E-Book, Deutsch, 576 Seiten
Haslinger Das Vaterspiel
1. Auflage 2010
ISBN: 978-3-10-400212-5
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 576 Seiten
ISBN: 978-3-10-400212-5
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Josef Haslinger, 1955 in Zwettl/Niederösterreich geboren, lebt in Wien und Leipzig. Seit 1996 lehrt Haslinger als Professor für literarische Ästhetik am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. 1995 erschien sein Roman ?Opernball?, 2000 ?Das Vaterspiel?, 2006 ?Zugvögel?, 2007 ?Phi Phi Island?. Sein letztes Buch ?Jáchymov? erschien im Herbst 2011. Haslinger erhielt zahlreiche Preise, zuletzt den Preis der Stadt Wien, den Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels und den Rheingau Literaturpreis. 2010 war er Mainzer Stadtschreiber. Literaturpreise: Theodor Körner Preis (1980) Österreichisches Staatsstipendium für Literatur (1982) Förderungspreis der Stadt Wien (1984) Stipendium des Deutschen Literaturfonds (1985) Österreichisches Dramatikerstipendium (1988) Elias Canetti-Stipendium der Stadt Wien (1993-94) Stipendium des Deutschen Literaturfonds (1994) Förderungspreis des Landes Niederösterreich für Literatur (1994) Preis der Stadt Wien und Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels (2000) Mainzer Stadtschreiber (2010) Rheingau Literatur Preis (2011)
Autoren/Hrsg.
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Teil 1 Die rote Brut
zu schnell unterwegs, das wusste ich. Die Dunkelheit ringsum. Der dichte Schneefall. Die Straße war nicht geräumt. Zu dieser frühen Stunde war noch kein Mensch außer Haus. Es gab keinen Unterschied zwischen Asphalt, Wiese und Acker. In der Windschutzscheibe lief ein Bildschirmschoner, Starfield Simulation, mit zweihundert Sternen, der Höchstanzahl, die man einstellen konnte. Sie rasten aus dem Dunkel des Alls auf mich zu. Ich musste genau schauen, um noch anderes wahrzunehmen, zum Beispiel die Stangen, die für den Schneepflug aufgestellt worden waren. Sie trugen Rückstrahler, rote auf der rechten, weiße auf der linken Straßenseite. Das sind keine Flugobjekte, sagte ich mir. Ich brauchte etwas Bodennahes. Und so stellte ich mir vor, die weißen Lichter wären entgegenkommende Panzer mit kampfbereiten Geschützen, die, einer nach dem anderen, plötzlich aus der Dunkelheit auftauchten, um alles zu durchsieben, was ihnen in die Quere kam. Manchmal blitzte im Scheinwerferlicht etwas auf, die Ecke eines Gefahrenzeichens, der noch nicht vom Schnee verklebte Rest eines Wegweisers, die windpolierte Wölbung einer Leitplanke. Die vielen Kurven machten es schwer, das Auto in der Straßenmitte zu halten. Die Panzer hatten gute Chancen, mich zu kriegen. Ich hätte langsamer fahren sollen, aber ich tat es nicht. Ich hatte einen Auftrag, und ich wollte ihm gewachsen sein.
Über Jahre war meine Haupttätigkeit für die anderen nicht sichtbar gewesen. Ich will mich ja nicht in dein Leben einmischen, hatte mein Vater ein ums andere Mal gesagt und sich dabei in mein Leben eingemischt. Er warf mir vor, ich würde den ganzen Tag nur mit dem Computer spielen. Er hatte nicht ganz Unrecht. Es gab tatsächlich kaum ein Computerspiel, das ich nicht kannte. Ich beobachtete die grafischen Effekte. Wenn sie mir gefielen, versuchte ich die Files zu knacken und ihr digitales Innenleben bloßzulegen. Das war nicht leicht, denn sie suchten ihre Eingeweide genauso zu schützen, wie Lebewesen es tun. Zur Entspannung schlachtete ich meinen Vater.
Drei Millionen, oder ich bring dich um, sagte ich.
Schau, sagte mein Vater. Wenn er unangenehm wurde, sagte er immer: Schau. Er hatte auch zu meiner Mutter dauernd Schau gesagt in der Zeit, als er nur noch unangenehm war. Schau, sagte er, ich habe dir das schon oft erklärt. Ich würde dir nichts Gutes tun damit.
Schade, antwortete ich, kann man nichts machen. Und dann rammte ich ihm das Messer in den Bauch. Er bekam große Augen.
Weißt du, sagte ich, ich würde dir nichts Gutes tun, wenn ich dich länger am Leben ließe. Korrupte Schweine wie du müssen früher oder später geschlachtet werden.
Für meinen Vater hatte ich mir schon Hunderte Todesarten ausgedacht. Die mit dem Messer war eine vergleichsweise harmlose, ein beruhigender Gedanke zwischendurch. Ein schnelles Gegenübertreten von Mann zu Mann. In zwanzig Minuten wäre das Blut auf dem Boden geronnen. Natürlich würde ich Handschuhe tragen. Aber ich würde sie nicht im Garten wegwerfen, sondern in meinem eisernen Öfchen verbrennen. Mit der zufriedenen Miene eines Mannes, der getan hat, was getan werden musste.
So waren die Jahre dahingegangen. Aber dann hatte Mimi angerufen und ich war losgefahren. Zwar hatte ich um ein paar Stunden Bedenkzeit gebeten. Aber es gab nichts zu bedenken. Es sollte nur nicht so aussehen, als hätte ich sonst nichts zu tun. Ich ging ein paar Mal im Kreis, dann rief ich zurück. Viel zu schnell. Mir fehlte jede Reserve.
Zum Glück bin ich jetzt selbstständig, sagte ich. Da kann ich es mir einteilen. Bloß die Katze. Irgendwo muss ich die Katze unterbringen.
Lenin lebt noch?
Nein, Lenin ist tot. Sein Nachfolger heißt Alexandr, benannt nach dem Bruder von Lenin.
Lenin hatte einen Bruder?
Alexandr wurde hingerichtet, als Lenin siebzehn war.
Wusste ich gar nicht.
Dieser knappe Satz, dann schwieg sie. Vielleicht dachte sie über Lenin und seinen Bruder nach. Vielleicht versuchte sie sich vorzustellen, was man als Siebzehnjähriger empfinden muss, wenn die Machthaber deinen Bruder hinrichten. Das teure Ferngespräch war plötzlich zu einem Fernschweigen geworden.
Meine Mutter könnte ich fragen, sagte ich, damit etwas weiterging.
Das ist gut. Frag deine Mutter.
Dann schwieg sie wieder. War sie unsicher geworden, ob sie sich an den Richtigen wandte? Wir hatten einander eine Ewigkeit nicht gesehen.
Wie viel Geld werde ich brauchen?
Gar keines.
Ich frage nur, weil bei uns gleich die Banken zusperren. Du weißt ja, wie das hier ist. In der Früh, wenn die Leute zur Arbeit fahren, sind die Banken geschlossen. Wenn sie von der Arbeit heimkommen, sind sie auch geschlossen. Ernsthaft arbeitende Menschen stellen sich unter einem Bankangestellten einen Automaten vor, weil sie einem menschlichen Exemplar noch nie begegnet sind.
Das ist hier nicht viel anders, antwortete sie. Nach einer kurzen Pause sagte sie: Das Geld lass meine Sorge sein. Du brauchst nichts mitzubringen. Ein paar Klamotten, sonst nichts.
Das war gut. Denn ich hätte meinen Vater sicher nicht noch einmal um Geld gebeten. Weg von hier. Das traf sich gut. Nichts wie weg von hier.
In die Einreiseformulare, sagte Mimi, musst du eintragen, wo du wohnen wirst. Lass mich aus dem Spiel. Gib irgendein Hotel an.
Welches?
Nicht das Chelsea-Hotel. Alle, die kein Hotel wissen, geben das Chelsea-Hotel an, das erregt Verdacht.
Genau so war es mir fünf Jahre zuvor ergangen. Ich hatte nicht einmal die Adresse des Chelsea-Hotels gewusst und war dann vier Stunden am Flughafen festgehalten worden. Davon sagte ich nichts. Ich wollte Mimi nicht als erstes Lebenszeichen nach langen Jahren meine Niederlagen auf die Nase binden.
Kannst du mir ein Hotel sagen, das geeignet ist?
Hast du eine E-Mail-Adresse?
Rwie Rupert, dann Kramer, aber ohne Punkt dazwischen, dann der Klammeraffe, dann Vienna, Punkt, at.
Moment. Wieso Rupert, du heißt doch Helmut.
Schreib ja nicht Helmut. Das kriegt sonst mein Vater.
Ich verstehe, sagte sie. Dann schwieg sie wieder. Hatte sie doch Zweifel?
Wie geht es dir?, fragte ich. Aber anstatt darauf zu antworten, sagte sie: Ich kann dir doch vertrauen?
Du kannst mir vertrauen.
Ich hatte die Frau seit vierzehn Jahren nicht gesehen, nur hin und wieder ihre Stimme im Radio gehört. Und dann sagte ich einfach zu ihr: Du kannst mir vertrauen. Immerhin brachte mich das auf den Gedanken, endlich nachzufragen, worum es eigentlich geht.
Du hast doch damals bei uns ausgemalt, sagte sie.
In der Wohnung von Brigitte? Das ist lange her.
Ja, das ist lange her. Kannst du auch Mauern aufstellen?
Mauern aufstellen?
Ich meine, Räume unterteilen, eine Wärmedämmung anbringen, gegen Schall isolieren und solche Sachen.
Ich stellte mir eine Wohnung in einem roten Backsteinhaus vor, mit Feuerleitern vor den Fenstern.
Bei euch in New York?
In einem Haus auf Long Island.
Ah. Ist das ein Holzhaus?
Ja.
Dann kann ich es. Ich habe es nie gemacht, aber ich denke, dass ich es kann.
Gut. Dann komm so schnell wie möglich hierher.
Was heißt so schnell wie möglich?
Morgen.
Morgen?
Ja, geht es morgen schon?
Sie war im Internet die Flüge durchgegangen. Sie wusste, dass die Direktflüge von Wien nach New York für die nächsten elf Tage ausgebucht waren. Sie wusste, dass innerhalb der nächsten Woche auch von München kein New York-Flug zu bekommen war. Und sie wusste ebenso, dass es am nächsten Tag noch Plätze von Frankfurt aus gab, in einer Maschine der Pakistan Airlines. Für diesen Flug hatte sie sogar schon einen Platz reserviert. Sie nannte die Buchungsnummer. Das Ticket liege in Frankfurt am Schalter der Pakistan Airlines bereit. Es gebe nur ein Problem. Die Flüge von Wien nach Frankfurt seien leider auch alle ausgebucht. Ich müsse mit dem Zug nach Frankfurt fahren.
Zehn Minuten später blinkte das Briefsymbol am unteren Rand meines Bildschirms. Das kurze Schreiben enthielt die Adresse des Paramount-Hotels in der 46. Straße. Ein kleiner Absatz war noch angehängt:
Mein Verhalten muss dir merkwürdig vorkommen. Aber ich kann dir das nicht in Kürze erklären. Du wirst nichts tun müssen, was du nicht tun willst. Herzlichst Mimi. Und lösch das File bitte.
Dann ging ich wieder im Kreis. Gerade hatte ich noch gedacht, ich sollte Mimi behilflich sein beim Aufstellen einer Mauer, beim Abteilen eines Zimmers, beim Isolieren gegen Schall und ähnlichen Dingen. Und nun der Satz: Du wirst nichts tun müssen, was du nicht tun willst. Was erwartete sie von mir, von dem sie annahm, dass ich es möglicherweise nicht tun wollte? Wozu die Heimlichkeiten? Wer darf nicht wissen, dass sie ein Zimmer abteilt?
Vielleicht, so überlegte ich, hat Mimi mit dem Hausbesitzer schon derart viele unangenehme Gerichtstermine hinter sich gebracht, dass sie ihm nun sogar zutraute, er würde Computer im anderen Kontinent beschlagnahmen lassen, nur um beweisen zu können, dass der Maurer der Geheimhaltung halber aus Europa bestellt worden war.
Vertrauen in mich bedeutete auch, die Gründe für meine Reise vor meiner Mutter geheim zu halten. Ich wollte meine Mutter nicht belügen. Sie war in ihrem Leben genug belogen worden. Meine Mutter zu belügen hätte bedeutet, mich mit meinem Vater, diesem unnötigen Restexemplar von einem Menschen, auf eine Stufe zu stellen. Ich musste meine Mutter über den Zweck der Reise im Unklaren lassen. Was nicht so schwer sein konnte, da mir dieser Zweck selbst nicht ganz klar war.
Im Kreis zu gehen war sinnlos. Ich setzte mich an den Computer und schlachtete zur Beruhigung...




