E-Book, Deutsch, 232 Seiten, E-Book
Reihe: Haufe Fachbuch
Hein Das Potenzial-Prinzip
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-648-19008-1
Verlag: Haufe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Mit Neurologischer Führung zu High-Performance-Teams
E-Book, Deutsch, 232 Seiten, E-Book
Reihe: Haufe Fachbuch
ISBN: 978-3-648-19008-1
Verlag: Haufe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Marcus Hein ist Experte für Neurologische Führung und Gründer der MARCUS HEIN - Akademie für Neurologische Führung. Mit langjähriger eigener Führungserfahrung und umfangreicher Erfahrung in der Führungskräfteentwicklung der Industrie kombiniert er wissenschaftliche Erkenntnisse mit praktischen Ansätzen, um Führungskräfte zu befähigen, ihre Mitarbeitenden zu inspirieren und zu fördern. Neben Seminaren und Vorträgen und seiner Tätigkeit als Leadership Coach veröffentlicht er regelmäßig Artikel zu Neuroleadership und moderner Führungskultur.
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4.1 Aufbau und Entwicklung des Gehirns
Die vergangenen Jahrzehnte haben die Gehirnforschung revolutioniert: Früher war unser Wissen über das Gehirn auf äußere Beobachtungen beschränkt, oft verbunden mit rudimentären und haarsträubenden Untersuchungsmethoden. Heute stehen uns mit dem Elektroenzephalogramm (EEG), dem Positronen-Emissions-Tomografen (PET) oder dem funktionalen Magnetresonanztomografen (fMRT) moderne bildgebende Verfahren zur Verfügung, mit denen wir das Gehirn in Echtzeit arbeiten sehen können. Diese Fortschritte liefern uns wertvolle Einblicke, die uns helfen zu verstehen, wie Denken, Verhalten und persönliche Prägungen entstehen – und aufzeigen, wie wir als Führungskräfte positiv auf die Entwicklung unserer Mitarbeitenden einwirken können.
4.1.1 Die Entstehung des Gehirns und die Entwicklung neuronaler Strukturen
Bereits kurz nach der Befruchtung spezialisieren sich die Zellen; ab der dritten Woche bildet sich das sogenannte Neuralrohr, aus dem sich Rückenmark und Gehirn entwickeln. Bis zur Geburt hat sich das Gehirn in Vorder-, Mittel- und Hinterhirn sowie die Großhirnrinde differenziert, und etwa 150 Milliarden Nervenzellen entstehen. Ein Großteil der Neuronen stirbt jedoch wieder ab, wenn sie keine Funktion im neuronalen Netzwerk finden – was nicht genutzt wird, verliert das Gehirn wieder. Diese »Use it or lose it«-Regel ist gerade für die Führung bedeutsam: Durch gezielte Förderung und passende Herausforderungen können wir nicht nur bestehende Fähigkeiten aktivieren, sondern auch das Potenzial für die Entwicklung neuer Kompetenzen schaffen.
Der Neurowissenschaftler Gerhard Roth unterscheidet sechs Hauptstrukturen des Gehirns (Roth, 2007, S. 54 ff.): verlängertes Mark (Medulla oblongata), Brücke (Pons), Kleinhirn (Cerebellum), Mittelhirn (Mesencephalon), Zwischenhirn (Diencephalon) und Großhirn (Telencephalon). Für unser Verständnis von Neurologischer Führung konzentrieren wir uns auf drei funktionale Ebenen:
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Das Stammhirn (Reptiliengehirn): Als entwicklungsgeschichtlich ältester Bereich steuert es überlebenswichtige Körperfunktionen wie Atmung, Herzschlag und Reflexe.
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Das limbische System: Dieser Bereich ist für körperliche Bedürfnisse und Emotionen zuständig und spielt eine entscheidende Rolle im Wahrnehmungsprozess. Er umfasst vor allem das Zwischenhirn und weitere mitwirkende Strukturen, die emotionale und affektive Reaktionen regulieren.
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Die Großhirnrinde (Neocortex): Die Großhirnrinde ist die jüngste Struktur des Gehirns und auch Sitz des bewussten Denkens. Hier speichern wir Erinnerungen und nutzen Areale, die Sprache, Mathematik, räumliche und emotionale Erinnerungen organisieren.
In der Vernetzung dieser Strukturen liegt die wahre Leistungsfähigkeit des Gehirns: Jede der 100 Milliarden Nervenzellen verknüpft sich durchschnittlich mit 10.000 weiteren Zellen, was eine extreme Reaktionsschnelligkeit ermöglicht. Zudem beschleunigt die sogenannte Myelinschicht diese Verbindungen auf das Hundertfache, doch nur genutzte Verbindungen bleiben bestehen. Eine dauerhafte Verhaltensänderung oder Kompetenzentwicklung erfordert also Übung und Wiederholung – ein Prinzip, das auch in der Führung gilt, wenn es darum geht, neue Verhaltensweisen in Teams zu etablieren und aufrechtzuerhalten.
4.1.2 Synaptische Autobahnen
Neuronen können lose Verbindungen eingehen (umgangssprachlich oft Synapsen genannt), die durch wiederholte Aktivierung stabiler werden und schließlich sogenannte synaptische Autobahnen bilden. Diese starken neuronalen Bahnen stehen für Routinen und automatisierte Verhaltensweisen.
Eine Übung verdeutlicht dieses Prinzip: Putzen Sie normalerweise Ihre Zähne mit einer Hand, dann putzen Sie heute Abend bewusst mit der anderen. Sie werden feststellen, wie viel Konzentration und Koordination erforderlich sind, da für diese Aufgabe keine synaptische Autobahn vorhanden ist, sondern allenfalls ein neuronaler Trampelpfad. Üben Sie jedoch weiter, bildet sich über die Zeit eine neue Autobahn. Diese Dynamik ist für die Führung besonders relevant: Sie zeigt, wie wichtig Geduld, Wiederholung und kontinuierliches Feedback sind, wenn es darum geht, bei Mitarbeitenden neue Verhaltensweisen zu etablieren. Wer von seinem Team erwartet, dass es ein neues Verhalten sofort umsetzt, sollte bedenken, wie schwer es fällt, die gewohnte Autobahn zu verlassen und eine neue Verbindung zu schaffen. Dies gilt natürlich insbesondere dann, wenn Mitarbeitende das neue Verhalten als sinnlos oder extrem aufwendig wahrnehmen.
Menschen lernen vor allem voneinander und spiegeln ihre Verhaltensweisen. Dazu tragen sogenannte Spiegelneuronen bei, bei deren Erforschung wir noch ganz am Anfang stehen. Ein Kind, das beispielsweise das Lächeln seiner Mutter beobachtet, aktiviert dieselben neuronalen Verschaltungen im eigenen Gehirn. Das Gehirn tut so, als würde das Kind selbst lächeln – aber völlig passiv. Wiederholtes Beobachten und schließlich erstes Nachahmen stärken diese neuronalen Bahnen, sodass das Lächeln automatisiert wird. Dieses Spiegeln ist die Basis für unser Lernen – durch Beobachtung und Nachahmung entstehen synaptische Autobahnen.
Spiegelneuronen und die Vorbildfunktion in der Führung
Spiegelneuronen spielen eine entscheidende Rolle, wenn es darum geht, Verhalten bei anderen zu beobachten und unbewusst im eigenen Gehirn nachzubilden. Sie aktivieren im Beobachter die gleichen Gehirnareale, die bei der Person aktiv sind, die das Verhalten zeigt. Es ist so, als würde man das Verhalten selbst ausführen. Damit erklärt sich auch die hohe Wirkung von Vorbildern in der Führung: Eine Vorgesetzte, die offen kommuniziert, Ruhe bewahrt oder bei Fehlern lösungsorientiert handelt, sendet durch ihr Verhalten prägende Signale an die Spiegelneuronen ihrer Mitarbeitenden. Diese spiegeln das beobachtete Verhalten und integrieren es – über die Zeit und durch wiederholte Beobachtung – zunehmend in ihre eigenen Reaktionsmuster. Führungskräfte schaffen also synaptische Autobahnen in ihrem Team, indem sie bestimmte Verhaltensweisen vorleben und damit die Neuronen ihrer Mitarbeitenden anlernen. Das bedeutet auch, dass negative Verhaltensweisen, wie Ungeduld oder Unzuverlässigkeit, ebenfalls übernommen werden und die Kultur im Team nachhaltig prägen.
Rechte und linke Gehirnhälfte
Sicher haben Sie längst von der rechten und linken Gehirnhälfte, den beiden Hemisphären, gehört. Ich fasse mich daher kurz. Früher sagte man, dass die linke Gehirnhälfte für die logischen, analytischen, mathematischen Vorgänge sowie für Sprache zuständig sei. Die rechte Gehirnhälfte sei dagegen eher für die ganzheitlichen, kreativen Aufgaben, für Bilder und Geschichten sowie Emotionen zuständig. Tatsächlich lässt sich diese Einteilung heute nur noch tendenziell und nicht mehr absolut aufrechterhalten.
Abb. 4.1: Aufgabenteilung und Spezialisierung der Hemisphären des Gehirns (AdobeStock #700937929, MilletStudio)Was aber immer noch sehr richtig und wichtig ist, ist, dass linkshirnige Areale durch Schule, Ausbildung, Studium und Beruf viel stärker genutzt (und damit geübt) werden als rechtshirnige. Diese Vernachlässigung führt zu ideenlosen Menschen, die bei Problemen schnell an den Rand der Handlungsfähigkeit gelangen. Die fehlende Zusammenarbeit der beiden Gehirnhälften löst überproportionalen Stress aus. Konzepte von Dennison (2015) und Lutz (2015) trainieren die Verbindung zwischen den beiden Gehirnhälften, reduzieren damit Stress und verbessern die Konzentrationsfähigkeit. Führungskräfte, die es schaffen, beide Gehirnhälften ihrer Mitarbeitenden zu aktivieren, haben gelassenere, leistungsfähigere und gesündere Mitarbeitende.
Falls Sie wissen wollen, wie es um Ihre rechte Gehirnhälfte bestellt ist, zeichnen Sie bitte jetzt einen Elefanten, der einen Apfel frisst und auf nur drei Beinen steht. Sie können nicht zeichnen? Versuchen Sie es. Je besser es Ihnen gelingt, desto besser funktioniert Ihre rechte Gehirnhälfte.
4.1.3 Bewusstes und Unbewusstes
Was glauben Sie: Wie viel Prozent neuronaler Prozesse laufen unbewusst ab und entziehen sich damit der bewussten Kontrolle? Die meisten meiner Seminarteilnehmenden antworten auf diese Frage mit etwa 80 oder 90 Prozent. Sie gehen davon aus, dass der überwiegende Teil unbewusst gedacht wird.
Tatsächlich geht man – sehr vorsichtig, wie ich finde – davon aus, dass 90 Prozent unserer Entscheidungen unbewusst gefällt werden (Roth, 2002). Dies ist schwer zu beurteilen, weil unser Gehirn nach einer Entscheidung sofort und blitzartig die (und nur die) Argumente einsammelt, die die Entscheidung sinnvoll begründen und für richtig erklären. Damit wirkt die Entscheidung so, als sei sie bewusst gefällt.
Betrachtet man allerdings die neuronalen Prozesse, so kann man davon ausgehen, dass der unbewusste Anteil noch viel höher ist. Das heißt, während eine Information bewusst verarbeitet wird, finden vielleicht sogar Tausende oder Millionen Vorgänge unbewusst statt. Hierzu zählen natürlich auch alle Vorgänge, die beispielsweise der Körpersteuerung und der Wahrnehmung dienen. Aber lassen Sie uns – weil es ein zentraler Paradigmenwechsel ist – darauf genauer...




