Gstättner | Leopold der Letzte | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 350 Seiten

Gstättner Leopold der Letzte

Roman
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7117-5449-3
Verlag: Picus Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 350 Seiten

ISBN: 978-3-7117-5449-3
Verlag: Picus Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Unter den vergessenen Autoren der vorletzten Jahrhundertwende ist er vermutlich der bekannteste - wenn auch nicht unbedingt als Autor: Egyd Gstättner porträtiert mit spitzer Feder das Leben Leopold von Sacher-Masochs. Sein bekanntester Roman, Die Venus im Pelz, hat wenn schon nicht Literaturgeschichte, so doch auf jeden Fall Kulturgeschichte geschrieben: Leopold von Sacher-Masoch, altösterreichischer Kleinadeliger, verbrachte sein Leben zwischen der österreichischen und der deutschen Provinz. Er korrespondierte mit den bedeutendsten Schriftstellern seiner Zeit und publizierte unermüdlich - schrammte aber permanent am existenziellen Abgrund entlang. Egyd Gstättner zeichnet einen am Leben und der Bösartigkeit seiner ersten Frau Wanda und seiner eigenen Inszenierung Verzweifelnden.

Egyd Gstättner, geboren 1962, lebt als freier Autor in seiner Heimatstadt Klagenfurt. Zahlreiche Preise und Auszeichnungen. Im Picus Verlag erschienen unter anderem »Ein Endsommernachtsalbtraum«, »Das Geisterschiff«, »Karl Kraus lernt Dummdeutsch«, »Wiener Fenstersturz« und »Die Familie des Teufels. Allein gegen die Literaturgeschichte«, »Mein Leben als Hofnarr. Es ist verdammt hart, Egyd Gstättner zu sein« (2019), »Klagenfurt. Was der Tourist sehen sollte« (2020) sowie »Leopold der Letzte« (2021). Im Herbst 2022 erschienen seine tolldreisten Erzählungen »Ich bin Kaiser«.

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2
Wie ich zu Hause blieb, warum Mick Jagger »As Tears
Go By« sang und warum ihm Marianne Faithfull einen
Zinnteller geschenkt hat Beim Gesundheitsamt meldete sich niemand mehr. Das Wochenende war angebrochen. Nach dem fünften Freizeichen schaltete sich ein Tonband zu und ließ Marion wissen, sie rufe außerhalb der Geschäftszeiten an. Man sei am nächsten Werktag ab sieben Uhr wieder erreichbar. Die Tonbandstimme nannte Marion eine Notfallnummer, aber ein Notfall war ich nicht mehr. Es bestand keine dringende Notwendigkeit, mich abzutransportieren: Ich lag nicht zerquetscht auf der Straße, beschmutzte nichts, behinderte niemanden, machte keine Umstände und erregte in den eigenen vier Wänden auch kein öffentliches Ärgernis. Ich war bloß tot. Das würde ich nach dem Wochenende auch noch sein. Die Mühlen der Todesbürokratie würden früh genug zu mahlen beginnen. Ich blieb noch einen Tag daheim. Mir schien, dass Marion meine postume Stabilitas loci ebenso erleichterte wie mich selbst. Plötzlich hatte ich die Idee, mir eine Zigarette anzuzünden. Es war meine erste Zigarette seit fünfundzwanzig Jahren. Damals vor fünfundzwanzig Jahren, als ich aus dem Koma erwachte, war mein erster Gedanke gewesen: Die letzte Zigarette ist noch nicht geraucht! Nach diesem Schwur begann eine jahrzehntelange Wartezeit, jahrzehntelanger Nikotindurst. Ich hätte auch sagen können: In meinem letzten Roman werde ich wieder rauchen! Die Zigarette war der Widerstand gegen alles! Die Zigarette war der Widerstand gegen die Dunkelkammer meiner Seele und gegen die Dunkelkammer aller anderen Seelen. Die Zigarette, das war der zivile Ungehorsam. Das Aufbegehren gegen die Wissenschaft, die Politik, die Gesellschaft. Die Zigarette war das Unkorrekte! Mein Weltwiderstand! Es funktionierte! Erst wurde mir schwindlig, aber nur kurz. Dann schmeckte die Zigarette herrlich! Ich fühlte mich so gut, gehoben und erhaben wie seit Jahrzehnten nicht. Ich gewann an Kraft und Selbstsicherheit. Nun fühlte es sich so an, als wäre nach einer unendlich langen Finsternis ein Licht in meinem Hirn angezündet worden. Jetzt ging es endlich wieder weiter! Auf dem Päckchen HB Filter stand Rauchen ist tödlich – Hören Sie jetzt auf. Sicher nicht! Hatte ich mir jemals etwas sagen lassen? Hatte ich jemals etwas vorbehaltlos geglaubt? Den Ärzten? Den Medizinwissenschaftlern? Den Medizinwirtschaftlern? Den Handlangern und Sklaven der Statistik? Dem Weltgesundheitsgeschäft? Jetzt ließ ich mir nichts mehr sagen. Keine Parolen! Keine Vorschriften! Keine Verbote! Keine Gebote! Keine guten Ratschläge! Und schon gar kein Machtwort! Keine Diktate! Es gab nur noch eine einzige Quelle der Welterkenntnis, und die war ich selbst! Mick Jaggers Parole, dichtete Frinko Balaban, lautet: Mach, was du willst, und mach es dein ganzes Leben lang! (Eine schöne Parole und ganz selbstverständlich für Menschen wie mich, aber keine Parole für pragmatisierte weisungsgebundene Beamte und Leute in Dienstverhältnissen, Leute mit Verpflichtungen, Schulden, Krediten et cetera.) In seiner ersten Lebenshälfte vernichtete Mick Jagger gerne Hotelzimmer. Jetzt war der »Hero« fünfundsiebzig, achtfacher Vater, fünffacher Großvater, Urgroßvater, und vor dem Konzert in der Steiermark landete er ganz geheim mit einem Riesenvogel, einer Boeing 767, dank einer Sondergenehmigung des österreichischen Militärkommandos auf dem kleinen Militärflughafen von Zeltweg zwischen schweineteuren und elegant-sinnlosen österreichischen Abfangjägern und zerstörte sie nicht, sondern kam gerade rechtzeitig zum »exklusiven Meet & Greet am frühen Abend«, wo er »mit ein paar wenigen Fans« zusammentraf, die zuvor erstens einen fünfseitigen Vertrag unterzeichnen hatten müssen, in dem sie sich verpflichteten, die Band nicht mit Schnupfen anzustecken, und die zweitens für einen Handshake mit Jagger dreiundzwanzigtausend Euro bezahlt hatten. Das alles wussten am Tag nach meinem Tod jetzt alle, die die Zeitung lasen, aber das alles war unwichtig. Wichtig war, dass die Stones als Erstes It’s Only Rock ’n’ Roll »in die Schlammschlacht warfen« (but I like it), anschließend Tumbling Dice (da gab es, so Balaban – für die Fans »kein Halten mehr«. Aber welches Halten hätte es auch geben sollen?) Und dann kam: Satisfaction. Genau genommen das Gegenteil: No satisfaction! I can’t get no satisfaction, der Hit, der Durchbruch, »die Eintrittskarte in den lebenslangen Ruhm« der Stones, »ihre ganz eigene Form der Nachhaltigkeit«. Balaban war nicht zu bremsen. Nicht nur »die Herren Jagger, Richards, Wood und Watts grölten ›I can’t get no satisfaction‹ gen die Seetaler Alpen.« Fünfundneunzigtausend Fans, fünfundneunzigtausend Österreicherinnen und Österreicher – und auch ein paar Deutsche – grölten (wie aus einer Kehle): I CAN’T GET NO SA-TISFAC-TION!! Ein Statement! Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar. Aber man redet und weiß nicht, was man redet. Man singt und weiß nicht, was man singt. Man grölt und weiß nicht, was man grölt. Die Masse grölte den Song mit der allergrößten Befriedigung. Nicht nur ich werde nicht befriedigt, auch mein Nachbar wird nicht befriedigt, der Nachbar meines Nachbarn, der vor mir, der hinter mir, der über mir, der unter mir, sie alle werden nicht befriedigt, niemand, niemand wird befriedigt. Es gibt nichts Befriedigenderes auf Erden, als mit all den Heerscharen der Unbefriedigten gemeinsam No Satisfaction zu grölen. Ich rauchte. I got satisfaction. Dann wurde es melancholisch in Zeltweg, und in der Dämmerung wurden fünfundneunzigtausend Kerzchen angezündet. Genau besehen waren es gar keine Kerzchen, sondern fünfundneunzigtausend schunkelnde Taschenlämpchen der Mobiltelefone, denn nun stimmten die Stones As Tears Go By an, ein Tribut an Mick Jaggers erste Muse, nicht zufällig hier in der Steiermark, einen Katzensprung von Judenburg entfernt, einen Katzensprung von Bruck an der Mur entfernt, einen Katzensprung von Graz, eine Verbeugung und vielleicht auch eine kleine, späte Entschuldigung. Keith Richards und er, Mick, hatten den Song für Marianne Faithfull geschrieben, eine ehemalige Klosterschülerin, ein siebzehnjähriges blondes Mädchen mit Schmollmund, das sie auf einer der unzähligen Londoner Record-Release-Partys kennengelernt hatten. Sie waren betrunken, und Andrew Oldham, der Manager der Stones, sagte dem jungen Ding: Aus dir machen wir einen Star! Marianne war klar gewesen, dass die weiblichen Fans den halbstarken Popstars ihren Tribut in Sex entrichteten. Sie war unglaublich gespalten, las ich in Marianne Faithfulls Autobiografie, in der es von »klassischen Scheiß-drauf-Junkies«, »kompletten Arschlöchern«, »dumpfen Männerdingen« nur so wimmelte. »Familienscheiß in der Londoner Kaputtheit.« Sie hatte sich für ein braves Mädchen gehalten, und plötzlich schlief sie mit so vielen Männern. Sie, die Klosterschülerin. Sie dachte allmählich, sie sei eine schlechte Frau, eine Hure, eine Nutte. Besser, sie heiratete, dachte sie, dann würde sie wieder brav. Sie »schnallte« auch gleich noch etwas über Männer, schrieb Marianne, das sie aber trotzdem nie ganz begriffen habe: Wenn man fies zu ihnen ist, rennen sie einem wie verrückt hinterher, und wenn man nett zu ihnen ist, rennen sie schreiend davon. Ich sitze da und schaue den Kindern beim Spielen zu. Sie spielen dieselben Spiele, die ich gespielt habe, sie halten sie für neu. Ich sitze da und schaue zu und lasse Tränen fließen. Mit siebzehn kam Marianne mit Jaggers Lied in die Hitparade und schenkte ihm zum Dank einen Zinnteller. Mit achtzehn heiratete sie – einen anderen –, bekam ein Kind mit ihm und mit neunzehn brannte sie mit Mick Jagger durch. Im Gammlergewand trampte Marianne mit ihm durch Großbritannien, feierte, kiffte und trug nichts unter ihrer Pelzjacke, als die Polizei in Keith Richards’ Landhaus eine Drogenrazzia durchführte. Vor den uniformierten Beamten des Empires ließ Marianne die Pelzjacke zu Boden gleiten, denn sie hatte nichts zu verbergen. Mick schwängerte Marianne, die Tochter wurde tot geboren, und von dem Todesgeburtstag an ging es rapide abwärts mit Marianne. Heroin half gegen die überbordende Trauer. Heroin half gegen den übermächtigen Schmerz. Mariannes Drogenkonsum geriet außer Kontrolle. Mick betrog Marianne und ließ sie sitzen. Heroin. Sie wollte sterben, aber sie starb nicht. Als Mick Jagger eine andere heiratete, saß Marianne Faithfull wegen Drogenmissbrauchs im Gefängnis. Nach ihrer Entlassung lebte und überlebte sie zwei Jahre lang als Obdachlose im Londoner Rotlicht- und Musikerviertel Soho. Sie könne es nicht erklären, hatte Marianne in die Fernsehkamera gesprochen, sie sei zwanzig Jahre alt und unglaublich müde. Todmüde. Es sei ein Spiel, flüsterte sie, es sei ein Spiel. Sie saß da und ließ die Tränen fließen. Mit...


Egyd Gstättner, geboren 1962, lebt als freier Autor in seiner Heimatstadt Klagenfurt. Zahlreiche Preise und Auszeichnungen. Im Picus Verlag erschienen unter anderem »Ein Endsommernachtsalbtraum«, »Das Geisterschiff«, »Karl Kraus lernt Dummdeutsch«, »Wiener Fenstersturz« und »Die Familie des Teufels. Allein gegen die Literaturgeschichte«, »Mein Leben als Hofnarr. Es ist verdammt hart, Egyd Gstättner zu sein« (2019), »Klagenfurt. Was der Tourist sehen sollte« (2020) sowie »Leopold der Letzte« (2021). Im Herbst 2022 erschienen seine tolldreisten Erzählungen »Ich bin Kaiser«.



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