E-Book, Deutsch, 316 Seiten
Hahn Dein Hut passt hier nicht
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-7504-6803-0
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Auswanderer-Roman
E-Book, Deutsch, 316 Seiten
ISBN: 978-3-7504-6803-0
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Frank Hahn, geboren in Kanada, seit dem vierten Lebensjahr in Deutschland. Mehrere Aufenthalte in Kanada. Mit sechzehn erste Kurzgeschichten, surrealistische und dadaistische Gedichte. Nach dem Studium bildender Künstler, Hausmann und Nachhilfelehrer, fast zwanzig Jahre lang Lehrer für Kunst, Mathematik und Musik. Zahlreiche Reisebeschreibungen. Bassist und Sänger in einer Rockband. Frank Hahn ist verheiratet, Vater zweier Töchter und lebt in Bonn.
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Die Millerfarm
Zu Beginn des nächsten Tages vermieden sie die Anrede. Die Millers, ihre neuen Chefs, einfach mit ihren Vornamen ansprechen? Sie hatten sich ja selber so vorgestellt, aber – kannte man sich nicht erst seit gestern? Es kostete Überwindung. Da weder „Joy“ noch „Fred“ bei dieser Benennung mit der Wimper zuckten, verflog die anfängliche Scheu. Sie hielten es offensichtlich für selbstverständlich und das so persönliche „Fred“ und „Joy“ kam den beiden immer leichter über die Lippen.
„Wie war dein Tag, Paul?“ Paul antwortete mit einem lange ausgeatmeten „Puuh!“ und ließ sich aufs Bett fallen.
„Ach mein Mädi! Ich bin so was von erledigt, du glaubst es nicht. Wenn ich an morgen früh denke, ist es besser, ich gehe gleich in die Kiste. Ich weiß gar nicht mehr, wie ich heiße.“
„So anstrengend war es? Ich kann nicht klagen. Joy hat mir morgens das Gröbste im Haushalt gezeigt und ist ins Bett gegangen. Morgens ins Bett! Es muss ihr wirklich schlecht gehen. Danach kam Verwandtenbesuch, ich sollte Kaffee kochen. Ich habe alles Mögliche suchen müssen. Der Junge quengelte die ganze Zeit. Joy lässt ihn, sagt nie ‘was. Er ist ‘ne heilige Kuh.“
„Heilige Kuh?“
„Allerdings! Ob er im Essen herumstochert, sich einfach auf den Küchenboden legt, viel zu spät schlafen geht, seine Sachen nicht aufräumt, oder kleinste Bitten unwillig ablehnt – ‚Mummy’ ermahnt ihn niemals, alles lässt sie ihm durchgehen, nie wird sie laut. Billy hat alles, darf alles und nörgelt trotzdem. Erst um zwölf ist sie wieder aufgestanden, um mich ins Mittagessen einzuweisen. Sie sagt ständig ‚my dear’ zu mir, kann sich wohl ‚Gisela’ nicht merken.“
Paul bemühte sich zuzuhören. Das Sprechen fiel ihm sichtlich schwer und hätte das Lallen eines Betrunkenen sein können: „Der Mais ist im Silo, morgen Kartoffeln, zwei Morgen, das ist ‘ne Menge. Alle Nachbarn, sogar die Jungens, helfen mit. Danach die Rinder, Fred und ich machen die alleine. 200 acres hat Fred unterm Pflug.“
„Das habe ich gemerkt, bei den Massen von Leuten, die wir zu viert versorgen mussten, zwanzig Personen waren es bestimmt! Die arme Joy jammerte die ganze Zeit, obwohl Helen und Betty von den Nachbarn mithalfen. Schließlich ließ sie uns alleine, zu dritt mit Abwasch und Aufräumerei, und verschwand im Bett. Wieder hat der Junge über das Essen gemeckert, es war ihm nicht fein genug. So ein verwöhntes Balg! – Ich weiß nicht einmal, ob ich etwas für meine Hilfe bekomme. Aber ich kann doch nicht gleich am Anfang danach fragen, oder?“ Gisela wirkte noch frisch nach ihrem Tagwerk. „Ich hoffe unsere Kisten kommen bald, dann haben wir wenigstens unsere eigenen Sachen, unsere Kissen vor allem. Die Dinger, die wir da haben, sind ja zum Abgewöhnen.“
„Ich glaub, du kannst mir heut’ Nacht ‘n Stein untern Kopf legen. Ich merk das nicht. Und – wollten wir nicht schreiben? Unsere Lieben warten doch darauf. Weiß gar nicht, wann das gehen soll ... Kannst du das übernehmen? ... Ich schaff das nicht.“ Er blickte sie nicht mehr an.
„Ich hab von Helen schon ein bisschen kanadisch kochen gelernt, einen Pie mit Rosinen, Äpfeln und Kürbismehl, zum Beispiel.“
„Na, kannst mich später mal damit bekochen ... Hab zwei neue Freunde: Goldie, die Dogge und Laddie, ‘ne Windhündin, die die Rinder scheucht ... 150 Rinder, ich sag dir, 150 ...“, murmelte er, von Sprechpausen unterbrochen, vor sich hin.
„Goldie ist also die Dogge, der sie die Reste vom Kürbispie gegeben haben. Dass sie einen Hund so etwas fressen lassen, der Arme! Eine Dogge und Kürbis! Hätten sie den Rest nicht im Eisschrank aufbewahren können? So was verstehe ich nicht, so eine Verschwendung!“ Und – er war eingenickt.
Morgens um acht stand das Frühstück bereit – das Frühstücksbuffet! Mit Apfelsinen, Bananen, Äpfeln, Pfirsichen, Melonen, Eingemachtem und Porridge, Toast, Butter, Marmelade, Tee, Kaffee, Zucker, Sahne und Gebäck bildete es einen Höhepunkt des frühen Tages – nach zwei Stunden Stall- und Küchenarbeit, die ohne Essen um sechs begonnen hatten. Mittags zwischen zwölf und eins folgte ein reichhaltiges Lunch mit Salaten, vielen Fleisch- und Käsesorten, allerdings mit dem ewig gleichen Weißbrot, das nach Hefekranz schmeckte, dem einzigen Manko auf dem Speiseplan. Auf eine Kaffeeauszeit wie auf deutschen Bauernhöfen verzichtete man. Abends um sechs beendete das Supper den kulinarischen Tageslauf: Kartoffeln mit Butter, Tomaten, Schweinebraten, Brot, Butter, Käse, Wurst, Tee und Sahne, Ananas mit Sahne, Rosinen- und Citronatkuchen, zwei Sorten Torte, Pfannkuchenringen, ‚Donuts’ genannt, Biskuits und Eiscreme – man konnte einfach nicht alles probieren. Schade, dass noch Arbeit auf sie wartete!
Am Sonntag, nach Wochen, so erschien es Paul, trat ein wenig Ruhe in das Landleben ein. Nach dem ausgiebigen Sonntagsfrühstück leisteten sich Gisela und Paul einen ersten Spaziergang auf dem Farmgelände. Bezaubernd war dieses Hügelland mit den Ausblicken ins weite Land, mit den kleinen Laubwäldchen, in denen sich besonders das Rot austobte, mit den Farben der verschiedenen Felder, mit dem Fluss, an dem die Kühe lagen und sich die Pferde hinterher liefen. Außer einem gelegentlichen Blöken der Rinder war kaum ein Laut zu hören. Wie schön es hier war, wie friedlich! Würde man auf einem deutschen Hof ebenso empfinden können? Bei der Fragilität der politischen Lage im Osten und Westen Europas? Mit Deutschland als Schnittstelle? Wie weit doch lag die Farm der Millers von Russland entfernt!
An einem solchen müßigen Herbsttag kamen die Gedanken, ließen sich nieder und man schrieb sie auf, oder sie flogen wieder sanft davon. Gisela knabberte an ihrem Füllfederhalter. Was Papa wohl gerade beschäftigte? Ob er am dritten Brief an sie schrieb? Wie mochte er sich als Königsberger Stadtmensch im Westerwald fühlen? Ob Mutter noch ihre Beschwerden hatte? Doch, heute Abend würde sie endlich Muße haben zu schreiben. Sie ging auf einen Ahornbaum zu und suchte sich ein besonders rotes Blatt aus, das sie in einen Brief einlegen würde, als kanadischen Gruß an ihre Eltern.
„Es ist nicht so einfach, aber fürs Erste sind wir untergekommen“, beendete sie ihren Brief an Schwester und Eltern.
Während der Wanderung mit seinem Vater ‚Peps’, seinen beiden Schwestern und den befreundeten Melsheimers durch ein enges Seitental bei Bingen hatte er austreten müssen. Der Landvogt stand plötzlich vor ihm und forderte ihn auf, augenblicklich seinen Frondiensten nachzukommen. Dabei wies er auf den zu beerntenden Kartoffelacker. Ein bildhübsches Mädchen saß am Rande des Feldes, sah ihn offen und warmherzig an, streckte ihre Hand nach seiner aus, fasste sie und hatte nur Augen für ihn. Ganz hypnotisiert ließ er sich durch sie von den leiser werdenden Vorhaltungen ihres Vaters wegziehen und führte ihn hin zur Burg Liebenstein, mitten hinein in die im Burgsaal fröhliche feiernde Gesellschaft. Saßen da nicht seine Eltern und Geschwister? Und am Ende des Saales rannte ein kleiner Gnom mit einem gelben Kabel über der Schulter durch eine offen stehende Tür. Und da, die Nachbarn, seine Schulkameraden, sein alter Klassenlehrer Auf der Haar, und schon ließen die Füchse, Burschen und Altherren seiner Chattia die beiden hochleben, man trank, man sang und ließ es sich ...
„Good morning!“ rief ihn Fred wie jeden Morgen in den Tag.
Es war Sonntag und sechs Uhr früh. In völliger Dunkelheit aufgestanden, um Gisela nicht aufzuwecken, machte er sich frisch, stieg ohne zu frühstücken in den ausgeliehenen Stalloverall, legte die Miststiefel an und verschwand im Kuhstall zwischen den Milchkühen. Morgens konnte er gut zupacken. Die Fütterung der Kühe und Schweine ging leicht von der Hand und bald lockte das richtige Frühstück. Die Zeit verdunstete wie ein Tropfen auf der heißen Herdplatte.
Seine Gisela. Kaffeeduft! Kaffee mit echter Sahne! Toast mit Butter und Marmelade, für jeden eine Apfelsine, Porridge-Haferbrei mit Zucker und Sahne, Tee – dafür allein lohnte es sich. Als er die Küche betrat, grinste Fred breiter denn je, griff nach einer Zeitung, die aufgeschlagen auf der Sitzbank lag und las laut:
„Mimosa, Oct 15. – Mr. Fred Miller has engaged a young couple, not long out of Germany, to assist with the farm work. Mrs. Miller is making a nice recovery from her illness.” Schwang da nicht ein wenig Stolz in seinen Worten mit? „And – just one thing: Would you like to join us and attend a church service?”
Warum nicht einmal einen Gottesdienst besuchen? Längst war es an der Zeit innere Einkehr zu halten, nach diesen zwei ereignisreichen Monaten, an der Zeit, die Stille einer Andacht zu erfahren.
„Oh thank you! Yes, we’d like to join you.”
Nach dem Melken sollte es los gehen.
Die Mimosa Church lag einsam an einer befahrenen...




