Gurt | Bündner Alptraum | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 4, 288 Seiten

Reihe: Bündner Krimi

Gurt Bündner Alptraum

Kriminalroman
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-96041-621-0
Verlag: Emons Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

Kriminalroman

E-Book, Deutsch, Band 4, 288 Seiten

Reihe: Bündner Krimi

ISBN: 978-3-96041-621-0
Verlag: Emons Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Ein spannungsgeladener Heimatkrimi inmitten der unerbittlichen Schönheit der Bündner Alpen.

Spätsommer in den Alpen: Drei junge Berlinerinnen nehmen eine Auszeit und bewirtschaften eine Saison lang eine Alp in Graubünden. Jede von ihnen möchte Abstand gewinnen und trägt doch ihre ganz eigene Geschichte mit auf den Schamserberg. Als eine Schlechtwetterfront heraufzieht und sich dichter Nebel auf die abgeschiedene Landschaft senkt, stellen die drei Frauen fest, dass sie in der Einsamkeit nicht so allein sind, wie sie dachten ...

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1
Die Weite der baumlosen Moorlandschaft der Alp Nurdagn lag verhüllt in dichte Nebelschwaden. In der Windstille hingen sie auch weiter oben fest, um die kronengleich erhabenen, schroff gezackten Felswände der über dreitausend Meter hohen Grauhörner, als stünde die Zeit still. Diffuses Licht füllte an diesem vorletzten Spätnachmittag im August die triefend nassen Alpweiden, in denen das Vieh dem Wetter trotzend gelassen weidete – dunkle, kantige Tierkörper, als wären es Findlinge, die sich hin und wieder unmerklich verrückten, standen in der Landschaft verteilt. Nur das unrhythmische Geläut der grossen und kleinen Schellen, wenn sie ihre schweren Grinder auf und ab bewegten, um schnaubend zu grasen, klang hell und dunkel mitsamt dem Rauschen der vielen vom Nebel verschluckten Bäche aus diesem hervor. Bei dieser Wetterlage waren längst alle Himmelsrichtungen verloren gegangen, nur das Oben und Unten blieb. Sogar jene, die sich in diesen Bergen auskannten, als wäre es ihr Hosensack, und um die Gesetzmässigkeiten Bescheid wussten, die sich mit zunehmender Höhenlage veränderten, kamen an solchen Tagen schon mal vom Weg ab – auch dann, wenn sie sich an markanten Steinen, einem schiefen Zaunpfahl, einer kleinen Senke oder an einem der Bachläufe zu orientieren versuchten. Gion Duschletta zwängte sich mühsam hinters Steuer seines alten weinroten Subaru Justy, der vor dem von der Sonne dunkel gegerbten Stalltor stand, dessen Holz durch die Nässe nun schwarz wirkte. Nach dem zu ruppigen Anfahren, das ihm einen zünftigen Zwick im Kreuz bescherte, griff er nach der blauen Melkkappe auf seinem Kopf und richtete diese. Aus dem alten Kassettenradio ertönten die Bündner Spitzbueba mit einem lüpfigen Ländler. Das auf eintausendfünfhundert Metern gelegene und nur noch zwanzig Seelen zählende Casti verliess er um kurz nach siebzehn Uhr. Bald verschluckte der Nebel die wenigen Häuser hinter ihm, die sich in der Nähe der Felswand einer Horde Schafe gleich scharten, als bedrohe ein Raubtier selbige. Das einen Steinwurf oberhalb gelegene Kirchlein, das mittig auf dem schmalen, nasenähnlichen Felsvorsprung über dem Abgrund thronte und in dem er einst seine Brida geheiratet hatte, war seit seiner Kindheit nie mehr an einem Sonntag gefüllt gewesen – nicht mal an Beerdigungen. Die wenigen harthölzernen dunkelbraunen Bankreihen darin leerten sich von Jahr zu Jahr, als fiele hin und wieder einer der Kirchgänger nach einem der Gottesdienste ins nahe Tobel, dass ihn der Fundogn mit seinem kalten Wasser hinfortriss. Während Duschletta auf der schmalen Alpstrasse und bei zunehmend schlechterer Sicht zur Alp Nurdagn hochfuhr, hörte er in Gedanken nochmals die Stimme von Bettina Stenlizer, einer der jungen deutschen Frauen, die sich zum Ziel gesetzt hatten, den Alpsommer als Sennerinnen hier oben zu verbringen. Er selbst war zu alt dafür, nicht nur, weil ihn das verreckte Kreuz seit Jahren plagte. Sein Sohn wie seine Tochter wohnten im Unterland und liessen sich nur noch zu den Festtagen und am Todestag ihrer Mutter hier oben blicken. Im letzteren Fall legten sie eine Handvoll Blumen auf das schmale Grab mit dem Holzkreuz und der kleinen weissen Madonna darunter. Zum Bergheuen waren sie früher regelmässig hochgefahren, bis er vor acht Jahren den Hof wegen Nachfolgermangels aufgeben musste, und das nach so vielen Generationen, die weiss Gott alles andere als rosige Zeiten durchgestanden hatten. Was ihm neben der grossen Enttäuschung und den schönen Erinnerungen der Alpzeit geblieben war, das war die Alp selbst, doch gutes Personal zur Bewirtschaftung zu finden war fast so schwierig, wie für einen Fremden sich hier oben in diesem Nebelgrau zurechtzufinden. Gion Duschletta ging auf die fünfundsiebzig zu, und seit er denken konnte, war er jeden Sommer auf der Alp gewesen, hatte dort oben seine ersten Schritte gemacht. Siebenundsechzig Sommer hatte er als Hirt oder später als Senn auf Nurdagn zugebracht, bis er vor wenigen Jahren den Platz räumen musste, um festzustellen, dass sich fast niemand darum riss, den Sommer dort oben mit Arbeit zu verbringen. Und diese Arbeit konnte man heute, wo nur noch Mutterkühe und Galtvieh aufgetrieben wurden, nicht vergleichen mit früher. Trotzdem hatte er lange mit sich gehadert, die Alp diesen drei Berlinerinnen anvertrauen zu müssen, wenn auch nur probehalber für diesen einen Sommer. Als die jungen Frauen am Ende des Vorstellungstages in seiner Stube hockten und mit leuchtenden Augen und nicht immer in lupenreinem Hochdeutsch ihn von sich zu überzeugen versuchten, verstanden sie ihn nicht immer und er sich am Ende auch nicht, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. «In Herrgotts Namen halt», hatte er sich plötzlich sagen hören. Schlechter als der faule Vorarlberger Alois Gabernig, der sich im letzten Jahr bestimmt keinen Buckel vom Krampfen geholt hatte, konnten die drei zusammen auch nicht werden, beruhigte er sich in den Tagen nach seinem Entscheid, den er aus dem Mut der Verzweiflung ausgesprochen haben musste. Als die drei deutschen Mädels vor drei Monaten der frühen Hitze wegen das Vieh bereits Anfang Juni auf die unteren Weiden getrieben hatten, hob dabei manch einer der Einheimischen misstrauisch die Augenbrauen. Dennoch halfen sie wacker beim Auftrieb mit, nicht aber ohne hin und wieder in ihrer rätoromanischen Muttersprache etwas darüber loszuwerden. «Ma, lein mirar co ei vegn.» Nun ja, die Zeit würde es weisen, wie’s käme. Immerhin, wacker zu Fuss waren die drei und flott anzusehen gewiss auch, doch vor allem waren sie beseelt von ihrer Aufgabe, fand Duschletta, und das war sicherlich das Wesentliche. Er selbst war in den ersten drei Wochen täglich am Berg gewesen, hatte ihnen alles gezeigt und zugeschafft, was sein alter Buckel noch hergab, dass ihm das verreckte Kreuz fast schlaflose Nächte bescherte, als nächtigte er auf einem spitzigen Stein. Zu seinem Erstaunen hatten die drei schnell gelernt, das Älplerleben Tag für Tag zu meistern, und das mehr als nur recht. Es waren tatsächlich kschaffigi Frauen, deren Wille ihren Weg ebnete, erkannte Duschletta jeden Tag mehr. Hingegen an das kschpässiga, freundliche hochdeutsche «Grüziwohl, Gion» musste er sich gewöhnen, ebenso daran, dass auf seiner Alp mit der kleinen Gastwirtschaft Berliner Dialekt geredet wurde, sodass so manchem deutschen Touristen bei der Begrüssung die Kinnlade herunterhing, der mit einheimischen Bündnern gerechnet hatte und in einer Mischung aus Schwyzerdütsch und Berliner Schnauze angesprochen wurde. «Grüziwohl. Wat darf’s denn sein, juter Mann? Röschti mit Bockwurst und ein Bierchen oder wat Süsses und Kaffee?» Nun ja, hatte er sich sagen müssen, die Zeiten ändern sich halt laufend. Die Alpzeiten wie vor dreissig Jahren und davor würden nie wiederkommen. Das schmerzte ihn, dass er gar nicht lange nachhirnen mochte. Seine Gedanken kehrten deshalb schnell wieder zu dem Anruf von vor einer Viertelstunde zurück, als sein altes schwarzes Haustelefon nicht aufhören wollte mit Schellen und ihn so vom Kanapee aufgescheucht hatte wie der lose Laden vor dem Fenster, der die letzte Nacht so heftig im Wind hin- und hergeschlagen hatte, dass er ihn schlaftrunken verankern musste. Bettina war am Telefon gewesen, hatte zu seiner Verwunderung in Angst davon geredet, dass sie von einer Art Berggeist verfolgt worden sei und sich im dicken Nebel verirrt habe – sie glaubte, irgendwo im Gebiet von Vallatscha zu stecken. Fast wäre sie auf ihrer Flucht über eine der Felswände zu Tode gestürzt, sie brauche sofort seine Hilfe, hatte es angstvoll und etwas atemlos aus dem schweren Hörer getönt. Duschletta war zwar besorgt gewesen, und das hatte einen triftigen Grund, doch nicht in Aufruhr geraten, denn er glaubte, eine andere Ursache zu erkennen, und alte Geister sollte man tunlichst ruhen lassen. Der Berg konnte bei solchem Wetter manchen Menschen gewiss Angst einjagen und die Phantasie anregen wie ein Kräuterschnaps einen trägen Magen. Sowieso erst recht jetzt, wo das grosse Zelt auf der einzig halbwegs ebenen Wiese neben dem Dorf stand, in dem der Theaterverein von Andeer dieses «Sännatuntschi» aufführte, dass es schwach Beseelte gruseln liess. Auch deshalb rief er nicht den Polizeiposten Thusis an. Er wollte zuerst mit Bettina reden, doch zuvor musste er sie finden, was nicht schwierig sein sollte. Sein Vater selig hatte es ihm vor Jahrzenten bereits beigebracht. *** Eine Stunde zuvor Bettina, die braunhaarige Berlinerin, hielt den Stecken in ihrer schwieligen Rechten, als wäre er ein Pilgerstab, während sie, in Jeanslatzhose und schweren Bergschuhen, den Weidezaun am östlichen Ende weiter abschritt, damit sie nicht nochmals das Vieh suchen musste, das sie tags zuvor einen ganzen Tag Arbeit gekostet hatte. Doch schlimmer war die Angst dabei gewesen, eines der Tiere abgestürzt zu finden, was zum Glück nicht der Fall gewesen war. Auf ihrem speckigen Älplerhut perlten silbrig glänzende Tröpfchen, ihre Wangen waren von der Anstrengung gerötet, eine gewisse Anspannung stand in ihren harten Gesichtszügen geschrieben, ihr Atem wölkte sich rhythmisch im Nebelgrau. Sie beeilte sich, um mit dem Zäunen fertig zu werden, da dichterer Nebel aufzog. Bei jedem Schlag auf einen der Holzpfähle verschluckte die Umgebung das matte gleichmässige «Dock». Den schweren Schlägel, den sie dazu brauchte, erhob sie wöchentlich schwungvoller. Doch deswegen war die Vierundzwanzigjährige nicht auf dem Berg. Schwerer als jede Arbeit wog das dunkle Joch, das seit Jahren auf ihren Schultern lastete. Egal, wohin sie ging und was sie tat – es war da. Meist vergass sie es zwar, doch latent fühlte sie es in jeder Körperzelle, in der die...


Philipp Gurt wurde 1968 als siebtes von acht Kindern in eine Bergbauernfamilie in Graubünden geboren. Er wuchs in verschiedenen Kinderheimen auf. Früh begann er mit dem Schreiben. Zwölf seiner Bücher wurden bisher veröffentlicht, darunter mehrere Schweizer Bestseller. 2017 erhielt er den Schweizer Autorenpreis. Er lebt in Chur im Kanton Graubünden.



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