E-Book, Deutsch, Band 92, 240 Seiten
Heesen Revolutionäre im Interview
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-8031-4350-1
Verlag: Verlag Klaus Wagenbach
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Thomas Kuhn, Quantenphysik und Oral History
E-Book, Deutsch, Band 92, 240 Seiten
Reihe: Kleine Kulturwissenschaftliche Bibliothek
ISBN: 978-3-8031-4350-1
Verlag: Verlag Klaus Wagenbach
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wie kommen revolutionäre Entdeckungen zustande? Die unbekannte Geschichte eines Interviewprojekts im Kalten Krieg, das den Helden der Quantenphysik das Geheimnis der wichtigsten wissenschaftlichen Revolution des 20. Jahrhunderts zu entlocken versuchte.
Heller als tausend Sonnen strahlte die neue Physik zu Anfang des 20. Jahrhunderts: Forscher wie Niels Bohr, Werner Heisenberg und James Franck revolutionierten unser Verständnis von Raum und Zeit und schrieben Wissenschaftsgeschichte.
Doch erst mitten im Kalten Krieg begann man, diese Geschichte auch aufzuschreiben: 'Sources for History of Quantum Physics' – unter diesem nüchternen Titel sollten die Erinnerungen aller damals noch lebenden Koryphäen der Physik versammelt werden. Der noch unbekannte Wissenschaftshistoriker und Physiker Thomas S. Kuhn entwickelte dafür eine neue, in der Geschichtsschreibung kaum angewandte Rekonstruktionsmethode, die heute zum Standardrepertoire gehört: das Forschungsinterview.
Anke te Heesen schildert erstmals die Geschichte dieses legendären Befragungsprojekts, das nicht nur mit dem Problem rang, wie man mit Verzweiflung, Intuition und Gefühl in der Physik umgehen sollte, sondern auch, wie unpolitisch eine Wissenschaft im Schatten der Atombombe sein konnte.
Die überfällige Betrachtung einer bis heute wirkenden wissenschaftshistorischen Revolution und ein unverzichtbarer Beitrag zu Entstehung und Wirkkraft der Oral History.
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1 Eine Geschichte der Physik
1961 hatte die physikalische Forschung einen derart hohen Grad an Komplexität erreicht, dass sich ihre Geschichte wie auch ihre Gegenwart nahezu nur noch Spezialisten erschloss. Das große Interviewprojekt stand also vor einer nicht geringen Aufgabe: Es galt die vergangene Physik zu verstehen und überblickend zu begreifen, um überhaupt detaillierte Fragen an die Interviewpartner richten zu können. Hinzu kam die Frage, wie mit der spätestens seit den dreißiger Jahren vollzogenen politischen Steuerung der Forschung umzugehen sei. Auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs lag der Schatten der Politik auf der Physik, ihre Dynamik stellte sich vielen weniger universell-kooperativ denn (system-)konkurrierend dar, was den Blick auf die Zeit der großen, noch unbelasteten Entdeckungen erheblich trübte. Diese Gemengelage – mitten im Kalten Krieg zur Geschichte der Quantenphysik zu forschen, die zugleich die Grundlage für die vernichtendste aller Waffen gelegt hatte und die eine dramatische Rolle in dem Kräftemessen zweier Supermächte spielte – bildete die Ausgangssituation für das Projektteam. Von der klassischen zur modernen Physik
Auch zu diesem Zeitpunkt galt die Physik nach wie vor als die mächtige Königin der Wissenschaften. Keine andere Disziplin konnte das Funktionieren der Welt so gut erklären, keine andere die Natur, ihre Gesetze und Regelhaftigkeiten besser in ein Verhältnis setzen. Der großen wissenschaftlichen Revolution im 17. Jahrhundert kam ein immenser Anteil daran zu, in ihrem Zuge hatte sich die experimentelle Beobachtung etabliert, die dabei gewonnenen Ergebnisse wurden von nun an mit mathematischen Methoden untersucht. Im Lichte von Newtons Mechanik war die Natur als nach unwiderruflichen Gesetzen, nach Ursache und Wirkung geordnet verstehbar und voll universeller Naturkonstanten. In diesem vollendeten Gefüge der Natur, das wie ein Uhrwerk funktionierte, stand der Mensch als berechnender Geist im Mittelpunkt. Naturgesetzlichkeit, also Kausalität, nicht Wahrscheinlichkeit – die erst später ins Spiel kam –, und die Unterscheidung von Subjekt und Objekt prägten die Vorstellung der klassischen Physik. Raum und Zeit wurden als absolute Gegebenheiten der Welt angenommen. Mit dem Aufkommen der Relativitätstheorie zu Beginn des 20. Jahrhunderts setzte eine grundlegende Änderung ein. Der zuvor als absolut angesehene Raum, der unabhängig von Materie und Zeit, also dem physikalischen Geschehen war, schien nun selbst physikalische Eigenschaften zu besitzen. Raum und Zeit verschmolzen gewissermaßen und ließen sich nicht von einem Fixpunkt her erkennen, sondern konnten allein aus einem momentanen, relativen Standpunkt gemessen werden, der selbst Teil des zu beobachtenden Gefüges war. Nunmehr gab es nicht allein die eine Wirklichkeit, die immer und überall die selbe war, sondern die Wahrnehmung der Welt hing ab von verschiedenen Bezugssystemen, in denen sich die einzelnen Elemente der Wirklichkeit befanden. Es kam nun auf den Beobachterstandpunkt an. Der Philosoph Ernst Cassirer brachte dies auf den Punkt: »Die klassische Mechanik hatte hier zu früh geglaubt am Ziele zu sein. Sie klammerte sich an bestimmte Bezugskörper [etwa die Sonne oder die Fixsterne, AtH.], an denen sie auf irgendeine Weise endgültige und allgemeine, also schlechthin ›objektive‹ Maße zu besitzen glaubte. Für die neue Theorie liegt dagegen die wahre Objektivität nirgends mehr in empirischen Bestimmtheiten, sondern nur in der Art und Weise, in der Funktion der Bestimmung selbst. Die Raum- und Zeitmaße in jedem einzelnen System bleiben relativ«.12 Letztlich aber war die Relativitätstheorie Albert Einsteins immer noch vereinbar mit der naturgesetzlichen Mechanik Newton’scher Prägung, ließ sich immer noch berechnen und vorhersagen, auch wenn bereits erste Widersprüche zur klassischen Physik beobachtet worden waren.13 »Die Relativitätstheorie«, so beschreibt es Max Planck, »welche anfänglich in den hergebrachten Vorstellungen von Raum und Zeit eine gewisse Verwirrung anrichten zu wollen schien, hat sich schließlich tatsächlich als eine Vollendung und Krönung des Gebäudes der klassischen Physik erwiesen.«14 Die Quantenphysik
Aber das Gebäude wurde erneut erschüttert. Dieses Mal dauerte es etwas länger, bis man sich wieder auf annähernd sicherem Grund wähnte und dieses neue Fundament in selbstverständlicher Weise als »Quantenphysik« bezeichnen konnte.15 Noch 1928 beschrieb deshalb der britische Astrophysiker Arthur Stanley Eddington das Gebäude der Physik mit den Worten, »man müsse über der Eingangspforte zur neuen Physik eigentlich eine Tafel anbringen mit der Aufschrift: ›Bauliche Veränderungen im Gange – Unbefugten ist der Eintritt streng verboten!‹«16 Denn während sich die Relativitätstheorie Raum und Zeit, ja dem Aufbau des Universums gewidmet hatte, wandte sich ungefähr zur gleichen Zeit Max Planck der Mikrophysik zu und damit kleinsten Einheiten, die er Quanten nannte. Er selbst beschreibt dies rückblickend sehr schön: »In das bisher geschilderte harmonische Weltbild, das seiner Aufgabe in nahezu idealer Weise gerecht zu werden schien, ist nun unversehens mit einem neuen grellen Licht die Quantenhypothese hineingefahren. Wenn wir auch hier wieder versuchen, mit einem Wort den Kernpunkt der für diese Hypothese charakteristischen Idee zu bezeichnen, so können wir ihn finden in dem Auftreten einer neuen universellen Konstante: des elementaren Wirkungsquantums. Diese Konstante ist es, ein neuer geheimnisvoller Bote aus der realen Welt, welcher sich bei den verschiedenartigsten Messungen immer wieder aufdrängte und immer hartnäckiger einen eigenen Platz beanspruchte, andererseits aber doch so wenig in den Rahmen des bisherigen physikalischen Weltbildes hineinpaßte, daß er schließlich die Sprengung des zu eng befundenen Rahmens herbeigeführt hat.«17 Die Sprengung des Hauses nahm mit Plancks Arbeiten seinen Anfang. Denn bei der Behandlung der Frage nach der Natur des Lichts verstand er die »Quanten« als kleine Energiepakete, die später mal als Welle, mal als Teilchen gedacht wurden und nicht ohne weiteres empirisch erforschbar waren. Im Dezember 1900, in einem Vortrag in der Physikalischen Gesellschaft in Berlin, stellte Planck seine Überlegungen vor und ab da war das »Planck’sche Wirkungsquantum« als kleinste Einheit der Natur, als eine, wie er beschrieben hatte, »universelle Konstante« definiert. Mit einiger Verzögerung wurde ein paar Jahre später heftig und andauernd über die konzeptuellen wie ontologischen Konsequenzen dieser Hypothese debattiert. Würde sich das Planck’sche Wirkungsquantum nicht doch in das klassische Weltbild eingliedern lassen? Oder erforderte es eine völlig neue Physik?18 Das Atom
Auch wenn die Antwort auf diese Fragen auf sich warten ließ, fand die Quantenhypothese Eingang in zahlreiche weitere Forschungsgebiete jenseits der Natur des Lichts. Zentral für den weiteren Verlauf der Ereignisse war dabei die Atomphysik. Einen grundlegenden Schritt unternahm zunächst Ernest Rutherford, der 1911 einen kleinen Atomkern für jedes Atom postulierte, ohne Genaueres über die ihn umgebenden Elektronen auszusagen. Rutherfords Schüler Niels Bohr schloss an dieses Modell an und verknüpfte es mit der Planck’schen Quantenhypothese. In Bohrs Konzeption, die die weitere Entwicklung der Quantenphysik maßgeblich bestimmen sollte, kreisten die Elektronen in festgelegten Bahnen um den Kern. Diese Bahnen entsprachen ganz bestimmten, durch das Wirkungsquantum festgelegten Energiestufen: Zwischen den Bahnen sollten die Elektronen hin- und herspringen und die dabei abgegebene oder aufgenommene Energie – im Sinne der Planck’schen Quantentheorie – als Strahlung einer bestimmten Frequenz aussenden beziehungsweise absorbieren. Die in der Folge entstehende Quantenphysik des Atoms wurde zu dem bestimmenden Forschungsfeld der theoretischen Physik der 1910er und 1920er Jahre. Sie brachte eine relativ übersichtliche Gruppe meist junger Physiker in beständigen Austausch. Erwin Schrödinger sah diesen engen und intensiven Austausch rückblickend als die Folge eines »erleichterte[n] Weltverkehr[s]«, der es mit sich gebracht habe, dass die Physiker »nicht nur in vielverzweigtem Briefwechsel miteinander stehen, sondern sich zum großen Teil persönlich kennen. Sie lesen dieselben führenden Journale, besprechen miteinander alle neuauftauchenden Ideen, entscheiden gemeinsam darüber, was davon zu halten sei.«19 Einen Ort für solche kooperativen Arbeitsbeziehungen bot das 1921 neu gegründete Institut für theoretische Physik in Kopenhagen, dem Niels Bohr vorstand. Es wurde zu Beginn der zwanziger Jahre – nicht zuletzt wegen Bohrs ausgesprochener Freundlichkeit, aber auch der politischen Neutralität Dänemarks und Bohrs Verbindungen zur Rockefeller Foundation – zu einem Zentrum der neuen Physik und zu einem Mekka für die Physiker der verschiedensten Länder. Das Institut beförderte ihre Zusammenarbeit und band sogar entgegen dem 1919 eingesetzten Wissenschaftsboykott die Kollegen aus Deutschland wieder in die internationale Forschung mit ein. Ich »bin kein Nationalist und freue mich, wenn Männer gleicher Gesinnung und gleichen Strebens über den Erdball verstreut am selben Ziele wirken«, schreibt der deutsche Physiker Max Born 1921 nicht ohne Erleichterung in einem Brief.20 Trotz aller Entdeckungen wurden die Widersprüche, die sich im Rahmen der Quantentheorie ergaben, aber...