E-Book, Deutsch, Band 5, 240 Seiten
Reihe: Giordano Bruno
Férey Die Gewissenlosen
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-641-22906-1
Verlag: Limes
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, Band 5, 240 Seiten
Reihe: Giordano Bruno
ISBN: 978-3-641-22906-1
Verlag: Limes
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Mc Cash ist kein Polizist mehr, doch er trägt immer noch die Wunden seiner rauen Vergangenheit - sowohl körperlich als auch seelisch. Als ein Arzt ihm sagt, dass er bald erblinden wird, gibt es für ihn keinen Ausweg. Er beschließt, sich das Leben zu nehmen. Doch bevor er auf den Abzug drücken kann, erhält er einen Brief: Er ist der Vater der achtjährigen Alice, deren Mutter gestorben ist, und für sie verantwortlich. Als er in dem Dorf ankommt, in dem seine Tochter lebt, erfährt er, dass ein Kind tot im Fluss aufgefunden wurde. Alice ist die einzige Zeugin - und schwebt in tödlicher Gefahr ...
Caryl Férey, geboren 1967, lebt in Paris. Für seine preisgekrönten Romane ist er um die ganze Welt gereist - von Neuseeland bis nach Südafrika. Sein Thriller 'Zulu'wurde mit zehn Literaturpreisen ausgezeichnet und 2014 mit Orlando Bloom und Forest Whitaker verfilmt. Seine Thriller sind immer auf den obersten Plätzen der französischen Bestsellerliste zu finden und werden weltweit übersetzt.
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WENN MAN DIE Zeit, in der man lebt, verachtet, heißt das noch lange nicht, dass man die Einsamkeit liebt. Mc Cash lebte allein im letzten Stock eines Wohnblocks mit Blick auf die Bucht von Brest, wie ein Toter gefangen in seinem Kopf. Mit seinen mittlerweile einundfünfzig Jahren hatte er keinen Vornamen und keine Frau mehr. Angélique hatte sich verabschiedet wie die anderen auch. Durch die vielen Umzüge hatte Mc Cash seine Freunde verloren, all seine alten Kameraden mit den verlorenen Illusionen. Die IRA hatte offiziell die Waffen niedergelegt, die Kollegen gingen ihm gehörig auf den Sack, seine letzte Geliebte hatte ihm per SMS mitgeteilt, sie werde einen anderen heiraten, und Joe Strummer war soeben erst gestorben, hatte ihn zurückgelassen als Waisenkind einer Zeit, die sich, ganz wie seine Ex-Frau, jeden Tag ein Stückchen mehr verabschiedete.
Dabei hatte Mc Cash auf seine Art Format. Die Frauen waren verrückt nach seinem schönen Wolfsgesicht, verzehrten sich nach seinen großen Armen, viel zu groß für das bisschen Liebe, das sie zu verschenken hatten, nach seinem Winnetoulächeln, mit dem er ihnen in den Schluchten des Grand Canyon den Skalp zweier Liebesworte hinstreckte; sie sahen den wiegenden Gang, die Kraft eines erschöpften Titanen und die großen, erstaunlich sanften Hände – und schon warfen sie sich ihm zu Füßen und nannten ihn einen göttlichen Hurensohn.
Das alles hatte Angélique nicht davon abgehalten, sich aus dem Staub zu machen. Fünfzehn Jahre war das nun schon her. Noch dazu mit einem dahergelaufenen Dentisten, einem Zahnausreißer oder Verkäufer, was auch immer, eben mit einem, der ihr eine verheißungsvolle Zukunft bieten konnte. Denn seine Zukunft war aussichtslos.
Wie sein Auge.
Wie die Bucht von Brest, die sich, durch das Fenster seiner Wohnung betrachtet, im fernen Nebel verlor.
Mc Cash zündete sich eine Zigarette an, aber sie schmeckte auch nicht besser als die anderen. Unten sah man den Handelshafen mit den untätigen Kränen und den Dockarbeitern, die ihren Ausschluss aus der Gesellschaft in Bars begossen, in denen das Bier noch immer weniger als zwei Euro kostete. Hier brachte man sich billig um die Ecke. Das war der Vorteil eines Lebens in der Provinz.
Mc Cash war in Brest gelandet, als wäre es der Schlusspunkt einer aberwitzigen Flucht ans Meer, hin zu einem unerreichbaren Wilden Westen. Nach Paris und Créteil schließlich Rennes und jetzt das Ende der Welt, das Finstère, denn es bestand vor allem aus der Rue de Siam, der Nachbarschaft im Viertel Recouvrance und ein paar gemeinsamen Bierchen mit Bloas, dem Maler, einem der seltenen Fänge seiner nächtlichen Kneipentouren. Bis zur Halbinsel Crozon-Morgat war es keine Stunde mit dem Auto, einmal war Mc Cash hingefahren, aber seither nie mehr – die ganze Schönheit dort machte ihn depressiv.
Der Ire saß auf dem Sofa im Salon und starrte in den schwarzen Lauf des .38er, der zwischen Kippen und unverpackten Kondomen auf dem Tisch lag. Bald würde er blind sein; noch ein paar Monate, hatte der Arzt gesagt … Er, der Entscheidungen immer erst dann traf, wenn es keinen Ausweg mehr gab, stand jetzt wieder mit dem Rücken zur Wand, ein Gefangener seiner eigenen Vernichtungspolitik.
Vom Genießen als Überlebensmotto war ihm letztendlich nur der Nihilismus geblieben. Ein leichter Druck auf den Abzug, eine letzte Anstrengung, mehr nicht, und schon wäre alles vorbei. Was würde er hinterlassen? Eine Frau, die ihn verlassen hatte, eine Welt voller Autoverkäufer, voller Verbrecher mit weißem Kragen, denen im schlimmsten Fall eine Bewährungsstrafe drohte, lauter politische Karrieren, die den Befehlen der reaktionären Gegenoffensive gehorchten, außerdem zahlreiche vergessene Frauen und seine alten Rockplatten …
Der Seewind rüttelte an den verdreckten Fenstern der Wohnung. Mc Cash nahm die geladene Dienstwaffe in die Hand und richtete sie, ohne weiter nachzudenken, auf sein totes Auge. Alles kam wieder in ihm hoch: Belfast 1978, das Solidaritätskonzert für die Opfer des Bloody Sunday, bei dem die britische Armee das Feuer auf die Demonstranten eröffnet hatte, die Band The Clash, die das Feuer seiner Jugend entfachte, Mc Cash, der dabei nachhalf, dass die Flammen auf die Verwaltungsgebäude übergriffen, Strummer, der die Bretter auf der Bühne massakrierte, indem er mit seinem linken Bein wie eine Furie auf den Boden stampfte, als wollte er die Erde aufwecken und mit ihr die Männer, die darauf standen, die Schlägereien nach White Riot, die Intervention der Besatzungsarmee, die wilden Verfolgungsjagden in den Straßen, der verrauchte Pub, in den er mit klopfendem Herzen geflüchtet war, die Rothaarige mit den goldenen Augen, die ihn dorthin gelockt hatte, zwei oder drei Kontaktleute, die er in der dichten Menge wiedererkannt hatte, das Gelächter, mit dem man versucht hatte, die Angst zu überspielen, und schon ging der Abend mit ein paar Whiskys auf das Wohl des guten alten Joe weiter, »seinen Freund, seinen Bruder«, die Rockerseele einer Epoche, in der die Utopie sich nicht darauf beschränkte, die nächste Umweltkatastrophe oder Wirtschaftskrise zu überleben. So viele Bierchen wurden auf das Wohl der irischen Republik gekippt, und plötzlich hört man Türen knallen, Soldaten inspizieren den Ort, alle sind wie vor den Kopf geschlagen, haben Angst. Man hört Geschrei, Gläser zerbrechen, einige versuchen zu entkommen, einige leisten Widerstand, einige, wie er selbst, werfen sich ins Getümmel. Es hagelt Schläge, ein behelmter Blondschopf liegt zu seinen Füßen, mit blutenden Fäusten versucht er den strategischen Rückzug zum Ausgang anzutreten, dann aus dem Nichts der Schlag mit dem Gewehrblatt, der ihm die Retina zu Brei schlägt und ihn bewusstlos zurücklässt, mit gebrochenem Augenbrauenbogen, das Auge nur noch gehalten von blutigen Tränen … Die Operation, der Prozess, seine Ausweisung nach der Ermordung von Lord Mountbatten, die Ankunft in Frankreich, das Jurastudium, das er beginnt, um andere politische Flüchtlinge verteidigen zu können, die Agonie des Bobby Sand unter dem ungerührten Blick der Eisernen Lady, und dann diese Doktorandin mit den gletscherblauen Augen, deren Blick ihm durch und durch geht, Angélique, für die er alles zu tun bereit ist, angefangen damit, sich bei der Polizei einstellen zu lassen …
Ein starker Luftzug vom Meer brachte das Küchenfenster zum Klappern. Als wollte sie in den Aufruhr einstimmen, schrillte die Klingel an der Eingangstür.
Mc Cash fluchte in seiner Muttersprache – gewöhnlich verirrte sich niemand in seine Höhle – und stand auf, mit der frisch geweckten Lust, die ganze Welt dem Erdboden gleichzumachen.
Als die Klingel beharrlich weiterschrillte, riss er buchstäblich die Eingangstür heraus, sodass sie gegen die Wand krachte.
Der Postbote wich unwillkürlich zurück. Vor ihm stand ein einsachtundachtzig Meter großer Einäugiger, der ihn mit einem Revolver in der Hand blutrünstig anstarrte.
»Ich … Ich hab da ein Einschreiben für Sie«, stammelte er.
Dabei sah er fast so bescheuert drein wie der Schnulzensänger Michel Sardou.
*
MC CASH HATTE sie nur noch ungefähr im Gedächtnis: Carole hieß sie mit Vornamen.
Ansonsten erinnerte er sich nur an eine Reihe wirrer Nächte, an zirkusreife Verrenkungen im Bett, die nicht ohne Lust, aber ohne Liebe waren, und bei denen der Adrenalinspiegel so schnell wieder in den Keller ging, wie er zu Beginn in die Höhe geschossen war, offen für alles.
Carole war damals Barmädchen in einer der zahlreichen Kneipen im Stadtzentrum von Rennes. Sie trafen sich nach Geschäftsschluss, um der grauen Realität ein wenig Leben einzuhauchen, und vergaßen einander einvernehmlich, sobald der Orgasmus und das Morgengrauen gekommen waren. Mc Cash war damals vierzig und setzte seine Polizeikarriere nach seiner Scheidung mit beharrlicher Gründlichkeit in den Sand. Ihre Liebesaffäre währte, bis sie einander überdrüssig waren – das Barmädchen verschwand, ohne weitere Spuren zu hinterlassen, abgesehen von dem Abdruck ihres Hinterns auf diversen Kühlerhauben. Doch jetzt, zehn Jahre später, kehrte Carole zurück, und zwar in Form eines Briefes, dem Tor der Vergessenen, einem Einschreiben ohne Rückschein …
Warum heute? Warum gerade in diesem Augenblick? Mc Cash hatte den Brief ein zweites Mal gelesen:
Hallo Inspektor,
Du wirst dich nicht mehr an mich erinnern: Rennes, Carole, das Barmädchen aus dem Chien Jaune. Wir haben ein paarmal miteinander geschlafen, 1997. Und dann haben wir uns nicht mehr gesehen. Ich hab damals ein Kind bekommen, ein Mädchen. Es ist von Dir und heißt Alice.
Die Kleine hätte einen Vater wie Dich gut gebrauchen können, aber Du warst ja zu nichts bereit – das ist so Deine Art, wenn ich mich recht entsinne … Ich habe Alice erzählt, Du seist bei einem Autounfall ums Leben gekommen, kurz nach ihrer Geburt, als wir schon getrennt waren. Ich bin mir sicher, dass Du das verstehst, Du hättest an meiner Stelle genauso gehandelt.
Nur ist es jetzt so: Ich bin krank. Und wenn man dem Krebsspezialisten, der mich behandelt, Glauben schenken darf, habe ich nur noch ein paar Wochen zu leben. Dieser Brief ist also mein Testament. Was Du von mir hältst, ist mir egal, aber um Alice mache ich mir schreckliche Sorgen … Zurzeit habe ich sie in einer Pflegefamilie untergebracht, doch das ist nur vorübergehend, die einzige Lösung wäre ein Heim. Die Vorstellung, sie dieser grausamen Welt...