Gysi / Hebel | Ausstieg links? | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 219 Seiten

Gysi / Hebel Ausstieg links?

Eine Bilanz

E-Book, Deutsch, 219 Seiten

ISBN: 978-3-86489-604-0
Verlag: Westend
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Eine Polit-Legende erzählt

Gregor Gysi - wie kaum ein anderer Politiker prägte er die vergangenen 25 Jahre deutscher Einheit. Schnell avancierte er vom DDR-Anwalt zum Politprofi und Talkshow-Star. Gysi wurde zunächst bewundert und gehasst, verschaffte sich Schritt für Schritt beachtliche Anerkennung im Osten und genießt nun Respekt im gesamten Land. Mit seinen Reden fasziniert er bis heute selbst politische Gegner. Nach seinem Rücktritt aus der ersten Reihe der Politik legt er nun eine erste Bilanz vor. Er spricht mit Stephan Hebel über die Reize des Westens und die DDR-Nostalgie, Sozialismus und Marktwirtschaft, Erfolge und Niederlagen seiner Partei, die bewegendsten Begegnungen und den Preis, den die Politik dem Menschen Gregor Gysi abverlangte. Ein einzigartiges Dokument deutscher politischer Zeitgeschichte.
Gysi / Hebel Ausstieg links? jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


Vorwort
Der Rosa-Luxemburg-Platz und die Cranachstraße haben wenig gemeinsam. In Berlin-Mitte, wo die Heldin der Arbeiterbewegung sich bis heute auf den Straßenschildern gehalten hat, steht gegenüber der Volksbühne das Karl-Liebknecht-Haus, der eher unauffällige Sitz der Partei Die Linke. Im westlichen Wohnstadtteil Friedenau, in einem der gediegenen Jahrhundertwende-Bauten der Cranachstraße, ist der »Vierraumladen« untergebracht. Zwischen beiden Orten liegen gut zwanzig Autominuten, die ehemalige Mauer und für mich auch zwanzig Jahre. Es sind die beiden Orte, an denen ich Gelegenheit hatte, Gregor Gysi zu Gesprächen zu treffen, die den Rahmen der üblichen Interviews sprengten. Vor allem aber sind es zwei Orte, die zum Werdegang dieses Politikers passen. Und damit zu diesem Buch, das seine Entwicklung vom Anwalt der Ostdeutschen zur gesamtdeutschen Politgröße in einem ersten bilanzierenden Gespräch nachzuzeichnen versucht. Am 7. Juni 2015 verkündete Gregor Gysi auf dem Bielefelder Parteitag der Linken, was viele Beobachter ahnten und manche seiner Genossen längst wussten: Er werde im Oktober, wenn die Spitze der Bundestagsfraktion neu zu wählen sei, nicht wieder kandidieren. Der charismatische Redner tat dies in einer Weise kund, die man inzwischen längst von ihm gewohnt ist: Er redete seiner Partei ins Gewissen, sich nicht in fundamentalistischen Positionen zu verschanzen. Er warb, bei aller heftigen Kritik am politischen System und den herrschenden Parteien, auch für die Vorzüge und Möglichkeiten, die die Menschen im Kapitalismus trotz allem genießen. Er forderte Kompromissfähigkeit, die etwas ganz anderes sei als Selbstaufgabe. Und er teilte wohl zum letzten Mal auf großer Bühne gegen diejenigen in der Linkspartei aus, die lange vor Koalitionsverhandlungen schon unüberwindbare »Haltelinien« zögen, weil sie linke Regierungsmitverantwortung gar nicht wollten. Und doch war es diesmal anders. Denn aus Gregor Gysi sprach etwas, das er sonst fast perfekt zu beherrschen und höchstens bei Bedarf dosiert einzusetzen versteht: Gefühle. Als er sich vor den Delegierten in aller Öffentlichkeit bei Angehörigen und Freunden für ständige Abwesenheit und mangelnde Zuwendung entschuldigte, da brach ihm für einen Moment die Stimme. Und allen, die zuhörten, wurde klar: Diesmal ist es wohl wirklich ein Abschied für immer. Diesmal wird Gysi nicht – wie vor der Bundestagswahl 2005 – zurückkehren in die erste Reihe, wo der Reiz des Ruhms so nah bei der Gefahr der Vereinsamung sitzt. Es wird zwar nicht »Rente mit 67« sein, was wir künftig von ihm erleben, auch wenn er im Januar 2015 67 Jahre alt geworden ist. Dafür hat der Mann – daran lässt er auch in diesem Buch keinen Zweifel – noch viel zu viel vor. Aber so, wie er sich in Bielefeld verabschiedet hat, und so, wie er sich im Gespräch präsentiert, ist ein Comeback praktisch ausgeschlossen. Weil also dieser Abschied wohl endgültig ist, lag der Gedanke nahe, Gregor Gysi um ein ausführliches Gespräch zu bitten, um es rechtzeitig zu seinem Abschied vom Fraktionsvorsitz in Buchform zu dokumentieren und damit eine erste Bilanz vorlegen zu können. Keine großangelegte oder gar vollständige Biografie sollte es werden – die wird er sicher bald selbst verfassen –, aber doch ein Rückblick, der einige Ursprünge und Triebkräfte, einige Höhe- und auch Tiefpunkte dieser außergewöhnlichen Politikerkarriere erkennen lässt. Gysi war nach kurzem Nachdenken einverstanden, aber »den Ort«, sagte er am Telefon, »bestimmen Sie«. Die Idee, das Gespräch »tief im Westen« zu führen, ist mir dann gar nicht selbst gekommen. Ich war wohl dem Reflex erlegen, den ehemaligen DDR-Juristen in die Ost-Schublade zu stecken, obwohl er seiner Anwaltstätigkeit längst im gehobenen Teil Charlottenburgs, in der Fasanenstraße, nachgeht. Dann aber erzählte mir mein sehr geschätzter Kollege Harry Nutt, er betreibe mit seiner Partnerin Barbara Brockert in Friedenau eine kleine Galerie, die auch über Tagungsräume verfügt: den »Vierraumladen«. Es ist ein ruhig gelegener Ort, der mit seiner geschmackvollen Einrichtung und dezent platzierter moderner Kunst an den Wänden eine bürgerlich-gelassene Atmosphäre ausstrahlt. Und wer in diesem Buch liest, was Gregor Gysi über seine durchaus bürgerliche Herkunft sagt, wird verstehen: Das passt zu einem Mann, der, wenn auch von der DDR mitgeprägt, allem anderen entspricht als dem klassischen Klischee vom »Ossi«. Zu unserer Verabredung erschien Gregor Gysi auf die Minute pünktlich. Und während ich meine drei Aufnahmegeräte in Position brachte – nicht etwa nur eins oder zwei, dafür war die Angst, das Ganze könnte an der Technik scheitern, zu groß –, erinnerte ich mich wieder an den Sommertag des Jahres 1995, als ich Gysi schon einmal zu einem ausführlichen Gespräch getroffen hatte, damals gemeinsam mit meinem Kollegen Axel Vornbäumen. Das Interview für die Frankfurter Rundschau fand in Gysis geräumigem Arbeitszimmer im Karl-Liebknecht-Haus am Rosa-Luxemburg-Platz statt. Es dauerte natürlich nicht so viele Stunden wie unser Treffen für dieses Buch, sondern vielleicht eine. Aber was mir 2015 so auffiel wie 1995: Konzentrieren kann sich der Mann wie kaum ein Zweiter. Als sei etwas in ihm mit dem roten Aufnahmeknopf verbunden, schaltet er in den Interviewmodus und behält ihn, wenn nötig, Stunden über Stunden bei, unterbrochen nur von wenigen kurzen Pausen. Im »Vierraumladen« gab es eine Situation, in der vor der Tür ein etwas lauteres Gespräch unter Passanten entstand. Ich schaute, leicht irritiert, immer mal wieder nach draußen, bis Gregor Gysi mitten in einem seiner Sätze die Bemerkung schob: »Sie dürfen sich nicht stören lassen.« Recht hatte er. Vor zwanzig Jahren, im Karl-Liebknecht-Haus, war es ausschließlich um die DDR-Staatssicherheit und den Vorwurf gegangen, Gysi habe dem Spitzeldienst als »Inoffizieller Mitarbeiter« (IM) gedient. Er bestritt das, wie er es bis heute bestreitet, auch in diesem Buch. Ich neigte übrigens schon damals im Angesicht der Akten und der vorliegenden Aussagen dazu, ihm zu glauben – und ich neige dazu bis heute. Ich denke – auch das ist Thema des in diesem Buch dokumentierten Gesprächs –, dass die Debatte über die Verstrickung ins System der SED-Diktatur sich viel zu sehr auf die Frage »IM oder nicht IM?« konzentriert, besonders im Fall Gysi. Wenn man dem damaligen Anwalt zu viel Nähe zum SED-Regime vorwerfen will, dann bietet das, was allgemein bekannt ist und von ihm auch nicht bestritten wird, dazu Anlass genug: War nicht das Zentralkomitee der Staatspartei, mit dem er immer wieder über die Dissidenten unter seinen Mandanten sprach, viel wichtiger und mächtiger als der Geheimdienst, dessen sich die Partei bediente? Damit, so meine ich, sollte sich die Debatte über die ostdeutsche Diktatur beschäftigen, und diese Frage ist es auch, auf die sich unser Gespräch in der Passage über die Stasi-Vorwürfe konzentriert. Als wir unser Interview 1995 führten, war die Wende keine sechs Jahre vorüber. Einen großen Teil dieser Jahre hatte Gregor Gysi wie im Zeitraffer erlebt. Die Wende von 1989 hatte ihn, wie er selber sagt, mehr in die Politik gespült, als dass er diese Karriere angestrebt hätte. Er war schließlich auch keiner gewesen, der nur darauf gewartet hätte, dass die DDR oder wenigstens die SED so bald wie möglich untergehen möge. Nein, Gregor Gysi war – auch das sagt er selbst – ein durchaus loyaler DDR-Bürger und Genosse mit SED-Parteibuch. Der Antifaschismus, der in der Selbstwahrnehmung und in der Propa­ganda der Staats- und Parteielite eine so zentrale Rolle spielte und zugleich zur Rechtfertigung für die Missachtung von Freiheitsrechten missbraucht wurde, war für ihn eben auch gelebte Familiengeschichte. Der jüdische Teil seiner Vorfahren hatte die Verfolgung durch die Nazis am eigenen Leib erlebt, der Name von Gregor Gysis Urgroßmutter, die in Auschwitz ermordet wurde, findet sich in der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Und Gysis Eltern hatten von 1940 bis zum Kriegsende im Auftrag der Kommunistischen Partei in Deutschland Untergrundarbeit gegen die Nationalsozialisten geleistet. Der antifaschistische Identitätskern, so differenziert und kritisch er ihn auch in diesem Buch beschreibt, dürfte im Hause Gysi unumstritten gewesen sein. So etwas schafft Loyalitäten, die allerdings auch den Blick auf das Versagen und die Verbrechen der Staatsmacht trüben können. Zumal es dem Vater, der als Minister für Kultur, dann Botschafter in Rom und zuletzt Staatssekretär für Kirchenfragen knapp unter der obersten Führungsetage angesiedelt war, offenbar immer wieder gelang, die Loyalität mit einer gewissen ironischen Distanz zu verbinden. Nicht, dass Klaus Gysi je auf die Idee gekommen wäre, in Opposition zu gehen, wie etwa der später von Sohn Gregor verteidigte Robert Havemann. Dazu war der ernsthafte Glaube an das »antifaschistische Projekt« DDR dann doch zu groß. Aber es muss durch das Haus Gysi zugleich der ständige Hauch eines Sarkasmus geweht haben, der das schlechte Gewissen, falls vorhanden, wegblies und es leichter machte, dem System im Ganzen treu zu bleiben. Vielleicht auch deshalb, weil das westliche Lebensgefühl, personifiziert in einer Vielzahl von Besuchern, von Anfang an seinen Platz am Familientisch hatte. Es ist nicht übertrieben zu behaupten, dass Sohn Gregor von beidem – vom ernsthaften Glauben wie von der ironischen Distanz – etwas geerbt hat. Vom »Projekt« DDR (dessen Scheitern ihm inzwischen natürlich bewusst ist) kann er bis heute auch mit Sarkasmus reden, vor allem wenn er die Verhältnisse – auch in diesem Buch...


Gregor Gysi, Jahrgang 1948, ist Jurist und Politiker der Linkspartei. Bereits 1990 wurde er zum ersten Mal in den Bundestag gewählt, seit 2005 ist er Vorsitzender der Fraktion DIE LINKE. Im Juni 2015 gab er bekannt, dass er im Herbst nicht erneut für den Fraktionsvorsitz kandidieren werde. Gregor Gysi hat drei Kinder und lebt in Berlin.

Stephan Hebel ist seit zwei Jahrzehnten Leitartikler, Kommentator und politischer Autor. Er schreibt für die Frankfurter Rundschau sowie für Deutschlandradio, Freitag, Publik Forum und weitere Medien. Er ist zudem regelmäßiger Gast im "Presseclub" der ARD und ständiges Mitglied in der Jury für das "Unwort des Jahres".


Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.