Franck | Bauchlandung | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 96 Seiten

Franck Bauchlandung

Geschichten zum Anfassen
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-10-401624-5
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Geschichten zum Anfassen

E-Book, Deutsch, 96 Seiten

ISBN: 978-3-10-401624-5
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Geschichten über die Liebe oder über das, was man vielleicht Liebe nennen könnte. In diesen Geschichten voller Sinnlichkeit und Erotik erzählt Julia Franck von verborgenen Gelüsten und offener Begierde, von Sehnsüchten, die Tristesse hinterlassen, und dem Reiz des Verbotenen. »So liebt und hasst man nur bei Julia Franck.« Süddeutsche Zeitung

Julia Franck wurde 1970 in Berlin geboren. Sie studierte Altamerikanistik, Philosophie und Neuere Deutsche Literatur an der FU Berlin. 1997 erschien ihr Debüt »Der neue Koch«, danach »Liebediener« (1999), »Bauchlandung. Geschichten zum Anfassen« (2000) und »Lagerfeuer« (2003). Sie verbrachte das Jahr 2005 in der Villa Massimo in Rom. Für ihren Roman »Die Mittagsfrau« erhielt Julia Franck den Deutschen Buchpreis 2007. Der Roman wurde in 40 Sprachen übersetzt und fürs Kino verfilmt (2023, Regie: Barbara Albert). Nach »Rücken an Rücken« (2011) erschien zuletzt »Welten auseinander« (Platz 1 der SWR-Bestenliste). Für ihr Werk wurde sie 2022 mit dem Schiller-Gedächtnis-Preis ausgezeichnet. Literaturpreise: 1995 Siegerin beim Open Mike-Wettbewerb 1998 Alfred-Döblin-Stipendium der Akademie der Künste 1999 Stipendium der Stiftung Niedersachsen 2000 3sat-Preis in Klagenfurt 2004 Marie Luise Kaschnitz Preis 2005 'Roswitha Preis' der Stadt Bad Gandersheim 2007 Deutscher Buchpreis 2010 war die englische Ausgabe der ?Mittagsfrau? auf der Shortlist des Independent Foreign Fiction Prize und auf der Shortlist des ?Jewish Quaterly? sowie für den internationalen IMPAC nominiert. 2022 Schiller-Gedächtnis-Preis
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Bäuchlings


Ich knie auf dem Parkett vor dem Sofa und beobachte Luise, wie sie schläft. Sie schläft sich den Rausch ihres Geburtstags aus. Draußen Zionskirchplatz ohne Verkehr, auch von der Kastanienallee höre ich wenig. Luise schmatzt im Schlaf, ganz leise, fast unhörbar. Ich streiche über den Saum des Chiffons, der rau ihren Hals umschließt, rieche sie, ihren vertrauten Geruch, der mich an frischgeschnittenes Gras erinnert, ziehe die rotblonde Locke aus der Falte, die sich am Hals gebildet hat, und suche die glatte Haut ihrer Wangen ab – ob sich schon im entspannten Zustand eine Spur ihrer Grübchen entdecken lässt? –, ihre Haut ist von blassen Sommersprossen übersät. Ich liebe Luise. Und noch etwas: Sie ist meine Schwester.

Es klingelt, sie regt sich nicht. Als ich aufstehe, knarrt das Parkett unter meinen nackten Füßen. Über der Lehne des Sofas hängt ihr schwarzes Lederbustier, ich nehme es, der warme Geruch steigt in meine Nase, ich ziehe es an. Meine Brüste haben Platz in den Schalen, beim Gehen stoßen sie vorn an das Leder. Draußen im Flur schlüpfe ich in ihre Schuhe: leichte altmodische Schuhe mit Absätzen, die laut sind und das Parkett zerkratzen, ich drücke auf den Summer und gehe in die Küche, wo über dem Stuhl mein Kleid hängt. Ich streife es über und bemerke, dass die langen Träger des Kleides viel von dem Bustier sehen lassen, aber es ist zu spät, etwas anderes zu suchen. Ich bleibe hinter der angelehnten Tür stehen und lausche in das Treppenhaus, bis ich die Schritte auf dem letzten Absatz höre. Ich öffne.

»Was machst du hier?«, frage ich Olek, fast möchte ich sagen: Sie empfängt noch nicht.

»Zu Luise«, sagt er hastig, er möchte zu Luise, fährt sich durch die kurzen verklebten Haare, ich lasse ihn herein, und sein nackter Arm berührt meinen.

»Sie schläft noch«, sage ich und lehne mich an den Rahmen der Küchentür.

»Dann weck sie, es ist wichtig, ich muss sie sehen.«

»Und warum warst du dann gestern nicht da?«

»Bei ihrem Geburtstag? Sie hat mich ausgeladen.« Olek möchte an mir vorbei, ich suche die zufällige Berührung, aber er weicht aus und tritt in die Küche. Der Kragen seines T-Shirts ist etwas schmuddelig, die Sonne hat seinen Nacken gerötet. Ich schließe die Wohnungstür. Sein Blick fliegt über die benutzten Gläser, die überall auf den Fensterbrettern und Regalen stehen. Er dreht sich zu mir um, die Unruhe in seinen Augen amüsiert mich, ich muss an die zwei anderen Liebhaber denken, die gestern unter den Gästen waren und Luise den Abend versüßt haben, bevor sie nacheinander gegangen sind.

»Was ist es denn, was dich so aufregt?«, frage ich mit leichtem Spott.

»Der Hund, er wurde angefahren.« Olek sieht mich nicht an, ich erinnere mich, dass Luise ihm vor wenigen Tagen ihren Hund anvertraut hat, damit die Geburtstagsgäste nicht gestört würden. Er knetet seine Hände, und ich sehe die Adern an seinen Unterarmen hervortreten.

»Warte hier, ich weck sie.«

Ich gehe zu Luise in den Salon. Das Fenster schlägt zu, ich hatte es vorhin geöffnet, um die Nachtluft hinaus- und den Tag hereinzulassen.

Sie liegt bäuchlings auf dem Sofa, die Locken fallen über die Lehne bis auf das Parkett, und auch ihr linker Arm hängt herunter. Sie hat den Kopf seitwärts gedreht und auf dem rechten Arm abgelegt. Die kleinen Härchen im Nacken schimmern gegen das Licht, der blaue, durchsichtige Chiffon bildet an der tiefsten Stelle des Rückens eine dunkle Falte, ihr Hintern wölbt sich weiß unter dem Stoff.

»Luise«, flüstere ich, sie regt sich nicht. Ich knie mich erneut vor das Sofa, denke an den verletzten oder toten Hund und daran, wie ich ihr diese Nachricht ersparen könnte. Sie mochte ihren Hund, ganz im Gegensatz zu mir, die ich mir oft gewünscht hatte, er wäre tot und ich mit Luise allein. Ich erinnere mich, wie wir noch jünger waren, vielleicht war ich fünfzehn und sie siebzehn, und wie sie den damals noch jungen Hund mit gegrillten Lammhäppchen fütterte, die auch ich sehr gerne mochte. Ich hatte sie angebettelt, sie möge mir nur ein Stückchen davon abgeben, ein klitzekleines, ein winzig kleines Häppchen, und sie drehte sich zu mir: »Komm, Schwesterchen, süße Schwester, komm«, lockte mich Luise. Sie grinste, und kaum öffnete ich meinen Mund – spürte schon das saftige Fleisch auf der Zunge –, stieß sie mir die Gabel tief in den Rachen. Ich schrie auf, Luise lachte.

Mit dem Kopf voran beuge ich mich tief hinab, fast bis zum Boden, dorthin, wo ihre Hand liegt, und rieche an ihrem Handgelenk, so dass sich die Poren in meinem Mund verengen und Wasser sich sammelt, ich muss schlucken und wandere mit der Nase aufwärts bis zur Armbeuge, dort duftet es nach ihrem Mädchenschweiß und vielleicht nach der Spucke von Hans, dem zweiten Liebhaber von gestern, nach seinen Küssen.

»Luise«, flüstere ich wieder, wobei meine Lippen aus Versehen ihre Armbeuge streifen, so dass sie sich rekelt und einmal schnell ausatmet und ein Auge öffnet, mich ansieht, einatmet, die Lider zu- und wieder aufschlägt.

»Was ist?«, fragt sie, sie dreht sich auf die Seite, so dass mir ihre Brüste entgegensehen, auch sie flüstert, als hätte sie mich doch gehört, gehört, dass ich flüsterte, und nun flüstert auch sie, als hätten wir ein Geheimnis.

»Draußen ist Olek.«

»Der?« Sie lächelt, blinzelt und muss gähnen, hält sich vornehm die Hand vor den Mund, und während sie die Hand sinken lässt, kann ich sehen, wie sie sich mit der Zungenspitze von innen gegen die Zähne stößt, dann leckt sie sich über die Oberlippe und fragt: »Was will er?«

Ihre Brustwarze zeichnet sich unter dem Chiffon ab, ich rieche ihr ledernes Bustier aus dem Ausschnitt meines Kleides und nicke unschlüssig: »Dich sprechen, nehme ich an.«

»Sprechen?« Sie lächelt wieder, und ich sehe ihre Grübchen. »Ich mag nicht sprechen, sag ihm das, nein, sag ihm, ich kann nicht, es geht mir schlecht, schlecht, sehr schlecht, ich will ihn nicht sehen!« Jetzt muss sie lachen, dass ich fürchte, Olek könnte sie hören, »keine Lust!« – fast gibt sie das Flüstern auf. Sie liegt auf dem Rücken und streichelt mit einer Hand über ihre Brust, sie lächelt mich an, dann dreht mir Luise den Hintern zu. Das Hemd ist nach oben gerutscht, und ich sehe ihn, die weißen runden Hügel, die nur von dem Seidenslip getrennt werden. Sie scheint zu wissen, dass mich ihre Blicke verführen, und verfolgt über die Schulter, wie ich jeder ihrer Bewegungen folge und bisher jedem Blick standhalte.

Ich verlasse den Salon und kehre in die Küche zurück. Olek lehnt am Fensterbrett und knetet seine Hände und wartet.

»Sie kann nicht«, sage ich und schiebe den Träger des Kleides zurecht, der oft herunterrutscht, weil meine Schultern nicht gleich hoch sind. Er sieht mich fragend an, ich muss lächeln, ich muss immer lächeln, wenn ich vorhabe zu lügen. Trotzdem sage ich: »Sie fühlt sich krank, hat Kopfschmerzen – Kater …« Olek sieht mich noch immer fragend an, als überlege er, ob mir zu glauben sei. Er stößt sich vom Fensterbrett ab und macht einen Schritt auf mich zu. Ich fürchte, dass er zu ihr will, stelle mich gegen die Küchentür, gebe ihr mit dem Hintern einen Schubs, so dass sie ins Schloss fällt. Er soll nicht zu ihr, ihr das Lächeln aus dem Gesicht vertreiben, das könnte ich nicht leiden. Er kommt auf mich zu, bleibt dicht vor mir stehen und stützt eine Hand am Türrahmen neben mir ab, sein Gesicht nah an meinem, sein hastiger Atem, die Ader, die unter der Haut am Hals puckert, die andere Hand, die sich bewegt, vermutlich in der Hosentasche verschwindet, ich wage es nicht, meinen Kopf zu senken, seine Nähe macht mir Lust, ich möchte sein Gesicht nicht aus den Augen verlieren. »Du hast es ihr gesagt?«, keucht er. Ich schließe kurz die Augen, um mir das Nicken und jede ausladende Geste zu sparen. »Du lügst doch nicht?«, fragt er weiter. Wieder schließe ich die Augen. Ich spüre seine Stimme auf meiner Wange, ein Wind, zart, der mich streichelt und jagt. Er sieht geradewegs in meine Augen, und ich, die ich ihm keine Verwirrung zeigen möchte, sehe durch seine hindurch, weit, ich suche nach einem Halt hinter seinen Augen, bis ich ihn habe, und dicht dabei sein Ohr, in das ich beißen könnte, oder meine Zunge in der Muschel versenken, wenn ich nur wollte, und weiter weg Luise, nebenan. Er lässt den Türrahmen los, macht einen Schritt zurück und dreht mir den Rücken zu.

»Ist Luise allein?«, fragt er. Seine Stimme flieht.

Ich lache auf, viel zu hell für so eine Frage: »Natürlich ist sie allein.«

»Krank?«

»Ist das nicht egal?«

Er reagiert nicht, hat nichts bemerkt. Mein Blick ist wieder sicher, auch ein Lächeln kommt dazu.

»Möchtest du etwas trinken?«, frage ich.

»Habt ihr Eis?«

Ich antworte, indem ich zum Kühlschrank gehe, Eiswürfel heraushole, drei in sein Glas gebe und ihm Wasser dazuschenke. Er lehnt sich vor das Fenster und sieht mich nicht mehr an, stattdessen beobachtet er die Eiswürfel, die leise in dem lauwarmen Wasser knacken. Er könnte einen Eiswürfel zwischen die Lippen nehmen, wie man das so aus Filmen kennt, tut es aber nicht, sondern stellt das Glas aufs Fensterbrett, sieht an mir hinunter, auf meine nackten Beine, und fragt: »Hast du unter dem Kleid etwas an?«

Unwillkürlich muss ich an mir hinuntersehen, auf die nackten Beine, die glänzen, die nackten Füße in Luises Schuhen. Sollte das Kleid durchsichtig sein? Ich muss denken: Was fällt ihm ein? Und: Mit so einem vergnügt sich Luise? Luise? Und sie? Trägt sie unter ihren Kleidern etwas? Und wenn sie sich mit ihm trifft und sich zum Gespräch hinsetzt, am Küchentisch, ein Bein...


Franck, Julia
Julia Franck wurde 1970 in Berlin geboren. Sie studierte Altamerikanistik, Philosophie und Neuere Deutsche Literatur an der FU Berlin. 1997 erschien ihr Debüt ›Der neue Koch‹, danach ›Liebediener‹ (1999), ›Bauchlandung. Geschichten zum Anfassen‹ (2000) und ›Lagerfeuer‹ (2003). Sie verbrachte das Jahr 2005 in der Villa Massimo in Rom. Für ihren Roman ›Die Mittagsfrau‹ erhielt Julia Franck den Deutschen Buchpreis 2007. Der Roman wurde in 35 Sprachen übersetzt. Zuletzt erschien der Roman ›Rücken an Rücken‹ (2011).
Julia Francks Roman ›Lagerfeuer‹ wurde 2012/13 für das Kino unter der Regie von Christian Schwochow unter dem Titel ›Westen‹ verfilmt.

Literaturpreise:

1995 Siegerin beim Open Mike-Wettbewerb
1998 Alfred-Döblin-Stipendium der Akademie der Künste
1999 Stipendium der Stiftung Niedersachsen
2000 3sat-Preis in Klagenfurt
2004 Marie Luise Kaschnitz Preis
2005 "Roswitha Preis" der Stadt Bad Gandersheim
2007 Deutscher Buchpreis
2010 war die englische Ausgabe der ›Mittagsfrau‹ auf der Shortlist des Independent Foreign Fiction Prize und auf der Shortlist des ›Jewish Quaterly‹ sowie für den internationalen IMPAC nominiert.

Julia FranckJulia Franck wurde 1970 in Berlin geboren. Sie studierte Altamerikanistik, Philosophie und Neuere Deutsche Literatur an der FU Berlin. 1997 erschien ihr Debüt ›Der neue Koch‹, danach ›Liebediener‹ (1999), ›Bauchlandung. Geschichten zum Anfassen‹ (2000) und ›Lagerfeuer‹ (2003). Sie verbrachte das Jahr 2005 in der Villa Massimo in Rom. Für ihren Roman ›Die Mittagsfrau‹ erhielt Julia Franck den Deutschen Buchpreis 2007. Der Roman wurde in 35 Sprachen übersetzt. Zuletzt erschien der Roman ›Rücken an Rücken‹ (2011).
Julia Francks Roman ›Lagerfeuer‹ wurde 2012/13 für das Kino unter der Regie von Christian Schwochow unter dem Titel ›Westen‹ verfilmt.

Literaturpreise:

1995 Siegerin beim Open Mike-Wettbewerb
1998 Alfred-Döblin-Stipendium der Akademie der Künste
1999 Stipendium der Stiftung Niedersachsen
2000 3sat-Preis in Klagenfurt
2004 Marie Luise Kaschnitz Preis
2005 "Roswitha Preis" der Stadt Bad Gandersheim
2007 Deutscher Buchpreis
2010 war die englische Ausgabe der ›Mittagsfrau‹ auf der Shortlist des Independent Foreign Fiction Prize und auf der Shortlist des ›Jewish Quaterly‹ sowie für den internationalen IMPAC nominiert.



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