E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Gurt Chur 1947 (rot)
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-96041-580-0
Verlag: Emons Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Kriminalroman
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-96041-580-0
Verlag: Emons Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Ein Kriminalroman aus der Schweiz der 1940er Jahre.
Chur im Hitzesommer 1947: Ein grausamer Fräuleinmörder versetzt die Stadt in Angst und Schrecken. Schnell fällt der Verdacht auf einen jungen Mann, der in einer Armenanstalt als Knecht arbeitet. Nach der ersten Einvernahme flüchtet er in die Berge, und eine gnadenlose Hetzjagd beginnt. Doch Landjäger Walter Caminada stösst bei seinen Ermittlungen auf Ungereimtheiten. Die Spuren führen ihn ins Irrenhaus, aber auch in die höchsten Kreise der lokalen Regierung – bis Caminada selbst in Bedrängnis gerät ....
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Chur – Freitag, 18. Juli 1947 Ein heisser Tag neigte sich im Sommer 1947 seinem Ende zu. Schon seit Wochen brütete die Sonne über der Hauptstadt Graubündens, als wolle der Herrgott die Menschen ermahnen. In den Gassen und Häusern staute sich die Wärme Hitzköpfen gleich, dass manch einer nächtelang in seiner stickigen Kammer sich wälzend den Morgen herbeisehnte, dessen zartes Licht doch nur einen weiteren Gluttag ankündigte. Denn Tag für Tag spannte sich ein blassblauer Himmel über der Schweiz. Die unbarmherzige Sonne knallte einem gleissenden Schmiedehammer gleich hernieder, als entzünde sich damit das bevorstehende Unheil in der schwülen Luft. Es war kurz vor neunzehn Uhr. Die Hoffnung auf ein abkühlendes Gewitter schwand gleichsam mit den goldgelb geränderten Schleierwolken dahin, die der träge Südwind vom Bündner Oberland ins Churer Rheintal schob. Ungeduldig blickte Flurina Hassler auf die grosse Uhr in der Telefonvermittlungszentrale. Vor zwei Jahren, nur einen Tag nach ihrem zweiundzwanzigsten Geburtstag, hatte sie diese Arbeitsstelle am Postplatz angetreten. Seit dem Tag sass sie auf dem dritten Stuhl von rechts und trug wie die anderen einen weissen Kittel, als stände sie in der Unteren Gasse beim rotwangigen Riffel hinter dessen Metzgereitheke. Flurina ertappte sich schon wieder dabei, wie sie erwartungsfroh auf die weisse Uhr blickte, deren schwarzer Minutenzeiger sich nicht bewegen wollte, als wäre er bloss aufgemalt. Sie wusste, dass jede Regung ihrerseits registriert wurde. Hinter ihr und den anderen Vermittlerinnen sassen die drei Aufseherinnen an den Kontrolltischen. Bereits gestern hatte die steifhalsige und meist schlecht gelaunte Clementina Clavout sie wegen ihrer Blicke auf die Uhr ermahnt: «Flurina, du Donnersmaitli! Was ist in den letzten Tagen bloss in dich gefahren? Reiss dich endlich zusammen. Man könnte ja fast meinen, es erwarte dich ein Prinz in seiner Kutsche auf dem Postplatz unten.» Flurina hatte entschuldigend gelächelt und sofort ein weiteres Gespräch angenommen. «Grüaziwoll, hier spricht die Vermittlung in Chur. Welche Verbindung wünschen Sie? – Sehr gära, Härr Toggtr von Planta. Einen Moment bitte schön. – Härr Toggtr? Ihre Verbindung zum Palace Hotel in St. Moritz steht. Sie können jetzt sprechen. Uf fiderlosa, Härr Toggtr.» Flurina gefiel diese Arbeit, und viel Auswahl gab es in Chur in diesen Nachkriegsjahren ja sowieso nicht. Zuvor hatte sie in der Seifenfabrik Hegner & Cie. ein bescheidenes Auskommen gefunden, doch das Handwerk des Seifensiedens gefiel ihr gar nicht. Vor allem der Gestank nicht, wenn aus den Knochen das Fett ausgekocht wurde und deshalb eine schwere Dampfwolke in der alten Fabrikhalle hing. Ihre Haare fühlten sich jeden Abend schmierig an, und das trotz des Kopftuches. Das war aber vorbei, und darüber war sie froh. Sie war in ihrer Schicht für jeweils zehn der insgesamt einhundert Leitungen in der Telefonzentrale verantwortlich. Gemeinsam vermittelten sie die Anrufe für den grössten Teil Graubündens und mussten so schnell wie möglich und immer freundlich die Verbindungen für die Anrufer aufbauen und bei Ende der Gespräche diese sofort schliessen. Bei den automatischen Direktverbindungen innerhalb von Chur erlosch als optische Hilfe das rote Lämpchen und zeigte so an, dass diese Leitung neu vermittelt werden konnte. Bei den Transitverbindungen hingegen mussten sie sich immer wieder kurz diskret ins Gespräch einkabeln, um teure Stehzeit zu verhindern, denn jede ungenutzte Minute war kostbar. Zu gewissen Zeiten lief die Anlage Sturm. Mit flinken Händen und Umsicht hantierten die Vermittlerinnen dann gekonnt an dem jeweiligen Steckpult in ihrer Front, während die Anrufer auf eine freie Leitung warten mussten. Die Aufseherinnen führten penibel Buch darüber, wie viele Gespräche jede Vermittlerin während ihrer Zehn-Stunden-Schicht abzuwickeln vermochte, um die Faulen, wie sie gerne betonten, heimzuschicken und den Fleissigen Platz zu machen. Es galt deshalb jeden Tag aufs Neue, mindestens einhundert Punkte in der Leistungstabelle zu erzielen, die Ende jedes Monats nach Bundesbern geschickt wurde. Flurina wusste, sie war nicht nur die jüngste, sie war auch meist die schnellste unter den Vermittlerinnen ihrer Schicht. Dass ihre aussergewöhnliche, schöne Stimme, in der ein fröhliches Lachen mitschwang, grossen Anklang fand – vor allem bei den überwiegend männlichen Anrufern –, wusste sie gewinnbringend einzusetzen. Schnell erlangte sie ein Gespür dafür, wer wie lange in etwa sprach, und hatte so die geringste Anzahl toter Minuten, und das nicht nur bei den Transitverbindungen. Flurina war sich sicher: Das Telefon würde bald noch wichtiger werden. Die Einwohnerkontrolle in Chur hatte erst letzten Monat einen zweiten Apparat angeschafft, da die eine Leitung fast dauernd genutzt wurde. Ausserdem würde bestimmt jede Firma im Kanton, die etwas auf sich hielt und an die Telefonleitung angeschlossen wurde, bald auch so einen Fernsprechapparat besitzen, wie es immerhin bereits mehr als die Hälfte der Churer Geschäfte tat. Endlich hatte der grosse Zeiger den letzten Sprung auf Punkt neunzehn Uhr geschafft. Berta Kobelt, eine blasse, hagere, alleinerziehende Dreissigjährige mit schlechten Zähnen, übernahm die Abendschicht und setzte sich auf den Platz mit der an der Stuhllehne angebrachten Nummer 3. Mit einem freundlichen Lächeln und einem «A guata Obad allersits» verliess Flurina aufgeregt, vom missmutigen Blick Clementina Clavouts begleitet, die saalähnliche Telefonzentrale und trat in die gestaute Wärme der Altstadt hinaus. Die Sonne stand bereits tief über dem Gipfelgrat des mächtigen Calanda und warf blendend ihre Strahlen zwischen die schmalen grauen Häuserzeilen. Flurina, die zart und zerbrechlich wie ein Vogel schien, trug ihr braunes Haar schulterlang, das passend ihr ovales Gesicht umrahmte. Den schicken hellbraunen Rock und die weisse Bluse hatte sie zusammen mit ihrer besten Freundin, der Lisa Brunner, im Globus am Kornplatz gekauft. Lisa, die als Hilfscoiffeuse beim jüngsten Coiffeur der Stadt, dem jungen Spatz, arbeitete, hatte ihr am Mittag ein kleines Fläschlein mit dem neuesten Parfüm aus Zürich in die Hand gedrückt und dabei vielsagend gelacht und gemeint, dass sie es ihr unbedingt vor Montag zurückgeben solle, damit sie es vor Arbeitsbeginn rechtzeitig ins Geschäft zurücklegen könne, damit es der Spatz nicht bemerke, der erst dann vom Unterland zurückkehren werde. Mit diesem Gedanken tupfte sich nun Flurina das sündhaft teure «Miss Dior» des französischen Parfümeurs Paul Vacher an ihre Halsseiten und atmete den Duft der weiten Welt ein. So fühlte sie sich fast wie eine noble Mademoiselle aus dem so fernen Paris, das sie eines Tages unbedingt mit eigenen Augen sehen wollte. Aus ihrem Handtäschchen zückte sie einen Lippenstift und einen üppig verzierten Handspiegel, den sie von ihrer Nana geerbt hatte, und färbte ihre Lippen der neuesten Mode entsprechend knallrot. Sie richtete kurz ihr Haar, setzte sich die schwarze Sonnenbrille auf, die in ihrem feinen Gesicht etwas gross erschien, und schlüpfte in ihre Schuhe, die wegen den dicken Ledereinlagen an den Fersen, welche die flachen Absätze kaschieren sollten, nicht mehr richtig passten. Ihr Gang war ein wenig staksig, doch sie war zu aufgeregt, als dass sie auch nur einen Gedanken daran hätte verschwenden wollen, denn heute war es so weit, und heute wäre sie bereit dazu. Eine Mischung aus Angst, Neugierde und Vorfreude mischte sich mit dem Duft von «Miss Dior». *** Die Sonne war längstens hinter den Gipfeln des Calanda untergegangen, die Nacht lag wie ein schwarzes Leichentuch über dem Alpenstädtchen, als Flurina schnellen Schrittes durch das spärlich beleuchtete Chur lief. Ihr Herz klopfte vor Anspannung bis zum Hals. Immer wieder drehte sie sich um und versuchte, in ihren Schuhen, in denen sie noch immer nicht richtig gehen konnte, so schnell wie möglich durch die totenstillen Gassen zu laufen, in denen nur das unrhythmische Klacken ihrer Absätze widerhallte. Vom alten Schuppen des Güterbahnhofs her war sie gekommen. Auf einmal war da dieser Schatten, der sie verfolgte und immer wieder verschwand, sich nicht abschütteln liess, als wäre es ihr eigener. Kurz tauchte er wieder auf, um diesmal beim Postplatz hinter dem grossen und einzigen Laternenlichtkegel ins Dunkel zu verschwinden. Dass jemand sie verfolgte, war zu offensichtlich. Doch was wollte dieser Jemand von ihr? Ausserdem machte dieser Jemand sich nicht mal die Mühe, unentdeckt zu bleiben. Es schien ihr, als wolle er, dass sie wusste, dass er sie verfolgte, aber mehr auch nicht. Vielleicht war es einer dieser Vaganten, vor denen man sich in Acht nehmen musste, die vor allem unmittelbar nach Kriegsende fast zur Plage geworden waren. Oder war er es? Wenn ja und wenn er ihr so Angst einzujagen versuchte, damit sie schwieg, wäre er an die Falsche geraten, und das sollte er eigentlich am besten wissen. Über das, was sie an diesem Abend erlebt hatte, könnte sie niemals schweigen. So hatte sie sich das Ganze nicht vorgestellt. Sie musste sich jetzt nur noch überlegen, wie sie es geschickt zur Anzeige bringen konnte, ohne selbst ins schlechte Licht gerückt zu werden. Nicht auszudenken, wenn dies ihr Vater erführe! Sie steckte wahrlich in einer Zwickmühle fest. Sie folgte nicht dem kürzesten Weg nach Hause, sondern dem, von dem sie wusste, dass er besser beleuchtet war. Solange wegen der Nachkriegswirren die Lebensmittel weiter rationiert blieben, sparten die Stadtväter, wo sie konnten, denn in zwei Jahren stand die Ausrichtung des Eidgenössischen Schützenfestes bevor, dessen...




