E-Book, Deutsch, 592 Seiten
Friedmann / Stepanek Demut lernen
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-7065-6448-9
Verlag: Studien Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kindheit in katholischen Kinderheimen in Tirol nach 1945. Forschungsprojekt im Auftrag der "Dreierkommission Martinsbühel"
E-Book, Deutsch, 592 Seiten
ISBN: 978-3-7065-6448-9
Verlag: Studien Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ina Friedmann, Senior Scientist am Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck. Friedrich Stepanek, Historiker in Innsbruck.
Autoren/Hrsg.
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Methodik
Das methodische Vorgehen der vorliegenden Forschungsarbeit stützt sich auf mehrere Säulen: Oral History, Aktenrecherche und Primär- sowie Sekundärliteratur. Diese drei Quellengattungen ergänzen sich gegenseitig und ermöglichen eine größere und multiperspektivische Kontextualisierung der Ergebnisse. Dadurch kann der Blick auf die Makro- und die Mikroebene gelegt werden, ohne dass eine der beiden vernachlässigt wird. Der Forschungsauftrag der Rekonstruktion der Zustände in den katholischen Kinderheimen Tirols nach 1945 verlangt eine Darstellung von Strukturen, Prozessen, Handlungs- und Lebensräumen sowie Akteur*innen und ihren Erfahrungen. Dass individuelle Wahrnehmungen und Erinnerungen in Beziehung zu institutionellen Dokumentationen und gesetzlichen Vorgaben gesetzt werden, ermöglicht die Darlegung zeitgenössischer Praktiken. Die Einbeziehung publizierter Quellen und Forschungsliteratur schließlich erlaubt die Einbettung in die größere Geschichte der Heim- und Fürsorgeerziehung sowie in allgemeingesellschaftliche Entwicklungen.
Neben dieser Darstellung von Prozessen, Handlungsweisen und Strukturen, die das System der katholischen Fremderziehung möglichst umfassend und aspektreich nachzeichnen sollen, ist aber die Auseinandersetzung mit individuellen Erfahrungen und Lebensverläufen ebenso bedeutend. Nicht allein wird dadurch die unterschiedliche Rezeption der gemachten Erfahrungen verdeutlicht – die in der Gemeinsamkeit der Erfahrungen vielfach gleichförmig, in deren Bewertung aber häufig differenzierter ist. Auch die Wahrnehmung der Betroffenen als eigenständige, reale Personen, sozusagen die Anerkennung als Individuum, ist wichtig: Mit dem Vertrauen, das sie dem Forschungsteam durch die Einblicke in ihre ganz persönlichen Geschichten entgegengebracht haben, muss auch die Gewährleistung verbunden sein, nicht als entpersonalisierte ‚Masse‘ zu erscheinen. Wie Michael John in der Untersuchung der oberösterreichischen Caritas-Heime unter Berufung auf Horst Schreiber und seine gleichnamige Publikation festhielt, geht es auch im Umgang mit den Interviewpartner*innen im vorliegenden Buch explizit um die „Restitution von Würde“.68 Jedes Schicksal ist anders und aus jedem Lebensverlauf können andere Anhaltspunkte gezogen werden, welche Aufmerksamkeiten im Umgang mit Kindern wichtig sind. In einem waren sich nämlich alle Betroffenen, die Gewalt erlebt hatten, einig: dass die Behandlung, die ihnen in den Heimen widerfahren ist, niemals wieder vorkommen darf.
Die Besonderheit dieses Projekts hinsichtlich der Methodik liegt zu einem guten Teil in der Verwobenheit von behaupteter Schwererziehbarkeit bzw. Erziehungsbedürftigkeit mit angeblicher oder realer kognitiver Einschränkung. Das bedeutet, dass es sowohl um ‚Fürsorgekinder‘ wie auch um Kinder mit Beeinträchtigung geht.
Während die Kinder- bzw. Sonderschulheime Martinsbühel, Josefinum/Volders und Thurnfeld/Hall für Mädchen und Buben mit geistigen Beeinträchtigungen konzipiert waren, das St. Josefs-Institut/Mils für Kinder mit unterschiedlichen schweren und schwersten Behinderungen und das Elisabethinum, zunächst in Innsbruck, dann in Axams, für Minderjährige mit körperlichen Beeinträchtigungen, wurden in die Bubenburg/Fügen und das Kinderheim Scharnitz Kinder ohne Beeinträchtigungen eingewiesen. Diese scheinbar klare Ausrichtung der Heime wurde real mit Ausnahme der Bubenburg und Scharnitz jedoch keineswegs derart strikt eingehalten. Dass gerade jene zwei Heime, die sich nicht auf Minderjährige mit Beeinträchtigungen spezialisiert hatten, auch keine Kinder aufnahmen, die von solchen betroffen waren oder denen solche zugeschrieben wurden, überrascht nicht. Segregation statt Integration wurde praktiziert. Damit zusammenhängend ist die nichtintegrative strukturelle Konzeption der Heime zu berücksichtigen, die – neben der ebenfalls zu bedenkenden räumlichen Anlegung – mit ihren formalisierten Alltagsabläufen, eng bemessenen Personalressourcen und institutionell festgeschriebenen Verhaltenserwartungen, -regeln und Maßnahmen zu deren Durchsetzung und Korrektur kein Eingehen auf individuelle Bedürfnisse zuließen. Vielmehr fungierten Scharnitz und die Bubenburg mitunter als Zuweiser*innen zu den anderen Einrichtungen, wenn sich (vermeintliche) Lern- oder andere ‚Defizite‘ bei den ihnen überantworteten Kindern zeigten – wie etwa bei Interviewpartner G. M., der nach Eintritt in die Volksschule in Scharnitz aufgrund seiner Lernschwierigkeiten in das Sonderschulinternat Thurnfeld überstellt wurde, wo er bis zur Ausschulung verblieb.69 Wesentlich differenzierter sind nun die als Sonderschulheime geführten Einrichtungen zu betrachten. Durch die Einweisungen von sogenannten Fürsorgekindern waren es neben Ärzt*innen und Schulbehörden auch Jugendämter, die Minderjährige dorthin schickten. Bei dieser Kindergruppe war keineswegs zwangsläufig eine geistige Beeinträchtigung gegeben, sie wurde den Betroffenen aber zugeschrieben. Dies hatte maßgeblichen Einfluss auf den weiteren Lebensverlauf, was Ausbildungswege und Berufsmöglichkeiten betraf.70
Gleichermaßen betroffen waren die ehemaligen Insass*innen aber von personalisierter, institutionalisierter sowie von allgemeiner struktureller Gewalt, die auch Betroffene mit kognitiver Einschränkung deutlich erinnern. Das weist auf eine generell gewaltförmige Atmosphäre hin, die sich nicht an einzelnen orientierte. Mit dem soziologischen Begriff der Kohortenbildung ist hier nicht das häufig verwendete Merkmal der Generation, also eine Geburtskohorte, gemeint, sondern das Merkmal des gemeinsamen Lebensereignisses:71 Jenes der Heimunterbringung durch Fürsorgebehörden oder aufgrund familiärer Faktoren sowie im Kontrast dazu als somatisch bedingte Maßnahme. Die genannten Gewaltformen sind an dieser Stelle in Kürze zu erklären, da sie bei den folgenden Ausführungen im Hintergrund mitzubedenken sind. Während personalisierte bzw. personale Gewalt leicht anhand des Vorhandenseins einer oder mehrerer gewaltausübender Personen zu identifizieren ist, und institutionelle bzw. institutionalisierte Gewalt sich als gewaltförmige Handlungen durch Vertreter*innen einer Institution beschreiben lässt, benötigt vor allem der letztgenannte Begriff eine Erklärung. Strukturelle Gewalt bedeutet in diesem Zusammenhang, dass das strukturelle Gefüge gewaltförmig geprägt war.72 Mit Fokus auf ungleiche Machtverhältnisse wird der Begriff primär auf gesellschaftliche und kulturelle Systeme angewandt und ist in den vergangenen Jahren auch vielfach mangels enger Definition, der Synonymisierung von Macht und Gewalt und der einhergehenden Anwendung kritisiert worden.73 Für die vorliegende Studie ist der Begriff dennoch ein hilfreiches Instrument zur Benennung von gewaltförmigen Machtverhältnissen, die vor allem vor und nach der Heimeinweisung in Erscheinung traten und auch die systemische Benachteiligung der hier im Mittelpunkt stehenden Kinder und Jugendlichen umfassen. Während des Heimaufenthalts traten die beiden anderen Gewaltformen mit ihren jeweiligen Unterarten zutage. Dieses Netz der personalisierten und der im Hintergrund wirkenden Gewalt in seinen Verwebungen sichtbar zu machen, kann allein durch die Kontextualisierung sämtlicher verfügbarer Quellen erfolgen. Auf welche Quellen sich diese Darstellung stützt, wird im Folgenden genau erläutert.
Aktenlage
„Im Tiroler Landesarchiv finden sich im Bestand des Landesjugendamtes nur spärlich Berichte über die landeseigenen Jugendheime und keine über die ‚Bubenburg‘, obwohl öffentliche Stellen Kinder zuwiesen und Verpflegssätze zahlten. Anscheinend verzichtete das Land trotz der überwiesenen Steuergelder auf eine wirksame Kontrolle der Einrichtung und der dort gepflogenen Erziehungsmethoden.“74
So beschreiben Rupnow/Schreiber/Pitscheider die Aktenlage, wie sie sie für ihre Studie zu den Sozialehrenzeichenträgern Magnus Kerner und Hermann Pepeunig vorfanden. Auch bei Ausweitung auf die übrigen konfessionellen Heime, die hier im Fokus stehen, muss dieser Befund aufrecht bleiben. Denn entgegen der ursprünglichen Erwartung musste nach umfangreicher und aufwendiger Aktenrecherche bedauerlicherweise festgestellt werden, dass die Aktenlage zu den konfessionellen Kinderheimen im Tiroler Landesarchiv ausgesprochen dürftig ist. Der Bestand der Abteilung Vb des Amts der Tiroler Landesregierung, die für die Jugendfürsorge und somit für Erziehungsheime verantwortlich war, enthält keine Akten mehr zu konfessionellen und anderen privaten Kinderheimen. Aus den Repertorien geht hervor, dass diese Abteilung für die Genehmigung und Kontrolle von privaten Pflegekinderheimen zuständig war. Weiters ist ersichtlich, dass es Korrespondenzen zwischen dem Amt der Tiroler Landesregierung und den konfessionellen Heimen in Scharnitz, Martinsbühel, Thurnfeld, Fügen und Volders gab. Diese Korrespondenzen wurden unter den Registraturzahlen 468 und 469 abgelegt. Akten, die Martinsbühel betrafen, hatten das Registraturzeichen 468-I-7, später auch 468-I-7b. Zum Beispiel gab es 1956 einen Akt mit der Bezeichnung „Martinsbühel Hilfsschulinternat“. Der Akt hatte die Aktenzahl 250 und wurde unter der...




