E-Book, Deutsch, 376 Seiten
Grossman Das Lächeln des Lammes
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-446-25519-7
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 376 Seiten
ISBN: 978-3-446-25519-7
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
David Grossman wurde 1954 in Jerusalem geboren und gehört zu den bedeutendsten Schriftstellern der israelischen Gegenwartsliteratur. 2008 erhielt er den Geschwister-Scholl-Preis, 2010 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, 2017 den internationalen Man-Booker-Preis für seinen Roman Kommt ein Pferd in die Bar. 2021 wurde ihm das Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland verliehen. Bei Hanser erschienen zuletzt Diesen Krieg kann keiner gewinnen (2003), Das Gedächtnis der Haut (2004), Die Kraft zur Korrektur (2008), Eine Frau flieht vor einer Nachricht (Roman, 2009), Die Umarmung (2012), Aus der Zeit fallen (2013), Kommt ein Pferd in die Bar (Roman, 2016), Die Sonnenprinzessin (2016), Eine Taube erschießen (Reden und Essays, 2018) und Was Nina wusste (2020). Im Hanser Kinder- und Jugendbuch erschien zuletzt 2018 das Kinderbuch Giraffe und dann ab ins Bett!, 2023 folgt das Bilderbuch Opa, warum hast du Falten?.
Fachgebiete
Weitere Infos & Material
1
Nein. Nein. Ich habe sie alle erfunden. Ich will, daß du mir glaubst, Chilmi. Auf diese Weise wird es für uns beide leichter sein. Schosch, die ich geliebt habe und die ich vor drei Tagen verließ, und Katzman, der weit weg in Italien blieb, und auch den Jungen, der vor Liebe starb und dessen Namen ich nicht einmal kannte. Alle. Sogar dich, Chilmi. Glaub mir, es ist besser für dich, nur mein Traumbild zu sein. Bei mir ist es ruhig und sicher, und die Dinge sind genau das, was sie zu sein scheinen. Es gibt keine Überraschungen. Natürlich würde ich nie von dir verlangen, Teil meines Lebens zu sein. Dieses Lebens, das man irrtümlich »Realität« nennt. Es ist furchtbar gefährlich und hinterhältig dort, und nichts ist so, wie es scheint. Aber als Geschichte, Chilmi, als kan-ja-ma-kan?
Wenn du damit einverstanden bist, so laß uns anfangen. Wir fangen am besten gleich an, bevor ich dein Dorf erreiche und dir das erzählen werde, was ich so sehr zu erzählen fürchte. Es ist für uns beide besser, wenn wir uns verstecken, uns aneinanderschmiegen und die Decke über den Kopf ziehen. Also, Chilmi, kan-ja-ma-kan, es-war-oder-war-nicht, wie alle deine Geschichten beginnen, während wir nur sagen: es war einmal, vor langer langer Zeit, in einem fernen Land …
Und ich dachte immer, solche Dinge seien nur neben deinem Zitronenbaum möglich. In der Dunkelheit deiner Höhle, zwischen den kleinen Hebeln und Zahnrädern, den Vorhängen aus Spinnweben. Zwischen den Töpfen aus Ton, die du eines Tages mit besonders leichter Luft füllen wirst, und mit denen du versuchst, wieder an einen anderen Ort zu fliegen. Das ist es, was ich immer gedacht habe, aber jetzt stellt sich heraus, daß ich mich geirrt habe; es scheint, als könne es kan-ja-ma-kan auch in Tel Aviv geben, im gleißenden Licht der Sonne, im grellen Neonschein, in sauberen, weißgestrichenen Zimmern, an Orten, wo jedes Wort, das man sagt, auf Tonband aufgenommen und aufgeschrieben wird. Auch dort kann es das geben.
Also – kan-ja-ma-kan, Chilmi; ich muß es so sagen wie du, den Kopf nach hinten lehnen an den Stamm des Zitronenbaumes, die Augen schließen, tief Luft holen und sie mit einem Summen wieder ausatmen, wie jemand, der einen langen Faden aus seinem Bauch zieht, und da kommt es schon, kan-ja-ma-kan, es war einmal ein Mädchen, das war so klein, daß es mir kaum bis zur Schulter reichte, und es hatte ein frisches, offenes Gesicht, und es trug eine Brille, rund und klar, und sein Name war Schosch.
Es war einmal ein gutherziges Mädchen, das sich selbst im Wald besuchen ging und sich dabei verirrte, und es verstreute – hör gut zu, Chilmi – Kerne der Liebe, damit es den Weg zu sich selbst wiederfände, und um zu sich selbst zurückzukehren, grub es Tunnel in die härtesten und schwierigsten Menschen und kroch in der Ringform durch sie hindurch, so nannte es das, kan-ja-ma-kan.
Genug. Ich spiele Komödie. Ich habe keine Kraft für diese Geschichte. Ich habe keine Kraft, zu Chilmi zu fahren und ihm zu erzählen, was geschehen ist. Hier sollte ich das Auto, das ich Katzman gestohlen habe, wenden, direkt nach Tel Aviv fahren und in ihre Geschichte einsteigen. Denn allein wird sie es nicht schaffen, das hat auch Katzman gesagt, der flehte mich an, geh zu ihr, Uri, du bist der einzige, der jetzt den Schaden wiedergutmachen kann.
Aber ich werde es nicht tun. Ich werde es nicht tun. Ich brauche jetzt all meine Kraft, um zu zerstören. Um alles zu tilgen, was ich mit ihr hatte – die Dinge, die wir uns sagten, und die Träume, die wir träumten; doch scheinbar ist es nicht so leicht, wie es sich anhört, denn schon seit drei Tagen, seit ich sie verlassen habe, versuche ich es. Ich kämpfe und zerstöre, verhöhne die Geheimnisse, die wir miteinander hatten, die kleinen Versprechen, die wir einander gaben, ich trete gegen die Möbel, die ich für uns gebaut habe, lösche mit all meiner Kraft die-so-erstaunlich-einfachen-Worte, wie sie es nannte, aber es klappt nicht, und ich verstehe das nicht, denn man könnte doch annehmen, daß diese Dinge, die Träumereien und Lügen, auf wackligen Beinen stehen und es genügt, mit dem Finger auf sie zu zeigen, um sie zum Einsturz zu bringen. Aber es ist nicht so. Und wenn ich versuche, sie aus mir herauszuziehen, kann ich genau fühlen, wo die Wurzeln sich in meinem Inneren spannen, und ich sehe, daß es einer oder zwei Lügen gelungen ist, sich als mein eigener privater Schmerz zu verkleiden, als Worte, für die es außerhalb meines Körpers keine Übersetzung gibt, und ich weiß nicht, was von mir übrigbleiben wird, nachdem all das Zerstören und Tilgen zu Ende ist.
Kan-ja-ma-kan, es war einmal – und gibt noch heute – Dörfer, die an beiden Seiten der schmalen Straße erwachen, und Prinzessinnen aus fernen Zeiten in prachtvoll bestickten Kleidern, die in der Dunkelheit hinausgehen und Mist sammeln, um die tabuns zum Brotbacken anzuzünden, und Rauch, der allmählich aufsteigt, und Felder, die noch völlig grau sind, aber in wenigen Augenblicken, wenn die Sonne aufgeht, schrecklich brennen werden.
Hier ist es wie in der italienischen Provinz. Vielleicht zieht es mich deshalb so sehr in diese Gegend. Vielleicht verspürte ich deshalb plötzlich Sehnsucht nach mir selbst. Hier ist es wie in meinem Santa Anarella, das nach einem weiteren nächtlichen Erdbeben wieder zum Leben erwacht; und die Olivenbäume mit den blaugrauen Blättern strecken sich auch hier und gähnen aus den Löchern in ihren Stämmen. Nur daß dort die Katastrophe kurz und schnell war, während sie hier schon fünf Jahre anhält und vor sich hin dämmert. Die Zeit – so sagt Avner – drang hier durch die Poren des Unrechts ein wie ein Gift, das den Körper lähmt und die Korpuskeln der Vernunft zersetzt.
Da ist ein Esel. Hallo Esel. Du bist noch ein junges Tier. Haben sie dir nicht gesagt, daß du dich vor Autos fürchten sollst? Daß du von der Straße herunter mußt, wenn du eines kommen siehst? Na gut. Ich werde warten, bis du mir aus dem Weg gehst. Sie haben dir wohl die Beine zusammengebunden, was? Aha, ich sehe, daß ich dich interessiere. Nein? Warum schaust du mich dann so an? Du hast eine kleine Mähne, die naß ist vom Tau. Lauf nach Haus zu deiner Mutter, sie wird sie dir trockenlecken. Und nun muß ich weiter. Nein, nein, beweg dich nicht. Es fällt dir schwer, deine Beine zu rühren. Ich werde um dich herumfahren, so vorsichtig wie möglich. Wie nett von dir, zu kommen und meine Geschichte ein wenig zu verschönern. Ach, kleiner Esel, ich sah deinen toten Bruder aufgeschlitzt und verfault in der Gasse des Elsa’adije-Viertels liegen, und darum fällt es mir etwas schwer, vor dir zu sitzen und Gesichter zu ziehen, weil ich plötzlich durch dich hindurch in dein Inneres sehen kann, und verzeih mir, wirklich, aber irgend etwas in mir scheint schiefgegangen zu sein. Ich wußte nicht, daß man auch hinter die Dinge sehen muß.
Wohin fahre ich? Chilmi selbst ist doch nur kan-ja-ma-kan. Nur ein Märchen, das Märchen erfindet. Wie kann ich seinem ganzen Unsinn glauben. Hirngespinste eines Irrsinnigen. Alle seine Geschichten über Darios, seinen Erlöser und Wohltäter, und über den Jäger, der Löwen in den Sand malte, und sogar Chilmis toten Sohn Jasdi, der arme Idiot, auch er ist ein Märchen, ich schwör’s, ein unverständliches Märchen.
Nichts ist verständlich. Schosch sagte, daß die Dinge, die wir zu verstehen fähig sind, die gegebenen Tatsachen, die zurückgebliebenen Tiere in einer imaginären Herde seien. »Das darwinsche Gesetz des Bewußtseins« nannte sie das. Auf diese Weise schützen sich die anderen Tiere in der Herde vor der tödlichen Berührung mit unserem Verstand. Was uns betrifft, so sind wir gezwungen – erklärte sie –, von der schlechtesten Nahrung zu leben, und das Jagen macht keine Freude.
Es war auf unserer Reise ins Ausland, als sie plötzlich begann, vom Jagen zu sprechen und an Begriffen herumzufeilen, und ich begriff nicht, was sie mir sagte. Warum sie das Jagen überhaupt aufbrachte. Wir waren doch Bauern, die das eigene Feld bearbeiteten, Schulter an Schulter, so hatten wir es einander stets versprochen, Glückseligkeit wie Kartoffelsuppe, wie ein kleiner Faden, der in die doppelte Decke gewebt war; und wie wurden wir plötzlich zu Jägern, und wen würden wir jagen?
Kan-ja-ma-kan, der Tod ist schrecklich nah gekommen. Der Tod von Chilmis Sohn Jasdi, und der Kadaver des Esels in der Gasse, und der Junge von Schosch. Wie abgebrannte Zündhölzer sind sie alle, aber wenn ich sie zusammenbringe, wird eine Flamme auflodern, und durch ihr Licht werde ich mich selbst erkennen und wissen, was mit mir geschehen ist. Vor drei Tagen schaltete ich das Tonband auf Schoschs Schreibtisch ein und hörte, was sie dem Jungen sagte: Du weißt nicht, was du bist und was in deinem Inneren ist, Mordi, und erst wenn die Dinge zum Vorschein kommen, in Form eines Gedichts oder eines Aufschreis, oder wenn sie in Gestalt eines schönen Bildes herausströmen, erst dann wirst du dich selbst durch sie erkennen. Und ich habe bereits Angst davor, was jetzt bei mir zum Vorschein kommen wird.
Doch genug. Ich habe sie schon gelöscht. Ich gehöre ihr nicht mehr. Ich gehöre jetzt hierher. Zu dem schmalen, verschlungenen Weg, zu den braunen Hühnern, die sich unter die Räder des Autos flüchten; ich fahre in einem ganz weichen Nebel, der sich sanft bis zu den Hügeln hinzieht, zu den Olivenbäumen, den Mauern aus Schlamm, den schmutzigen Straßen und den in Staub gezeichneten Pfaden, denn dies ist Santa Anarella, es erwacht aus der nächtlichen Katastrophe, die kurz und schnell war, weshalb auch die Genesung schnell sein wird, und die Menschen hier werden lächeln wie das schmutzige italienische Baby, das...