E-Book, Deutsch, Band 1, 176 Seiten, Format (B × H): 125 mm x 205 mm
Reihe: Ein Fall für Corina Costa
Gurt Mord im Bernina Express
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-311-70421-8
Verlag: OKTOPUS bei Kampa
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 1, 176 Seiten, Format (B × H): 125 mm x 205 mm
Reihe: Ein Fall für Corina Costa
ISBN: 978-3-311-70421-8
Verlag: OKTOPUS bei Kampa
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Philipp Gurt wurde 1968 als siebtes von acht Kindern einer armen Bergbauernfamilie in Graubünden geboren und wuchs in verschiedenen Kinderheimen auf. Bereits als Jugendlicher verfasste Gurt Kurzgeschichten, mit zwanzig folgte der erste Roman. Schon immer hatte er ein inniges Verhältnis zur Natur, das auch sein hochatmosphärisches Schreiben prägen sollte. Seine Verbundenheit mit dem Kanton Graubünden, wo er noch heute als freier Schriftsteller lebt, ist in jedem seiner Romane spürbar.
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1
Petra Schmitz blickte aus dem Fenster des fahrenden Bernina Express, der soeben an Pontresina vorbei Richtung Ospizio Bernina ratterte, das auf zweitausend Metern den höchsten Punkt der Zugstrecke markierte. Ein heiserer Pfiff ertönte in einer der lang gezogenen Kurven, in denen der feuerrote Zug stetig an Höhe gewann. Petras Eltern waren damals auf ihrer Hochzeitsreise ebenfalls hier hochgefahren, genau dreißig Jahre war das her. Übrig geblieben war nach vierzehn Jahren Ehe jedoch nur ein hässlicher Scherbenhaufen, aus dem sich die damals pubertierende Tochter vergeblich eine Discokugel zu basteln versuchte.
Dass Petra, mittlerweile dreißigjährig, an diesem kornblumenblauen Sommertag in der ersten Klasse sitzen durfte, war einer deutschen Glücksfee geschuldet. Vor vier Monaten, an einem frostigen Februartag, saß die etwas rundliche und stets gepflegte Altenpflegerin im Wartezimmer ihres Zahnarztes in Ismaning, einer kleinen Gemeinde im Norden des Landkreises München, und blätterte angespannt in der . Dies tat sie, weil sie Angst hatte, dass bald die Zahnarzthelferin mit einem Lächeln im Gesicht ins Wartezimmer treten, in die Runde der Wartenden blicken und sagen würde: »Fräulein Schmitz? Bitte schön, Sie sind nun dran.« Um sich abzulenken, versuchte Petra die Wettbewerbsfrage im aktuellen Heft zu lösen. Der Hauptgewinn: eine Reise mit dem Bernina Express für zwei Personen. Die Quizfrage dazu lautete: Wie nennen sich die Schweizer auch noch?
Petra musste nicht lange darüber nachdenken, schon kam ihr Schillers Geschichte von diesem Schweizer Freiheitshelden, dem Wilhelm Tell, in den Sinn, die sie in der siebten Klasse hatten lesen müssen. In der Erzählung war öfters von diesen Eidgenossen die Rede gewesen, dem sagenumwobenen Schwur auf der Rütliwiese über dem Vierwaldstättersee und diesem bösartigen Landvogt, dem Gessler. Unvergessen die Stelle im Buch, an der Wilhelm Tell vom Vogt gezwungen wird, mit der Armbrust einen Pfeil durch einen Apfel zu schießen, der auf dem Kopf von Tells Sohn Walterli liegt. Diese Grausamkeit forderte der Landvogt, weil Tell Gesslers Hut nicht gegrüßt hatte, der in Altdorf auf einer Stange hing. Doch Wilhelm Tell wäre nicht der Schweizer Nationalheld geworden, hätte er seinen Pfeil nicht mitten durch den Apfel geschossen und damit das Leben seines tapferen Buben und das seinige gerettet. Als Gessler den wackeren Tell nach dem Schuss fragte, warum er sich denn zwei Pfeile zurechtgelegt habe, da blickte ihn Tell an und antwortete: »Hätte der erste Pfeil mein Walterli getroffen, so hätte der zweite Euch wahrlich nicht verfehlt.«
Petra hatte diese Geschichte geliebt, den aufopfernden Kampf von Unterdrückten gegen die Obrigkeit, und hätte sich gewünscht, dass es in ihrer Zeit damals als Teenagerin einen Tell oder noch besser eine Tellin gegeben hätte. tippte sie die Antwort in ihr Handy.
Petra hatte einen Moment über diese Wettbewerbsfrage nachdenken müssen und nahm daher an, dass es wohl nicht viele -Leser gab, die die Antwort wüssten. Normalerweise waren die Fragen in solchen Heften ja immer so simpel, dass böse Zungen behaupteten, dies sei der stetig sinkenden Allgemeinbildung der Deutschen geschuldet. In diesem Fall jedoch war dem nicht so, und daher schien ihr die Gewinnchance höher zu sein als in jedem Heft bisher. Deshalb nahm sie kurzentschlossen am Gewinnspiel teil.
Wochen später, sie hatte den Zahnarztbesuch, das Quiz und die Eidgenossen längst wieder vergessen, erhielt sie eine Mail mit einer Gewinnverkündigung, die sie im ersten Augenblick gleich in den Spam-Ordner verschieben wollte. Doch dann schaute sie genauer hin und erinnerte sich: Sie hatte doch tatsächlich gewonnen!
So fuhr sie diese Bahnstrecke nun zum zweiten Mal in ihrem Leben. Beim ersten Mal war sie im Bauch der Mutter mit an Bord gewesen. Ihre Eltern hatten damals bestimmt noch händchenhaltend in die nun vorüberziehende Berglandschaft geblickt, sich auf das Familienglück gefreut und Pläne geschmiedet. So zumindest stellte Petra sich das vor.
Während sie so ihren Gedanken nachhing, fiel ihr Blick auf den gegenüberliegenden Sitzplatz. Er war leer. Alexandra, Petras beste und eigentlich einzige Freundin, war kurz vor der Reise krank geworden und musste zu Hause bleiben. Deshalb saß Petra nun allein am Fensterplatz. Ihre Tasche hatte Petra auf den ebenfalls freien Sitz neben sich gelegt, das Handy im Gold-Look lag griffbereit auf der Ablage am Fenster. Vor wenigen Minuten hatte sie Alexandra angerufen, denn wie beste Freundinnen es tun, waren sie auch in dieser Situation füreinander da. Petra hatte ihr nach dem kurzen Gespräch noch eine liebe Nachricht getippt, mit Fingern, deren Nägel je eine andere Farbe trugen. Alle waren sie knallbunt, außer der am linken kleinen Finger, den lackierte sie immer schwarz – ihr Markenzeichen sozusagen.
Während die hoch gelegenen, im Sonnenschein gebadeten Alpweiden an ihr vorüberzogen, dachte Petra darüber nach, dass vor dem Streckenbau, zur Zeit von Heidi, deren Großvater, dem grimmigen Alpöhi, und dem immer hungrigen Geissenpeter, bestimmt keiner der hier oben hart krampfenden Eidgenossen geglaubt hätte, dass mal eine Zeit kommen würde, in der Menschen klimatisiert durch diese hochalpine Abgeschiedenheit der Berge reisen und dabei Instagram und Facebook mit Selfies füttern würden. Petra empfand diese Art der Selbstdarstellung mitleiderregend und würdelos und mied die sogenannt sozialen Medien daher konsequent. Und auch im echten Leben war sie unscheinbar und stand nicht gern im Mittelpunkt: Sie war weder groß noch klein, weder dick noch dünn, und auch sonst hatte die Brünette, abgesehen von ihren kunterbunten Fingernägeln, optisch nichts Auffälliges an sich. Ihr war am wohlsten, wenn sie in der Masse des Durchschnitts untertauchen konnte.
Während der Zug unter ihr gleichmäßig ruckelte, hörte Petra neben den Touristeninformationen, die hin und wieder auf Englisch, Deutsch und Italienisch aus den Lautsprechern tönten, der Gruppe Japanerinnen zu, die drei Sitzreihen vor ihr völlig aus dem Häuschen aufsprangen, als hätten sie soeben ein paar Aliens entdeckt, wenn wieder ein paar Kühe irgendwo zwischen Alpenrosen und Findlingen weideten.
Nebst der Fünfergruppe japanischer Touristinnen reisten drei deutsche Frauen mit. Die über Fünfzigjährigen stammten zweifellos alle aus dem schönen Schwabenländle, der Dialekt war unverkennbar. Petra hatte auch diese Frauen nur kurz gesehen, als sie dem Zug zustiegen, sie hatten sich mit einem »Grüß Gott« begrüßt. Nun saß dieses Grüppchen eine Sitzreihe vor den Japanerinnen und schien ebenfalls bei bester Laune.
Zusätzlich zu diesen beiden heiteren Reisegruppen vor ihr saß eine Nonne seitlich von Petra am Fenster auf der anderen Seite des Zuges. Sie saß wie Petra ebenfalls in Fahrtrichtung. Hin und wieder suchte die Ordensschwester lächelnd den Blickkontakt über den Mittelgang hinweg. Wahrscheinlich aus Mitleid, dachte Petra, weil sie allein reiste.
Dann waren da noch weitere Stimmen im Panoramawagen zu hören: die von zwei Franzosen, zwei Italienerinnen, und Petra glaubte, noch Holländisch erkannt zu haben. Doch außer der Nonne sah sie von ihrem Sitzplatz aus keinen der anderen Fahrgäste im Abteil der ersten Klasse.
Alles in allem war der Panoramawagen nur knapp zu einem Viertel besetzt, was Petra nicht wunderte, denn es war Dienstag, der 21. Juni 2022, die letzte Woche, bevor in den meisten Kantonen der Schweiz und auch anderswo die langen Sommerferien begannen – ein Reisedatum, das typisch war für solche Preisausschreiben, da der Zug zu dieser Zeit nicht sonderlich gut gebucht war, was aber aus Petras Sicht durchaus seinen Reiz hatte.
Irgendwann ertönte die Durchsage, dass der Zug in zehn Minuten das Ospizio Bernina erreiche, das direkt am Ufer des Lago Bianco, des weißen Sees, lag. Direkt davor käme aber erst noch der kleine Lej Nair, der schwarze See, der wie ein dunkles Auge dem Himmel entgegenblickte. Die Stimme aus den Lautsprechern wies die Passagiere darauf hin, dass die Seen sich in Fahrtrichtung rechts befänden und dass nebst den unterschiedlichen Farben der beiden Gewässer das Besondere sei, dass deren Abflüsse in unterschiedliche Meere flössen. Die Stimme verkündete dies so gut gelaunt, als führen sie allesamt via Gipfel direkt in den Himmel. Der Zug ratterte derweil weiter durch die hoch gelegenen Weiden. Ein in die Länge gestreckter, schlichter Bau aus Naturstein tauchte mitten in der Weidelandschaft auf. Das muss eine Alp sein, dachte Petra und stand auf, denn ihre Blase drückte.
Erst ging sie in Fahrtrichtung durch das gesamte Abteil der ersten Klasse, vorbei an den Japanerinnen, den Schwäbinnen und den anderen Gästen in den Vorraum des Wagens, doch die Toilette war besetzt. Als sie vor der verschlossenen Tür stand, bemerkte sie, dass sie zuvor so in Gedanken versunken gewesen war, dass sie ihr goldenes Handy auf der Ablage vor dem Fenster vergessen hatte.
Einige Minuten später:
Petra verließ angesäuert das Abteil der ersten Klasse, diesmal entgegen der Fahrtrichtung. Sie war noch nicht auf dem WC gewesen, und nun eilte es. Direkt hinter ihrem Sitzplatz, hinter der automatischen Schiebetür, befand sich im Zwischenraum zum Abteil der zweiten Klasse ein weiteres WC.
Der Zug ruckelte, als sie an die Tür trat und diese nach innen aufschob. Dabei überkam sie ein unangenehmes Gefühl wie eine Gänsehaut. Sie wollte sich gerade umdrehen, als ihr jemand den Hals zuschnürte und sie durch die offene Tür in das...




