E-Book, Deutsch, Band 8, 384 Seiten
Gurt Todesengel
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-311-70583-3
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Fall für Giulia de Medici
E-Book, Deutsch, Band 8, 384 Seiten
Reihe: Ein Fall für Giulia de Medici
ISBN: 978-3-311-70583-3
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Philipp Gurt wurde 1968 als siebtes von acht Kindern einer armen Bergbauernfamilie in Graubünden geboren und wuchs in verschiedenen Kinderheimen auf. Bereits als Jugendlicher verfasste Gurt Kurzgeschichten, mit zwanzig folgte der erste Roman. Schon immer hatte er ein inniges Verhältnis zur Natur, das auch sein hochatmosphärisches Schreiben prägen sollte. Seine Verbundenheit mit dem Kanton Graubünden, wo er noch heute als freier Schriftsteller lebt, ist in jedem seiner Romane spürbar.
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2
Nur Stunden davor … 17:45 Uhr
»Sabrina, ich glaube, der Kerl hinter uns verfolgt uns tatsächlich. Ich bilde mir das nicht ein«, wiederholte Lora angespannt, nachdem sie nochmals einen Blick über ihre linke Schulter geworfen hatte und dabei kurz aus ihrem Laufrhythmus gefallen war.
»Kein Wunder! Wenn ich dieser Mann wäre, ich würde haargenau dasselbe tun. Ich meine, wir beide haben ja leider nie das Glück, unseren eigenen Hintern nachzurennen, aber der guten Figur. Oder glaubst du, ich trage dieses Outfit für Blinde?« Sabrina behielt das lockere Tempo bei, das der Kondition und zeitgleich der Fettverbrennung dienen sollte, die sie anstrebte. »Aber wenn du noch öfter zurückblickst, kriegst du garantiert wieder dein Seitenstechen, und dann«, sie senkte die Stimme übertrieben und verlieh ihr einen bedrohlichen Ton, als erzähle sie einem Kind ein Schauermärchen, »ja, dann wird er dich holen kommen! Uaaaa!« Sie lachte hell, und ihre glasklaren blauen Augen glänzten.
Die herbstlich gefärbten Bäume im Fürstenwald oberhalb von Chur saugten sich weiter mit der hereinbrechenden Dämmerung dieses Herbstabends voll, während die beiden jungen Frauen weiterliefen. Das Rauschen des Windes in den Wipfeln über ihnen steigerte sich im böigen Aufbäumen des Südwindes, Blätter tanzten zu Boden.
Sie waren heute ausnahmsweise später dran als sonst. Das Leuchten des Blätterwerkes war daher längst aus dem Wald verschwunden, wie die letzten Gäste eines zuvor rauschenden Festes. Bis auf den Mann, der nun hinter ihnen lief, waren sie seit einer Viertelstunde niemandem mehr begegnet. Vor etwas mehr als einer Dreiviertelstunde hatten sie kurz nach dem Loslaufen das Geläut der Abdankungskapelle gehört, das war um Punkt 17 Uhr gewesen, kurz bevor die Totenmesse gelesen wurde. Daher hatte es vor dem Friedhof von Menschen nur so gewimmelt, und die wenigen Parkplätze waren alle längst voll gewesen, als sie um kurz vor 17 Uhr mit dem Auto ankamen. Deshalb hatte Lora genervt ihren Wagen an den Straßenrand gestellt, ins Parkverbot.
Sabrina wusste um Loras dünnes Nervenkostüm, wenn sie im Wald joggen gingen. Die Gute las zu viele Kriminalromane, und zu allem Übel auch noch solche, die sich in der Region abspielten. Deshalb reichte schon ein bewölkter Himmel zur Mittagszeit, um sie in Sorge zu versetzen. Lora würde daher am liebsten nur in einer Zehnergruppe laufen gehen, und das bei hellstem Sonnenschein und von einem Team von bis auf die Zähne bewaffneten Polizeigrenadieren begleitet. Sabrina hingegen lief tagsüber öfters und gern auch allein durch den Wald, und das vorwiegend mit Musik in den Ohren. Sinnigerweise aber nicht in der Dunkelheit, denn auf einem Silbertablett würde sie sich bestimmt keinem dieser Perverslinge servieren wollen, die zweifelsohne tatsächlich in dieser Welt existierten. Aber zu zweit in der Dämmerung; darin sah sie kein Problem. Deshalb hatte sie Lora heute auch überredet, ausnahmsweise später loszulaufen, sich dieser einengenden Angst zu stellen, um sich endlich davon zu befreien. Außerdem trug diese ja eine Uhr am Handgelenk, mit der sie sogar telefonieren konnte.
Noch hatten die beiden gut eineinhalb Kilometer vor sich, als Lora schon wieder damit anfing, dass der Mann noch immer 30 Meter hinter ihnen joggte. Sie stufte wirklich alle Männer, die ihr im Wald über den Weg liefen und keinen Kinderwagen neben ihrer hochschwangeren Frau schoben, als gefährlich ein.
»Lora, der wird genauso wie wir beide auf dem Rückweg zum Waldhausstall sein, weil dort die Parkplätze sind; Velos, Autos, Bushaltestelle. Fliegen kann auch der wahrscheinlich nicht. Also mach dir nicht ins Höschen«, hielt Sabrina dagegen und warf dennoch einen Blick zurück. Sie fand rein gar nichts Verdächtiges an dem Kerl. Ein Jogger halt, und er schien in der Dämmerung und auf den ersten Blick ganz okay auszusehen. Mitte 30 vielleicht, dunkelhaarig, sportlich und groß. Die Gesichtszüge waren aber nicht erkennbar, es war bereits zu dunkel.
»Wir hätten doch besser nicht so spät noch loslaufen sollen. Das war ein Fehler. Es ist ja beinahe so dunkel wie in der Nacht«, beklagte sich Lora bereits zum dritten Mal, als würde das etwas an der Situation ändern, und versuchte angestrengt, weiter den Rhythmus zu halten. Doch keine zwei Minuten später drehte sie sich wieder um und sagte: »Hey, Sabrina, was ist denn mit dem jetzt los?«
»Was ist denn?«
»Er ist weg! Einfach verschwunden!«, sagte sie aufgeregt und wäre beinahe gestolpert.
»Oh mein Gott, Lora! Der arme Kerl kann es dir aber auch nicht recht machen. Ist er hinter uns, passt es dir nicht, ist er weg, ebenfalls nicht.«
»Es gab ja keine Weggabelung in der Zwischenzeit. Wir beide kennen die Wege hier ja in- und auswendig. Also?«
»Na und? Vielleicht hat ihn dein ständiges Zurückblicken zum Nachdenken gebracht und er ist ein Gentleman; geht extra wegen dir ein bisschen langsamer, um dich nicht noch mehr zu verunsichern.« Sie lachte. »Und was passiert? Das Gegenteil! Aber ja, vielleicht macht er auch kurz ein paar Dehnübungen, was weiß ich«, sagte sie und erschrak, kaum hatte sie das letzte Wort ausgesprochen, denn ein Mann stand nur knappe 20 Meter vor ihnen hälftig hinter einem Gebüsch und duckte sich reflexartig, als sie ihn erblickten. Sabrina stoppte so abrupt, als hätte sich ein Loch im Boden vor ihr aufgetan. »Okay, das finde ich nun ausnahmsweise auch «, sagte sie, blickte angestrengt zurück, dann nach vorne. »Kann dir nicht sagen, ob es tatsächlich der Kerl ist, der eben noch hinter uns lief. Mir scheint, der hier sah aber älter aus, ziemlich älter sogar. Aber ich habe ihn ja kaum gesehen.«
Lora zuckte hilflos mit den Schultern. Ihre Gesichtszüge waren wie versteinert, sie atmete oberflächlich und zu schnell, blickte sich dauernd um.
», an dem will sogar ich nicht vorbei.« Sabrina blickte in alle Richtungen und horchte. Außer dem Rauschen des Windes über ihnen war es still. Sie sagte Lora natürlich nicht, dass sie langsam befürchtete, dass sie beide möglicherweise von zwei Männern in die Zange genommen worden waren, die sie vielleicht beim Waldhausstall loslaufen gesehen und ihnen nun aufgelauert hatten. Stattdessen sagte sie mit gespielt selbstsicherer Stimme: »Komm, Lora, lass uns hier mitten durch den Wald laufen, dann kommen wir auf den unteren Weg, der nachher am Friedhof vorbei ebenfalls zum Waldhausstall führt, ja? Heute Abend hat es ja um diese Zeit massenhaft Leute dort, die nach der Messe zu den Gräbern gehen, um die Lichter anzuzünden. Nicht umsonst haben wir keinen Parkplatz mehr gefunden.«
Das wusste Sabrina genau, denn seit drei Jahren zündete auch sie zu Allerheiligen eine Kerze an, eine Kerze der Erinnerung und der Mahnung. Auch wenn das nicht viele verstanden; sie fand den Anblick der vielen Grabkerzen zusammen mit den Lichtern der Stadt in der Senke dahinter kraftvoll. Der Friedhof Fürstenwald war für sie deshalb ein schöner Platz geworden, und sie wollte irgendwann mal selbst dort beerdigt werden. Doch daran dachte sie jetzt nicht. Sie zog die total verängstigte und erstarrte Lora am Arm. »Komm jetzt, wir müssen los!«
Noch war in diesem Herbst kaum was vom Blattwerk gefallen. Ein milder und ruhiger September und warmer Oktober lagen hinter ihnen. Doch nun tanzten und wirbelten die Blätter im böigen Südwind zu Boden. Das Knacken von trockenem Unterholz ertönte im düsteren Wald, während die beiden sich zwischen Baumstämmen und Gesträuch durchschlugen. Dabei hörten sie plötzlich, dass ihnen jemand folgte. Wer immer dies auch war, er schien es nicht verbergen zu wollen, zu ungestüm hörte sich sein Laufen an.
»Verdammt, lauf schneller«, stieß Sabrina aus, da Lora sich immer wieder umblickte, aber den Verfolger dennoch nicht ausmachen konnte. »Schau nur nach vorne. Dann sind wir schneller. Bald haben wir’s ja«, versuchte sie Lora und sich selbst zu beruhigen.
»Aber er kommt!«, schrie Lora grell auf und strauchelte in der Dunkelheit, raffte sich wieder auf und hetzte Sabrina hinterher, während der Verfolger sich hinter ihnen durchs Dickicht pflügte.
Die Angst fuhr nun beiden heiß und schwer in die Glieder. Loras Aufkreischen erfüllte den Wald, während sie hinter Sabrina endlich und völlig außer Atem den breiten Waldweg erreichte, auf dem an den sonnigen Wochenenden unzählige Spaziergänger ihre Ruhe und Entspannung suchten.
»Lora, nur noch etwa 300 Meter, los!«, keuchte Sabrina, denn ihre Freundin schien zunehmend lahm vor Angst zu werden. »Komm, das schaffen wir!«
Sie waren aber noch keine 30 Meter weit auf dem Waldweg gekommen, als hinter ihnen eine dunkle Gestalt wie ein wildes Tier aus dem Dickicht brach.
In diesem Moment ertönte das Geläut der Abdankungskapelle, es war 18 Uhr. Der Südwind trug es zu den Flüchtenden, suggerierte dabei, dass der Friedhof näher sei, als es in Wirklichkeit der Fall war.
»Beim Friedhof hat es viele Leute.« Sabrina rang um Atem. »Los!«
Lora taumelte, als wäre sie angeschossen worden, und blieb stehen. Die Art, wie sie es tat, zeigte Sabrina, dass ihre Freundin am Ende war. Dann schrie Lora plötzlich wie am Spieß auf, ihre Arme hielt sie dabei seitlich schräg nach hinten durchgestreckt und den Kopf nach vorne gebeugt, wie Wettkampfschwimmer auf dem Startblock, bevor sie wieder um Luft rang. Obwohl auch Sabrina längst in Panik geraten war, registrierte sie dennoch für einen Moment den Gedanken, dass sie niemals gedacht hätte,...




