höhe emporglitt, nur seine dünnen Stelzenbeine zurücklassend, auf denen es sogleich an die Spitze der nächsten Ampelschlange schwebte.
»Faszinierend, oder?« Aleksi trat neben die beiden und grinste sie schief an. »Aber keinen Verkehrsunfall wert, würde ich sagen. Wenn Sie gestatten?« Damit hielt er Mira seinen angewinkelten Arm hin, um sie über die mittlerweile freie Fahrbahn zu bugsieren. »Aber ich sehe ihnen, offen gesagt, auch immer noch gerne zu. Wir haben sie erst seit ein paar Jahren und nur auf drei Bahnlinien«, erzählte er in seinem breiten Akzent, an den Mira sich anfangs hatte gewöhnen müssen. »Aber in New York City, da haben sie den Verkehr der Rush Hour schon vor zehn Jahren revolutioniert. Kaum Verspätungen, wenn du damit unterwegs bist.«
Sie erreichten die andere Straßenseite und Aleksi bedeutete ihnen, in eine kleine Seitenstraße abzubiegen. Obwohl sie zu beiden Seiten von schwindelerregend hohen Gebäuden gesäumt war, war Mira ein wenig enttäuscht. Sie hätte gerne mehr von der großen, mehrspurigen Straße mit ihren Fahrzeugen und Passanten, Häusern und Geschäften gesehen.
»Ah, das ist besser«, befand jedoch Chas an ihrer Seite. »Und für Mira entschieden ungefährlicher.« Er zwinkerte Aleksi zu, der in schallendes Gelächter ausbrach.
Mira schüttelte den Kopf über die beiden. Chas’ Onkel war von Natur aus ein Mensch, der die Dinge leichtnahm und über beinahe alles lachen konnte. Aber vermutlich ahnte er nicht, wie ungewöhnlich ein solches Verhalten für Chas war. Mira war nicht einmal sicher, ob es daran lag, dass sie Amerika endlich erreicht hatten und Chas zum ersten Mal wirklich frei war, oder schlicht und einfach an Aleksis Einfluss auf seinen Neffen. Jedenfalls sah sie die beiden auch zu Hause in Aleksis und Phoebes kleinem Bungalow oft herumalbern, und heute schienen sie in Anbetracht ihres Ausflugs nach Denver fast schon überdreht. Seit sie aus Aleksis klapperigem, fünfsitzigen Pick-up gestiegen waren, zogen die beiden Männer Mira damit auf, dass sie im Gegensatz zu ihnen beiden ein echtes Landei war. Immerhin war Aleksi in Helsinki geboren und aufgewachsen und Chas in Vacabunite, der Hauptstadt ihres Heimatlandes.
»Wenn ich ehrlich bin, bevorzuge ich trotzdem euer kleines Dörfchen«, meinte Chas jedoch, während sie den Lärm der großen Straße weit hinter sich ließen. »Es ist so friedlich und übersichtlich.«
»Jaah«, erwiderte Aleksi gedehnt. »Ja, bei uns liegt im wahrsten Sinne des Wortes der Hund begraben. Wenn wir Gehsteige hätten, würden wir sie am Abend hochklappen. Da braucht sie sowieso keiner mehr.« Er seufzte theatralisch. »Aber Phoebe liebt es. Tja, und ich liebe Phoebe, also ...« Er zuckte die Schultern.
»Ich glaube, ich würde gerne hier leben.« Mira sah über ihre Schulter zur großen Straße zurück. Die Wahrheit war, dass sie am liebsten jeden Winkel von Denver erkundet hätte. Sie wollte mit einem der Stelzengefährte über den Verkehr hinweggleiten und die vielen tausend und abertausend Autos unter sich zählen. Sie wollte die bunten Paradiesvögel, an die all die schrill gekleideten Menschen hier erinnerten, so lange anstarren, bis sie sich endlich an ihren Kleidern und Anzügen, Frisuren und Schmuckstücken sattgesehen hätte. Und sie glaubte nicht, dass das allzu bald der Fall sein würde.
Aber Aleksi ging weiter und Mira verlegte sich daher darauf, die Häuser zu betrachten, die diese Straße säumten. Zwei Querstraßen weiter blieben sie vor einem mehrstöckigen Gebäude stehen, das von oben bis unten nur aus Fenstern zu bestehen schien. Das spiegelglatte Glas reflektierte die Sonne und das Abbild von Mira und ihren beiden Begleitern. Aleksi, klein und drahtig, mit Kinnbärtchen und einem karierten Flanellhemd, das er offen über einem T-Shirt trug. Chas, dunkelhaarig und karamelläugig, ungewohnt in seinem dunklen Sweatshirt und den Jeans. Und Mira dicht neben ihm, ebenfalls in Jeans und aus Gewohnheit in einem weißen Oberteil unter der dünnen Windjacke, allerdings viel figurbetonter und enger geschnitten als die ewig gleichen Blusen, die sie früher stets getragen hatte. Sie erkannte sich selbst kaum wieder.
»Sehr transparent.« Chas’ Feststellung riss sie aus den Gedanken. Auch er musterte das gläserne Gebäude vor ihnen. »Ist es das?«
Aleksi nickte. »Ja, Undurchsichtigkeit kann man zumindest ihrem Gebäude nicht vorwerfen. Es hat eine gewisse Ironie, oder? Diese moderne Fassade, ausgerechnet an der Botschaft von Nederdanland.«
Mira zuckte beim Klang dieses Namens unwillkürlich zusammen. In der Schule war sie Klassenbeste in Staatsgeschichte gewesen. Sie hatte alles gewusst: Präsidenten und Jahreszahlen, bedeutende und unbedeutende Ereignisse seit der Gründung ihres Heimatlandes. Aber nicht ein einziges Mal hatte sie sich gewundert, warum ihr so geliebtes Land nicht einmal einen Namen hatte. Nun musste sie nicht fragen, um die bittere Wahrheit zu ahnen: Wozu ein Land benennen, wenn es den Bewohnern verboten war, sich mit anderen Ländern zu beschäftigen? Ein Land, das sie niemals verlassen würden, das ihr ganzes Leben lang das einzige Land sein würde, das sie kannten, weil sie weder Handelsbeziehungen pflegten noch Kriege führten, weder reisten noch Kontakt zu Menschen außerhalb ihres eigenen Landes haben durften?
Beim Gedanken an die Dinge, die sie stattdessen im Staatsgeschichtsunterricht gelernt hatte, verspürte Mira in ihrem Inneren einen dumpfen Schmerz. Ihr damals so vollständiges und glorreiches Wissen erschien ihr nun schäbig, lückenhaft und vor allem falsch. Nichts hatte sie von den Umständen seiner Gründung gewusst, nichts von den drei Ländern, zu denen ihr Territorium einst gehört hatte – von den zahlreichen anderen Ländern dieser Welt ganz zu schweigen.
»Dann wollen wir mal.« Aleksi machte eine Bewegung, als wolle er eine Schar Hühner vorantreiben, und bereitwillig traten Mira und Chas vor ihm durch die automatischen Schiebetüren in den Innenraum der Botschaft.
Einen Moment lang noch beobachtete Mira durch die zahlreichen Fenster die Straße, die sie eben verlassen hatten, dann beeilte sie sich, Aleksi zu einer Art Schalter zu folgen, hinter dem ein junger Mann mit wild gemustertem Hemd und Koteletten saß. Mira fragte sich, ob er wie sie einmal ein Bürger Nederdanlands gewesen war. Sie hätte erwartet, dass sie ihm die gemeinsame Herkunft ansehen müsste, doch alles an seinem Verhalten war so ausgesprochen amerikanisch und fremd, dass sie ihn sich unmöglich in Einheitskleidung in den Straßen von Vacabunite vorstellen konnte.
Auch das Gespräch, das Aleksi mit ihm führte, fand auf Englisch statt, weshalb Mira nicht mehr als ein paar nutzlose Satzbrocken verstand. Zu Hause bei Aleksi und Phoebe sprachen sie stets in ihrer Landessprache, auch wenn Aleksi sie als gebürtiger Finne und jahrzehntelanger Wahlamerikaner nur gebrochen und mit starkem Akzent beherrschte. Selbst Phoebe hörte man nach so vielen Jahren in Amerika an, wie fremd ihre Muttersprache ihr geworden war.
»Gibt es ein Problem?«
Mira wandte sich zu Chas, der seinen Onkel mit einer steilen Sorgenfalte zwischen den Augenbrauen bei seinen Verhandlungen beobachtete. Sie selbst war so abgelenkt von ihren eigenen Beobachtungen gewesen, dass sie den dringlichen Tonfall, in dem Aleksi mittlerweile sprach, gar nicht bemerkt hatte. Jedes seiner Worte unterstrich er mit vehementen Gesten.
»Gibt es ein Problem?«, wiederholte Chas seine Frage drängender.
Zu ihrer beider Überraschung war es der Beamte im kunterbunten Hemd, der antwortete, und er sprach erstaunlich akzentfrei, jedoch mit einem weichen Dialekt, der Mira fremd war. Vielleicht, so überlegte sie mit einem neuerlichen Stich in ihrem Inneren, stammte er aus dem Westen ihres Heimatlandes, weit entfernt von Leonardsburg und Vacabunite, aus jener Gegend, die, wie sie nun wusste, früher zu den Niederlanden gehört hatte.
»Ein Problem würde ich es nicht nennen«, erklärte er und klang überaus freundlich und bedauernd. »Ich erklärte Ihrem Freund ...«
»Onkel«, korrigierte Aleksi hastig. »Auch wenn ich locker als sein Bruder durchgehen könnte.«
Der Beamte ging auf diesen Versuch eines Witzes gar nicht ein. »... nur eben, dass es ein langwieriger Prozess sein wird, die amerikanische Staatsbürgerschaft für Sie beide zu erhalten. Um genau zu sein, haben Sie großes Glück, auch nur eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen zu haben, nachdem Sie als illegale Einwanderer in dieses Land gekommen sind.«
»Als Flüchtlinge. Das ist ein Unterschied. Ein großer.« Zur Verdeutlichung schlug Aleksi mit der Faust auf den Tresen vor ihnen, schien sich dabei aber selbst albern vorzukommen, denn er zog die Hand hastig wieder zurück und erklärte ruhiger: »Die beiden mussten das Land aufgrund von Verfolgung und Gefahr für ihr Leben verlassen.«
»Die Angaben der beiden diesbezüglich werden sicher aufmerksam geprüft und die Plausibilität ihrer Geschichten ...«
»Geschichten? Ich gehe davon aus, dass Sie selbst in Neder-
danland gelebt haben und wissen, welche Zustände …«
»Mein eigener Migrationshintergrund tut hier nichts zur Sache.«
Mira entfuhr ein leises Schnauben. Sie hatte so eine Ahnung, dass ihr Gegenüber, wenn es noch in Nederdanland leben würde, in der Tat nicht die Standardkleidung eines einfachen Bürgers, sondern den schwarzen Anzug eines Staatsbeamten oder zumindest die blaue Uniform eines Wachpostens tragen würde. Das passte viel besser zu ihm und seinem wichtigtuerischen Gebaren – wenn auch nicht zu seinem weichen Dialekt, das musste sie zugeben.
»Ihre einzige Möglichkeit unter den gegebenen Umständen«, fuhr er auch schon fort, »ist, die hiesige – bedeutet: die amerikanische – Staatsbürgerschaft als zweite, untergeordnete Staatsbürgerschaft zu beantragen.«
»Das ist der erste vernünftige Vorschlag, den Sie machen«, brummte Aleksi. »Welche Papiere benötigen …«
»Fakt ist jedoch«, unterbrach ihn der Beamte, »dass Sie beide im Augenblick überhaupt keine Staatsbürgerschaft innehaben, da Ihr Land Ihnen selbige durch Ihre illegale Flucht aberkennt. Eine zweite Staatsbürgerschaft kann selbstverständlich nur bei Vorhandensein einer Hauptstaatsbürgerschaft bewilligt werden, wie Sie sicher verstehen können.« Noch immer gab sein Dialekt seiner Stimme einen sanften Klang, doch das hielt Mira nicht davon ab, mittlerweile selbst gegen den Impuls ankämpfen zu müssen, mit der Faust auf den Tisch zu schlagen oder noch besser auf die flache Computertastatur, die darin eingelassen war.
»Und was sollen wir Ihrer Meinung nach dann tun?«
»Sie haben die Möglichkeit, die Bürgerrechte für Ihr Heimatland hier auf der Botschaft erneut zu beantragen. Anschließend können Sie per Formular um die Gewährung einer zweiten Staatsbürgerschaft bitten.«
»Und wenn diese Bitte uns nicht gewährt wird?« Chas’ Stimme klang ruhig. Zu ruhig für Miras Geschmack. Ihrer Erfahrung nach gab sich Chas vor allem dann so übertrieben emotionslos, wenn in seinem Inneren ein Sturm tobte, den es zu verbergen galt.
»Das ist sehr unwahrscheinlich.« Der Beamte machte eine beschwichtigende Handbewegung, doch Chas’ Miene zeigte keinerlei Erleichterung. Mira musste nicht fragen, warum: Als Sohn des Königs von Nederdanland, jenes Monarchen, der das Volk so grausam unterdrückte und ausbeutete und sich, wie Mira mittlerweile wusste, bereits in aller Welt Feinde gemacht hatte, fürchtete Chas zu Recht, dass man ihm nicht so leicht eine zweite Staatsbürgerschaft in einem anderen Land gewähren würde.
»Was geschieht, wenn die Bitte dennoch abgelehnt wird?«, fragte sie leise und konnte das Zittern nicht ganz aus ihrer Stimme verbannen.
»Dann müssten Sie nach einer Frist von sechs Wochen in das Land Ihrer Hauptstaatsbürgerschaft zurückkehren.«
»Nach ... nach Nederdanland?« Das Wort ging Mira noch immer schwer über die Lippen, zumal diese in einer Mischung aus Zorn und Angst zu beben begonnen hatten. »Sie würden uns dahin zurückschicken, obwohl …«
»Wie ich eben schon sagte, dieser Fall ist äußerst unwahrscheinlich.«
»Es ist mir egal, wie unwahrscheinlich er ist!« Obwohl Miras Fingernägel sich schmerzhaft tief in die Handflächen gruben, ließ sich ihre Wut nicht länger unterdrücken. »Wie können Sie, wie kann irgendjemand es auch nur in Betracht ziehen, jemanden zurückzuschicken, der unter Lebensgefahr hierher geflohen ist? Sind Sie selbst nicht genau wie wir als Flüchtling hier angekommen und anscheinend mit offenen Armen empfangen worden? Alles, was wir wollen, ist, hier in Frieden zu leben!«
Sie wusste selbst nicht, was in diesem Augenblick in sie gefahren war, einem Beamten so unverblümt ihre Meinung zu sagen. Früher – in einem anderen Leben, wie ihr schien – hatte sie großen Respekt vor jedem Würdenträger und staatlichen Beamten gehabt. Dafür hatte ihr Vater, der selbst für die Staatsjustiz arbeitete, schon gesorgt. Doch vielleicht sprach in diesem Moment weniger das angepasste Mädchen aus der Leonardsburger Innenstadt aus ihr als vielmehr die Rebellin, die sie in der Hauptstadt Vacabunite geworden war. Vielleicht hatte sie zu lange im Untergrund gelebt und sich mit Staatsgegnern umgeben, um noch ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Oder vielleicht war es noch viel simpler und der Grund für ihren Ausbruch war schlicht, dass es nicht so sehr um ihre eigene Sicherheit ging wie um die von Chas, für den eine Rückkehr nach Nederdanland einem Todesurteil gleichkam.
»Mira ... lass mich das regeln, ja?« Aleksi trat ein wenig vor und begann nun wieder, in schnellem Englisch auf den Beamten einzureden. Mira versuchte noch einige Sätze lang, der Unterhaltung anhand von Mimik und Gestik zu folgen, doch musste bald einsehen, dass es keinen Sinn hatte. Stattdessen sah sie zu Chas, dessen Miene versteinert war.
Als sie Chas noch kaum gekannt hatte, als er noch der fremde Junge aus dem Schatten gewesen war, der als Vergessener im Inneren des Berges Klein-Ararat lebte, da hätte dieser verschlossene Gesichtsausdruck sie auf Abstand gehalten. Doch mittlerweile kannte sie Chas und seine Haltung löste das genaue Gegenteil in ihr aus: Sie spürte, wie ihre Wut auf den Beamten und das ganze System dahinschmolz und klein und unbedeutend wurde neben der Zuneigung, die sie für Chas empfand. Er hatte sich so lange nach dieser Freiheit gesehnt und an jedem Tag, den sie bisher hier verbracht hatten, hatte sie sehen können, wie gut sie ihm tat. Niemand durfte ihm das wieder wegnehmen, kaum dass er es endlich erlangt hatte.
Wortlos trat sie dichter zu Chas und lehnte die Stirn an seine Schulter. Sie seufzte, um ihm zu sagen, dass auch sie es leid war, kämpfen und diskutieren zu müssen. Sie hatte geglaubt, das alles ein für alle Mal hinter sich gelassen zu haben.
»Lasst uns gehen.«
Mira fuhr hoch, als Aleksi so unvermittelt wieder das Wort an sie richtete. Sie warf ihm einen verständnislosen Blick zu, doch er schüttelte den Kopf. »Später«, sagte er und stopfte einen Stapel Formulare ohne viel Federlesen in seine Umhängetasche.
Chas und Mira folgten ihm hinaus vor das verglaste Gebäude und ein ganzes Stückchen die Straße hinunter, ohne dabei auch nur ein einziges Wort zu wechseln. Die ausgelassene Stimmung, mit der sie nach Denver gekommen waren, war wie weggeblasen. Nicht einmal Aleksi schien noch zu Scherzen aufgelegt.
»Mira ... du musst vorsichtig sein«, ergriff er einige hundert Meter weiter das Wort.
Mira hatte gut Lust, gleich wieder aufzubrausen, darüber zu wüten, wie ungerecht das alles war und wie bitter enttäuschend, dass selbst hier im doch so freien Amerika König Auttenberg und sein Unrechtssystem noch solche Macht über sie hatten.
Doch Aleksi nahm ihr den Wind aus den Segeln. »Ich weiß, ihr habt euch das anders vorgestellt. Und du hast alles Recht, verärgert zu sein. Aber sich die falschen Leute zum Feind zu machen, das ist in diesem Land genauso wenig ratsam wie in eurem. Vor allem nicht, wenn es sich um Leute aus Nederdanland handelt. Du wirst vermutlich selbst gemerkt haben, dass eure Landsleute einen etwas empfindlichen Stolz haben.«
Mira schnaubte unwillig, zog es aber vor zu schweigen, als Chas ihre Hand ergriff. Natürlich hatte Aleksi recht – ganz besonders, was den Stolz betraf. Sie hatte es bei ihrem Vater erlebt, der kein schlechtes Wort über seinen Staat und dessen Tun hatte hören wollen. Ebenso war es bei Herrn Baron und seinen Kollegen gewesen, auch bei Auttenberg selbst, der jede noch so kleine Gruppierung fürchtete, deren Meinung von seiner Linie abwich.
»Habe ich die Situation noch schlimmer gemacht?«, fragte sie kleinlaut, fest entschlossen, sich nicht ebenfalls der selbstbezogenen Unbelehrbarkeit ihres Volkes schuldig zu machen.
Aleksi seufzte. »Ich denke nicht. Die Lage ist verzwickt, so oder so.«
»Und was sollen wir deiner Meinung nach tun?«, fragte Chas. Die Worte hätten angriffslustig klingen können, doch obwohl seine Miene immer noch steinern war, schien er wirklich interessiert am Rat seines Onkels. »Das Risiko eingehen und die nederdanländische Staatsbürgerschaft zurückbeantragen?«
»Auf keinen Fall. Du jedenfalls nicht und auch dir, Mira, würde ich dazu nicht raten. Wir beantragen eine Verlängerung eurer Aufenthaltsgenehmigung auf ein Jahr.« Er deutete auf seine Tasche, aus der die zerknautschten Ecken der mitgenommenen Unterlagen ragten.
»Ein Jahr? Und was dann?«
»Dann beantragen wir noch ein Jahr. Und noch eines und noch eines.« Aleksi machte selbst keinen besonders glücklichen Eindruck, doch er zuckte die Schultern. »Etwas Besseres fällt mir leider auch nicht ein.«
Mira umfasste Chas’ Hand fester, während sie fieberhaft überlegte, wie sie die nächste Frage stellen sollte, die sich als logische Schlussfolgerung ergab. Konnte man so etwas harmloser klingen lassen als es war? Aber an Aleksis Antwort würde alle Diplomatie nichts ändern.
Doch Chas war ohnehin schneller: »Was geschieht, wenn unser Antrag irgendwann nicht mehr genehmigt wird? Schicken sie uns dann nicht auch zurück?«
»Eigentlich dürften sie euch in Nederdanland auch nicht mehr aufnehmen, so ganz ohne Staatsbürgerschaft.«
»Oh klasse, dann schippern wir einfach für den Rest unseres Lebens mit einem dieser gemütlichen Transportschiffe zwischen den beiden Ländern hin und her«, entfuhr es Mira. Ihr leicht hysterisch klingendes Lachen ließ sich nicht einmal mit viel Mühe unterdrücken.
Aleksi schenkte ihr ein müdes Lächeln. »Ich denke nicht, dass das nötig sein wird. Im Notfall ist da auch noch Kanada. Und genügend andere Länder mit jahrelangen Abschiebeverfahren, sodass ihr euer ganzes Leben damit zubringen könntet, Staatsbürgerschaften zu beantragen und weiterzuziehen, wenn sie abgelehnt werden.«
»Tja«, erwiderte Chas trocken und drückte Miras Hand. »Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet wir einmal so viel von der Welt sehen würden?«




