Horst | Wisting und der Tag der Vermissten | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 1, 464 Seiten

Reihe: Cold Cases

Horst Wisting und der Tag der Vermissten

Kriminalroman

E-Book, Deutsch, Band 1, 464 Seiten

Reihe: Cold Cases

ISBN: 978-3-492-99505-4
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Seit 24 Jahren hat Kommissar William Wisting ein Ritual: Am Jahrestag des Verschwindens von Katharina Haugen nimmt er sich die Fallakten erneut vor. Dieser Cold Case lässt ihm einfach keine Ruhe. Jedes Jahr trifft er zudem Martin Haugen, den Ehemann der Vermissten und damaligen Hauptverdächtigen, dem nie eine Schuld nachgewiesen werden konnte. Doch dieses Jahr sind zwei Dinge anders: Aus Oslo reist Adrian Stiller an, der in einem anderen Fall über die Fingerabdrücke von Martin Haugen gestolpert ist. Und als Wisting Haugen wie immer treffen will, ist dieser spurlos verschwunden.
Horst Wisting und der Tag der Vermissten jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


2
Feine, durchsichtige Wasserstrahlen fielen im Licht der Scheinwerfer schräg zu Boden, als Wisting rückwärts aus der Garage fuhr. Der Regen hatte im Laufe der Nacht zugenommen. Wisting war bis Mitternacht aufgeblieben und hatte versucht, den Faden wiederzufinden, den er einige Stunden zuvor beinahe schon gepackt hatte, doch der war nicht mehr da. Er warf einen Blick über die Schulter und sah zum Haus hinüber, in dem seine Tochter wohnte. In der Küche brannte Licht. Amalie wachte immer gegen sechs Uhr auf. Einen Augenblick blieb er regungslos hinter dem Lenkrad sitzen und fragte sich, ob er bei Line anhalten und fragen sollte, wie es den beiden ging. Er hatte es nicht eilig. Sein Arbeitstag begann erst in einer Stunde. Aber anscheinend versuchte Line gerade, die Kleine wieder zum Einschlafen zu bringen. Dabei würde sein Besuch nur stören. Der 10. Oktober vor vierundzwanzig Jahren war ein wolkenloser Tag mit schwachem Wind aus Südost gewesen, wie Wisting aus dem Bericht wusste. Im Laufe des Abends waren ein paar Wolken aufgezogen. Der Wind hatte sich zu einer leichten Brise entwickelt, und die Temperatur war auf etwa acht Grad abgefallen. Wisting fuhr durch das Wohnviertel und bog nach links in den Larviksvei ab. Der Arbeitstag würde nicht sehr produktiv werden. Er würde sich kaum auf etwas anderes konzentrieren können, weder vor noch nach dem Treffen mit Martin Haugen. Katharina war in der Vergangenheit schon einmal verschwunden. Damals hatte sie Katharina Bauer geheißen. Im Alter von einundzwanzig Jahren hatte sie sich auf ihr Motorrad gesetzt, hatte ihrer österreichischen Heimatstadt Perg den Rücken zugekehrt und war nie wieder zurückgekommen. Sie war vor ihrer dysfunktionalen Familie geflohen, einem gewalttätigen und alkoholabhängigen Stiefvater und einer instabilen Mutter mit psychischen Problemen. Lange hatten Katharina und ihre Schwester zusammengehalten und sich um den jüngeren Bruder gekümmert, doch als der alt genug war, um auf sich selbst aufzupassen, hatte Katharina ihren Rucksack gepackt und sich auf den Weg gemacht. Die Reise hatte sie nach Norwegen geführt. Irgendwo in dem Land lebte ihr Vater. Jedenfalls hatte ihre Mutter einmal erzählt, dass der Vater Norweger sei. Sie hatte nicht viel Hoffnung, ihn zu finden. Sie wusste nur, dass er Richardt hieß und eine Zeit lang Stammgast in dem Restaurant war, wo ihre Mutter im Sommer 1958 gearbeitet hatte. Irgendwann war er dann weitergefahren, und es war unklar, ob er überhaupt je erfahren hatte, dass er Vater geworden war. Der unbekannte Vater war allerdings nicht der eigentliche Grund für ihre Reise nach Norwegen. Es ging in erster Linie darum, von zu Hause wegzukommen. Aber sie war auch neugierig auf dieses Land gewesen. Bevor sie aufbrach, hatte sie sich mit Geschichte und Geografie vertraut gemacht und die Sprache ein wenig gelernt. Nach ihrer Ankunft in Norwegen hatte sie offenbar auch versucht, ihren Vater ausfindig zu machen. Unter den von ihr zurückgelassenen Dingen befand sich eine Adressenliste mit verschiedenen Männern, die Richardt hießen, auch in anderer Schreibweise, aber das Ganze wirkte wie ein Projekt, das sie schon lange vor ihrem Verschwinden aufgegeben hatte. Ein paar der Namen auf der Liste waren durchgestrichen, etwa drei Viertel waren noch übrig. Die Polizei hatte sich mit all diesen Männern in Verbindung gesetzt. Die, deren Namen durchgestrichen waren, bestätigten, dass man sie kontaktiert hatte, dass sie aber offensichtlich nicht diejenigen waren, nach denen sie gesucht hatte. Wisting stellte die Scheibenwischer auf eine höhere Geschwindigkeit ein. Als er sich dem Zentrum näherte, verdichtete sich der Verkehr. Das Regenwasser der letzten Tage hatte sich neue Wege gesucht, an mehreren Stellen war der Untergrund weggespült worden, und Teile der Straße waren abgerutscht, sodass der Verkehr umgeleitet werden musste. In Österreich hatte Katharina eine Ausbildung zur Landschaftsplanerin und Feldvermesserin absolviert und war dann nach ihrem Umzug nach Norwegen für die lokale Straßenbaubehörde tätig geworden. Sie hatte ein Gefühl für Fremdsprachen, lernte schnell Norwegisch und machte eine Weiterbildung an der Technischen Fachhochschule. Nach einer Weile bekam sie dann eine feste Anstellung bei der staatlichen Straßenbaubehörde, wo sie an der Planung und am Bau von neuen Fernstraßen durch den südlichen Teil von Telemark arbeitete. Dabei war sie auch Martin Haugen begegnet. Er war dort Vorarbeiter und gehörte zu den Kollegen, die sich häufig im Planungsbüro aufhielten. Der Verkehr rollte langsam weiter. Ein Fahrradfahrer in Regenmontur schlängelte sich an den Fahrzeugen vorbei. Wisting wollte gegen zwölf zu Martin Haugen fahren. Sie hatten keine feste Verabredung, doch nach dem Verschwinden von Katharina war er jedes Jahr zur gleichen Zeit zu ihm gefahren und wusste, dass Martin Haugen ihn auch in diesem Jahr erwartete. Der Kaffee würde gekocht sein und der Fertigkuchen bereitstehen. Vermutlich ein Zitronenkuchen mit Glasur oder eine Himbeerbiskuitrolle. Erst würden sie ein wenig Small Talk machen, dann würden sie über Katharina sprechen. Wisting war ihr einmal begegnet. Es war ihm gar nicht bewusst gewesen, erst fünf oder sechs Jahre nach ihrem Verschwinden hatte Martin Haugen ihn darauf aufmerksam gemacht. Es sei am Nationalfeiertag gewesen, hatte er erklärt und Wisting einen Zeitungsausschnitt gezeigt. Katharina und ihre Freundinnen aus dem Chor hatten während der Feiern im Wald Bøkeskogen gesungen. Es gab ein Bild von ihnen in der Zeitung, und im Hintergrund war Wisting zu sehen, der damals im Einsatz gewesen war. Katharina hatte ihrem Mann das Foto gezeigt und erzählt, dass sie kurz vor dem Chorauftritt ein Schlüsselbund gefunden und dem Polizisten auf dem Bild übergeben habe. Wisting hatte sich an das Vorkommnis nicht erinnern können und vermutete, dass Katharina ihn mit einem anderen Polizisten verwechselt hatte. Er hatte das Fundsachenprotokoll hervorgeholt, zurückgeblättert und zu seiner Überraschung einen von ihm notierten Vermerk gefunden, der besagte, dass ein Schlüsselbund von einer gewissen Katharina Haugen gefunden und abgegeben worden sei. Immer wenn er sich das Geschehene ins Gedächtnis zurückrufen wollte, konnte er sich vage daran erinnern, die eigentliche Begegnung mit Katharina war hingegen ausgelöscht. Auch Martin Haugen hatte es vergessen, bis er den Zeitungsausschnitt eines Tages beim Aufräumen in einer Schublade gefunden und Wisting darauf wiedererkannt hatte. Hinter ihm hupte ein Wagen. Wisting wurde aus seinen Gedanken gerissen und füllte sogleich die Lücke zum Auto vor ihm, die entstanden war, als er nicht auf die Straße geachtet hatte. In der Innenstadt war der Verkehr nicht ganz so schlimm, und Wisting erreichte das Präsidium frühzeitig genug, um Kaffee zu kochen, damit der schon bereitstand, wenn die anderen aus der Abteilung zur Arbeit kämen. In der vergangenen Nacht und am Abend zuvor waren keine größeren Polizeieinsätze nötig gewesen, wie das Einsatzprotokoll zeigte. Wisting verteilte die wichtigsten Fälle und legte alles andere vorerst beiseite. Um zehn Uhr würde eine Haushaltssitzung stattfinden, und mit einem der Polizeijuristen musste er die Rückstände überprüfen. Außerdem sollte er sich zu einer Konsequenzanalyse äußern, die sich damit beschäftigte, was mit der Fahndungsabteilung passieren würde, wenn der Polizeidistrikt mit dem des benachbarten Regierungsbezirks zusammengelegt würde. Das allerdings konnte er auch nach dem Treffen mit Martin Haugen erledigen. Er lehnte sich auf seinem Bürostuhl zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Dann beugte er sich vor und öffnete die unterste Schublade. Er zog eine Kopie des Zeitungsfotos vom Nationalfeiertag heraus, die er gemacht hatte, und betrachtete sie. Das Foto war schwarz-weiß. Katharina Haugen trug ein helles Sommerkleid und stand mit ihren festlich gekleideten Freundinnen zwischen den Bäumen. Ihre Haare waren lang und, wie Wisting wusste, rotblond. Sie hatte blaue Augen, doch auf dem Foto lag etwas Düsteres in ihrem Blick, das trotz ihres breiten Lächelns nicht zu übersehen war. Die Lippen wirken weich, dachte Wisting beim Betrachten des Fotos. Weicher als die Augen. Er glaubte nicht, dass sie noch lebte, fragte sich aber dennoch, wie sie wohl heute aussehen würde. Er selbst hatte sich merklich verändert. Auf dem Foto war er Ende zwanzig und schlank. Seine Haare, die unter der Uniformmütze hervorlugten, waren schwarz, und er hielt den Rücken kerzengerade durchgedrückt. Für Wisting hatte der Fall Katharina Haugen erst am Mittwoch, dem 11. Oktober, angefangen, als ihr Mann sie als vermisst meldete. Zu zweit waren die Ermittler in den Kleivervei gefahren und hatten die ersten Untersuchungen vorgenommen. Wisting und Eivind Larsen. Wisting hatte sich mit Martin Haugen ins Wohnzimmer gesetzt, während Eivind Larsen durch das Haus gegangen war und nach einem Hinweis auf Katharinas Verbleib gesucht hatte. Doch nichts im Haus und auch nichts in dem Gespräch hatte die beiden einer Lösung näher gebracht. Wisting stand auf, trat ans Fenster und spürte plötzlich ein eigenartiges und dennoch vertrautes Gefühl im Körper. Eine Rastlosigkeit, die Folge von etwas Unerledigtem war. Der Verdacht, dass Martin Haugen etwas mit dem Verschwinden seiner Frau zu tun haben könnte, war schnell fallen gelassen worden. Zu jenem Zeitpunkt arbeitete er auf einer Baustelle in Trøndelag und wohnte in einer Barackensiedlung in Malvik. Das lag mehr als acht Autostunden von zu Hause entfernt. Wenn jemand verschwand, wurde immer zuerst der Ehepartner verdächtigt. Die zeitliche Abfolge der Geschehnisse lieferte den Ermittlern allerdings keinen Anhaltspunkt dafür, dass Martin Haugen...


Horst, Jørn Lier
Jørn Lier Horst, geboren 1970 in Bamble/Norwegen, war Kriminalhauptkommissar bei der norwegischen Polizei, bevor er 2004 als Kriminalschriftsteller debütierte. Seitdem schrieb er sich mit seinen Romanen um den Polizisten William Wisting in die erste Liga der norwegischen Krimiautoren.


Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.