E-Book, Deutsch, 304 Seiten
Hermann Die Achse des Scheiterns
Die Auflage entspricht der aktuellen Auflage der Print-Ausgabe zum Zeitpunkt des E-Book-Kaufes.
ISBN: 978-3-608-11678-6
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wie sich die arabischen Staaten zugrunde richten
E-Book, Deutsch, 304 Seiten
ISBN: 978-3-608-11678-6
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Rainer Hermann, geboren 1956, studierte Islamwissenschaft und Volkswirtschaft in Freiburg, Rennes, Basel und Damaskus. Als Korrespondent der Bundesstelle für Außenhandelsinformation wurde er 1990 in Kuwait Augenzeuge des irakischen Einmarsches. Von 1991 bis 2008 berichtete er aus Istanbul über die Türkei und die arabische Welt, 2008 übersiedelte er nach Abu Dhabi, 2012 kehrte er nach Deutschland zurück und ist in der politischen Redaktion der »FAZ« vor allem für den Nahen Osten und die Türkei zuständig.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politische Ideologien Theokratische und religiöse Ideologien
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Weltgeschichte & Geschichte einzelner Länder und Gebietsräume Geschichte einzelner Länder Naher & Mittlerer Osten
- Geisteswissenschaften Islam & Islamische Studien Geschichte des Islam Geschichte des Islam: 20./21. Jahrhundert
- Interdisziplinäres Wissenschaften Wissenschaften Interdisziplinär Regionalwissenschaften, Regionalstudien
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politikwissenschaft Allgemein Politische Studien zu einzelnen Ländern und Gebieten
Weitere Infos & Material
Von der missglückten Revolte zur Revolution?
Das große Scheitern der Staaten
Es wird noch schlimmer kommen. Die Proteste des Jahres 2011, die zum Sturz von vier Machthabern geführt haben, waren erst der Anfang großer Erschütterungen, die der arabischen Welt bevorstehen. In einem einzigen Jahrzehnt haben Aufstände, Konflikte und Kriege elf Länder erfasst. Die Region hat ihren Tiefpunkt aber noch lange nicht erreicht. Die Missstände, die das Beben ausgelöst haben, sind nicht beseitigt worden, dafür sind neue hinzugekommen. Es ist noch schlechter geworden, was bereits schlecht war.[1] Auch im 20. Jahrhundert hat der Nahe und Mittlere Osten viel Gewalt und Rückschläge erlebt. Doch der Ausblick war nie so düster wie heute.
Dabei haben die Proteste des Jahres 2011, von vielen als »Arabischer Frühling« gefeiert, die Hoffnung genährt, dass endlich auch die arabische Welt von einer Welle der Demokratisierung erfasst werde. In einer Zeit, in der in vielen Ländern, beispielsweise in Osteuropa, Revolutionen und Umwälzungen erfolgreich waren, ist es in der arabischen Welt aber nirgends geglückt, ein Land grundlegend und zum Besseren zu verändern.
Die Regime waren zufrieden, und der Westen war es auch. Schließlich war der Fokus des Westens auf das gerichtet, was am drängendsten erschien: den Terror vor Ort zu bekämpfen, ein Übergreifen von Kriegen zu verhindern, die Expansionslust Irans einzudämmen, Flüchtlinge in ihren Heimatländern zu halten, Länder vor einer Implosion zu bewahren. Für Europa war das eine so naheliegende wie kurzsichtige Strategie. Denn nirgends wurden die Probleme gelöst. Im Gegenteil: Sie wurden und werden mit der Zeit immer größer.
Statistiken suggerieren, dass die Volkswirtschaften des Nahen Ostens wachsen, das durchschnittliche Einkommen je Einwohner steigt und die Arbeitslosigkeit nur wenig über den Werten Europas liegt. Durchschnittszahlen sagen aber nichts aus über die extrem ungleiche und ungerechte Verteilung von Einkommen und Vermögen. Sie verschleiern, dass die wenigen Reichen immer reicher werden, die vielen Armen immer ärmer und die Mittelschicht erodiert.
Laut den offiziellen Zahlen geben die Staaten des Nahen Ostens, gemessen als Anteil am Bruttoinlandsprodukt, das Dreifache des weltweiten Durchschnitts für Sicherheit und Rüstung aus. Ausgaben für ihre nichtstaatlichen Akteure in anderen Ländern sind darin nicht enthalten, auch nicht die Kosten, die die Zerstörungen verursachen, und auch nicht die vielen Toten, Verletzten und Flüchtlinge. Noch aussagekräftiger sind die Berichte der Vereinten Nationen über die menschliche Entwicklung, etwa zum Gesundheitswesen, dem Bildungssystem oder den Rechten und Chancen von Frauen. Sie zeigen eine kollektive Fehlentwicklung der gesamten Region.
Die Vereinten Nationen prognostizieren, dass in den 22 Ländern der Arabischen Liga die Bevölkerung von 1970 bis 2050 von 128 Millionen auf 598 Millionen um das Fünffache zunehmen wird.[2] Im selben Zeitraum wächst die Bevölkerung Europas nur wenig, von 657 Millionen auf 716 Millionen.[3] Zudem ist in keiner anderen Region der Anteil der Jugendlichen im Alter von 15 bis 24 Jahren so groß wie im Nahen Osten, nirgendwo sonst sind so viele ohne Arbeit, nirgendwo sonst sind so wenig Frauen ins Erwerbsleben integriert.
Selbst funktionierende Staaten mit verantwortungsvoll handelnden Eliten wären da überfordert. Im Nahen Osten aber halten die Eliten das Scheitern nicht auf, sondern beschleunigen es. Dieses Scheitern reicht sehr viel tiefer als das, was der schnelle Blick auf die tägliche Nachrichtenlage wahrnimmt – ein Protest hier, ein Ministerrücktritt da, ein Anschlag dort. Dieses Scheitern bedeutet chronisch schlechte Regierungsführung, endemische Korruption, das Fehlen guter öffentlicher Dienstleistungen für alle, ob im Bildungssystem oder im Gesundheitswesen. Es bedeutet, dass die meisten Menschen vom politischen Prozess ausgeschlossen sind und ihnen wirtschaftliche Chancen versperrt bleiben. Die Eliten schalten den Wettbewerb aus, der Voraussetzung ist für Wohlstand und die Modernisierung einer Volkswirtschaft. Sie stabilisieren ihr System dank eines crony capitalism, der eine kleine Schicht privilegiert und Einkommen und Vermögen immer ungleicher verteilt.
Das Scheitern eines Staats macht ihn noch nicht zum failed state. Seine Konstruktion wird jedoch brüchig, seine Stabilität ist gefährdet. Er ist kein gescheiterter, aber ein scheiternder Staat, ein failing state. Ein Stoß von innen oder von außen kann ausreichen, um ihn zum Einsturz zu bringen. Den Stoß können Massenproteste auslösen oder starke Akteure, die ihren Machtbereich erweitern wollen. Jeder versucht dann zu kontrollieren, was er kontrollieren kann. Grenzen verlieren ihre Bedeutung, der Stärkere beherrscht den Schwachen.
Ein Prozess des Zerfalls hat die arabische Welt erfasst. Stabil sind nur wenige Staaten, die meisten Regime erscheinen stabiler, als sie in Wirklichkeit sind. Noch hält eine präzedenzlose Repression, die mit jedem Grad des Scheiterns zunimmt, den Druck im Kessel. Ein Jahrzehnt nach den Protesten von 2011 und dem Sturz von vier Machthabern sind in allen Ländern, ausgenommen Tunesien, die politischen Rechte und bürgerlichen Freiheiten noch weiter eingeschränkt, und der wirtschaftliche Niedergang setzt sich fort.[4]
Die Regime versuchen erst gar nicht mehr, ihre Fassaden mit Ideologien zu verzieren. Sie sind ausgezehrt. Und je mehr ihre Macht gefährdet ist, desto mehr rufen sie nichtstaatliche Akteure aus Drittstaaten zu Hilfe. Die erschreckendsten Beispiele sind Syrien, Libyen und der Jemen. Der Ruf nach externen Rettern vertieft den Graben zwischen den Machthabern und jenen, die gegen sie aufbegehren, weil sie ausgegrenzt sind. So wurde der Nahe Osten binnen weniger Jahre zu einem großen Schlachtfeld, auf dem sich mächtige Stellvertreter bekriegen.
Über Jahrzehnte kamen immer neue Missstände und Fehlentwicklungen hinzu. Die Antwort darauf waren die Proteste und Aufstände, die 2011 begannen. Getragen wurden sie überwiegend von gebildeten jungen Menschen aus der städtischen Mittelschicht, sie forderten Arbeit und wirtschaftliche Chancen, Gerechtigkeit und politische Teilhabe. Die Eliten gingen nicht darauf ein, sondern zementierten ihre Macht und Pfründe. Gab es Versprechen für Reformen, wurden sie nicht eingehalten. Die Hoffnungen auf einen Wandel wurden nicht erfüllt, und so nahm der Druck im Kessel weiter zu. In dem Maße, wie die Regime die Daumenschrauben anzogen, wuchs die Wut auf sie. Ein Teufelskreis war in Gang gesetzt.
Dabei sollte das Jahrzehnt nach 2011 eine Warnung sein.[5] Seither sind die Bürgerkriegsländer Syrien, Libyen und Jemen zerfallen; Ägypten verhält sich gegenüber seiner Bevölkerung wie eine Besatzungsmacht; im Irak und im Libanon begehren die Menschen gegen korrupte Eliten auf, die ihre Macht aus der konfessionellen Aufteilung ihrer Länder beziehen; im Sudan, in Algerien und in Jordanien haben die Menschen ihre Ersparnisse aufgebraucht; und selbst Tunesien, die einzige Erfolgsgeschichte und das Demokratielabor der arabischen Welt, kann jederzeit scheitern, weil zu viele externe Akteure kein Interesse daran haben, dass das Experiment einer Verständigung von Säkularen und Islamisten gelingt.
Im Jahr 2020 zeigen im Zuge der Covid-19-Pandemie selbst die reichen Golfmonarchien Krisensymptome. Die Öleinnahmen gehen zurück, die Ausgaben müssen an neue Realitäten angepasst werden. Und das ist nur ein Vorgeschmack auf das Zeitalter nach dem Erdöl. Bis zum Jahr 2050 könnte sich die Nachfrage nach dem Rohstoff halbieren.[6] Die meisten Erdölproduzenten haben allerdings den Zeitpunkt verpasst, ihre Volkswirtschaften rechtzeitig zu diversifizieren. Das hat Folgen, die weit über sie hinausreichen, denn dadurch gehen auch die Überweisungen der Fremdarbeiter zurück, in Länder, die längst in einer tiefen Krise stecken.
Im vergangenen Jahrzehnt hat die Einmischung von außen in den Ländern des Nahen Ostens dramatisch zugenommen. Russland intervenierte militärisch in Syrien und Libyen; die Türkei, die in die Rolle einer Schutzmacht für Muslime und Turkvölker hineinwächst, wollte dem nicht nachstehen; Iran heizte die Spannungen mit Interventionen in Syrien, dem Irak und im Jemen an; Israel goss mit der Ankündigung, die Westbank zu annektieren, Öl ins Feuer, das der amerikanische Präsident Donald Trump mit seiner Rhetorik weiter anfachte; Frankreich knüpft in Nordafrika an seine lange Kolonialzeit an; die Sahelzone entwickelt sich zum...




