Vom Konzept zur Anwendung in Psychotherapie und psychosozialen Arbeitsfeldern
E-Book, Deutsch, 464 Seiten
ISBN: 978-3-608-11952-7
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
Von den führenden Experten in diesem Themenbereich verfasst
Schulenübergreifendes Konzept für die Psychotherapie und die psychosoziale BeratungDas Konzept des Epistemischen Vertrauens ist das zentrale Charakteristikum für die Beziehungsarbeit und Veränderungsprozesse in der Mentalisierungsbasierten Therapie, findet aber darüber hinaus auch schulenübergreifend Eingang in andere Therapieansätze.
Das Buch führt praxisbezogen in das Konzept ein und gibt einen umfassenden Überblick über die entwicklungspsychologischen Grundlagen. Unter der Herausgeberschaft von Peter Fonagy und Tobias Nolte stellen führende deutsche und britische ExpertInnen die therapeutische und psychosoziale Arbeit mit epistemischen Störungen u. a. in diesen Bereichen dar:- Therapie von Persönlichkeitsstörungen
- frühe Interventionen
- Kinder- und Jugendpsychotherapie
- Gruppentherapie-Settings
- Online-Therapie
- pädagogische und soziale Arbeit
Zielgruppe
PsychoanalytikerInnen, PsychotherapeutInnen aller Fachrichtungen;
Alle TherapeutInnen, die mentalisierungsbasiert oder anderweitig beziehungsfokussiert arbeiten;
SozialpädagogInnen, Coaches
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
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Vorwort
Warum dieses Buch, werden Sie sich berechtigterweise gerade fragen, während Sie beginnen zu lesen? Wir können nicht genau wissen, warum und wie (oder durch wen) Sie bei diesem Buch gelandet sind. Neugier und ein gewisses Maß an Vertrauen, dass sich die Lektüre lohnt, werden Sie mit- und damit uns entgegengebracht haben. Das Konzept des epistemischen Vertrauens kann entwicklungspsychologisch begründet verständlich machen, wie sich Vertrauen in Therapien oder Behandlungs- und Betreuungsangeboten für Patient:innen,1 die biografisch wenig Grund haben zu vertrauen, dennoch entwickeln kann: Bestimmte anschauliche, eine Kommunikationsabsicht anzeigende Signale und eine mentalisierende Haltung der Therapeutin geben dem Patienten das Gefühl, in seiner Subjektivität gesehen und verstanden zu werden. Damit wird ihm ermöglicht, dem Wissen der Therapeutin epistemisch zu vertrauen, sich dadurch für neues Wissen und neue Erfahrungen in der sozialen Welt zu öffnen und neue Sichtweisen und mit diesen eine größere psychische Resilienz und Verbundenheit mit anderen zu erleben.2 Der folgende Satz wird ihnen deshalb entweder direkt oder in abgewandelter Form mehrfach in diesem Buch begegnen; er zieht sich wie ein roter Faden durch die verschiedenen Kapitel, weil er die uns so zentral erscheinende Prämisse des Buches so gut einfängt: »Um es ganz simpel auszudrücken: ›Wenn ich das Gefühl habe, verstanden zu werden, bin ich gewillt, von der Person zu lernen, die mich verstanden hat‹« (Fonagy et al. 2019, S. 176). Damit ist das Vertrauen zu einer Bezugsperson als sicherer Informationsquelle gemeint, mit deren Hilfe es gelingt, die »Codes der sozialen Umwelt, die aus Normen, Objekten, Zeichen, Werten, Zwischentönen, Einstellungen, Erwartungen, Ritualen usw. bestehen« und deren Funktion und Bedeutung offen und meistens opak, also nicht direkt erschließbar sind, zu lernen und zu interpretieren (Gingelmaier 2017, S. 107 f.). Hier hilft das Mentalisieren mit seiner Unterstellung mentaler Zustände, die zugrunde liegende soziale Interaktion zu verstehen und daraus elementare Schlüsse zu ziehen (vgl. Gingelmaier 2017, S. 107 f.). Die Mentalisierungstheorie ist also eine Beziehungstheorie. In Anlehnung an Bions Konzept des Lernens durch Erfahrung wird darin der epistemische Wert von Beziehung als zentral erachtet (vgl. Nolte 2018, S. 163; Bion & Krejci 1992; Fonagy et al. 2015). Kotte und Taubner postulierten, dass »gerade für Berufe, in denen die professionelle Beziehungsarbeit mit Klient:innen im Vordergrund steht, die Fähigkeiten zu einer differenzierten Selbst- und Fremdwahrnehmung und die darauf abgestimmte Emotionsregulation zentral sind« (Kotte & Taubner 2016, S. 76). Den jüngsten Entwicklungen Rechnung tragend, würden wir dem Folgendes hinzufügen wollen: Es sollte uns außerdem darum gehen, wie wir als klinisch, psychosozial oder pädagogisch Arbeitende mentalisierend über die therapeutische Haltung Bedingungen herstellen können, den anderen für das, was wir anzubieten haben, zu öffnen. Dabei ist folgender Einwurf durchaus berechtigt: Gilt nicht für das Verständnis epistemischen Vertrauens (wie für das Mentalisierungskonzept auch) das geflügelte Wort: Hier handelt es sich um alten Wein in neuen Schläuchen? Uns liegt daran, durch dieses Buch eine Schärfung des Konzepts vorzunehmen und damit einhergehend vielleicht eine explizitere klinische Berücksichtigung anzuregen, in der Hoffnung, damit die Wirksamkeit von Interventionen, gerade bei denjenigen, die nur »über Hürden« in Therapie kommen oder bleiben, zu erhöhen. Wie es bei derartigen Schärfungen des Blicks oft üblich ist, bleiben Verengungen und möglicherweise Polarisierungen dabei nicht aus. So mögen die von uns vorgebrachten Postulate zur epistemischen Haltung von Patient:innen sehr kognitivistisch klingen und affektbezogene Beziehungsaspekte dabei in den Hintergrund treten. Gleiches lässt sich sicherlich für dynamische (im Sinne von state-like) Facetten der epistemischen Haltung sagen, die wir vielleicht oft nicht stark genug betonen, sowie für solche des dynamisch Unbewussten im Sinne der Psychoanalyse (verwiesen sei hier auf den großen konzeptuellen und klinischen Erfahrungsschatz, beispielsweise zu Kleins epistemophilem Trieb, Bions Theorie des Lernens mit K und -K etc., die sich in Objektbeziehungen und unbewussten Phantasien manifestieren). Das Arbeiten mit und Verstehen von Aspekten des epistemischen Vertrauens wird also in einer Psychoanalyse anders aussehen als in der Mentalisierungsbasierten Therapie (MBT). Viele der in den Vignetten dieses Bandes vorgestellten Patient:innen oder in sonstigen Settings Betreuten würden aus vielerlei Gründen, wie zu zeigen sein wird, allen voran wegen der aufgrund epistemischer Isolation fehlenden Hoffnung, dass es derartige Hilfsangebote tatsächlich für sie geben könnte und sie sich auf sie einlassen könnten, nicht oder nur sehr schwer den Weg auf eine Behandlungscouch finden. Der Versuch der MBT, eine neue Furche zu pflügen, bestand zunächst darin, die Fähigkeit, menschliches Verhalten in Form von beabsichtigten mentalen Zuständen wahrzunehmen und zu interpretieren, in einen dynamischen Kontext zu stellen. Das Mentalisieren, wie es in der psychoanalytisch geprägten MBT betrachtet wird, bezieht jedoch auch die von der Realität losgelöste menschliche Vorstellungskraft mit ein, die von unzähligen Kontextfaktoren, voreingenommenen Annahmen, Verständnisverzerrungen aufgrund irrelevanter Informationen, einschließlich unzutreffender Überzeugungen, »schiefer« Werte, offener Vorurteile und Übertragungen beeinflusst wird, die durch die Identität und den Gruppenstatus der interagierenden Personen motiviert sind, mit anderen Worten: Mentalisieren ist praktisch ein Synonym für die Theorie der Objektbeziehungen. Jessica Benjamin weist in ihrem Aufsatz mit dem Titel »An Outline of Intersubjectivity« (Benjamin 1990) darauf hin, dass die Theorien der Objektbeziehungen, selbst diejenigen, die an Intersubjektivität interessiert sind, das Kernelement der Intersubjektivität, nämlich die gegenseitige Anerkennung, vielleicht übersehen haben. Sie zeigte, dass die Fähigkeit zur gegenseitigen Anerkennung als eine von der Internalisierung der Objektbeziehungen getrennte Entwicklung aufgefasst werden kann. Das Subjekt wird allmählich fähig, die Subjektivität der anderen Person anzuerkennen, und entwickelt im besten Fall die Fähigkeit zur Einstimmung und Toleranz gegenüber Unterschieden. Wie wir nun andeuten, ist die Unterscheidung von Selbst und anderem ein Prozess, der nicht nur aus Trennung besteht, sondern auch aus dem kontinuierlichen Zusammenbruch und der Wiederherstellung der Gegenseitigkeit in der Haltung der Psyche gegenüber der zwischenmenschlichen Welt jenseits des Selbst. Die später noch einzuführenden Wir-Momente als Modus der Erfahrung von geteilter Aufmerksamkeit drängen sich hier auf. Aber der Sinn für den anderen »kommt und geht«: Der Zusammenbruch und die Rekonstruktion der zwischenmenschlichen Welt ist eine sich fortwährend wiederholende Erfahrung von Aggression auf der einen und der Schaffung einer intrapsychischen Fantasie der Gegenseitigkeit auf der anderen Seite. Der psychoanalytische Ansatz der Intersubjektivität hat somit viel mit einer Entwicklungstheorie des Mentalisierens und den Charakteristika der epistemischen Haltung gemeinsam. Die Fähigkeit, Handlungen durch das Begreifen von mentalen Zuständen zu verstehen, hängt prominent von der Qualität der Beziehungen in der Kindheit und auch in späteren Lebensphasen ab. Eine Implikation dieses Gedankens für die Psychoanalyse ist, dass das »Ziel« der Therapie nicht so sehr die Vertiefung eines bestimmten Verständnisses ist, sondern vielmehr die Fähigkeit zum Verstehen als solche, fast unabhängig von den spezifischen unbewussten Konflikten, die einen Patienten in die Behandlung bringen. Mit anderen Worten, das »Medium ist die Botschaft«, wie man mit McLuhan sagen könnte; therapeutisches Handeln verlagert sich in dieser MBT-Perspektive von der Einsicht auf die Schaffung von psychischen Fähigkeiten. Wo Sie sich als Lesende innerhalb der Ambivalenzen dieses Diskurses verorten, wollen und müssen wir Ihnen selbst überlassen. Wir hoffen allerdings, Sie mögen mit uns übereinstimmen, dass wir Theorien und Bücher...