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E-Book, Deutsch, 280 Seiten

Hoven / Weigend Strafsachen

Ist unser Recht wirklich gerecht?

E-Book, Deutsch, 280 Seiten

ISBN: 978-3-8321-8292-2
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Das Strafrecht polarisiert, fasziniert und empört wie kaum ein anderes Thema. Immer wieder gibt es Straftaten, die uns verunsichern, da sie unsere grundlegenden Regeln und Werte infrage stellen. Diese Verunsicherung wächst, wenn es zum Prozess kommt: Die Urteile der Gerichte sind für viele Bürger und Bürgerinnen häufig nicht nachvollziehbar. Eine Zahl, die dies eindrucksvoll belegt: Einer aktuellen Umfrage zufolge halten fast sechzig Prozent der Bevölkerung die Verurteilungen durch deutsche Strafgerichte für »zu milde«.
Elisa Hoven und Thomas Weigend greifen in ihrem Buch spektakuläre und prominente Fälle auf, die verwundert, besorgt oder empört haben. Anhand des »Ku’ Damm-Raser-Falls« diskutieren sie, ob Raser Mörder sind. Der Fall der Gruppenvergewaltigung von Mülheim wiederum stellt die Gerichte sowie Leser und Leserinnen vor die Frage, ob und wie ein zwölfjähriger Vergewaltiger bestraft werden sollte. Und im Kapitel über den »Fall Kristina Hänel« beleuchten die Autoren kritisch das Gesetz, das Informationen über Schwangerschaftsabbrüche verbot.
Stets analysieren sie, warum die Gerichte so und nicht anders geurteilt haben, und fragen, ob das juristisch wie ethisch vertretbar ist. Dabei zeigen sie die Grenzen und Bedingungen unseres Rechtssystems auf.
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Einleitung Was ist gerecht? True-Crime-Formate haben Hochkonjunktur. Ob auf Netflix, in Romanen oder Podcasts – wir sind von Straftaten schockiert, empört, aber auch fasziniert. Wir fragen uns, was einen Menschen dazu bringt, einen anderen zu verletzen, zu töten oder gar zu verspeisen (Kapitel 5). Verbrechen lösen Emotionen aus. Wir genießen den Nervenkitzel eines Krimis, Angst lässt unser Gehirn Adrenalin und Endorphine ausschütten. Aber wir fühlen auch mit den Opfern. Ihr Schicksal berührt uns, wir möchten wissen, wie sie die Taten verarbeitet haben und wie ihre Angehörigen mit dem Schmerz umgehen. Lesen wir von einem Verbrechen, interessiert uns aber vor allem eines: Hat der Täter seine gerechte Strafe bekommen? Wenige Medienberichte lösen mehr Empörung aus als Schlagzeilen wie »Gericht verhängt mildes Urteil für Kinderschänder« oder »Serieneinbrecher kommt wieder auf freien Fuß«. Das Bedürfnis nach Bestrafung ist im Menschen tief verwurzelt. Das belegen verschiedene Studien der Verhaltensökonomie. In einem Experiment ließ der Wirtschaftswissenschaftler Ernst Fehr eine Gruppe Studierender mit kleinem Kapital Einsätze machen. Die Spieler konnten entscheiden, ob sie ihr Geld investieren wollten oder nicht. Für jeden Einsatz gab es vom Spielleiter mehr Geld zurück, das aber an alle Spieler in der Gruppe gleich verteilt wurde. Für den einzelnen Spieler war es also am profitabelsten, selbst nicht zu investieren und den Profit aus den Einsätzen der Mitspielenden einzustreichen. Für die Gruppe war ein solch egoistisches Verhalten natürlich schlecht – wer im Sinne des Teams investierte, verlor am Ende, wenn die anderen nicht mitmachten. Weil es immer jemanden gab, der nur an den eigenen Gewinn dachte, ließ die Kooperationsbereitschaft von Runde zu Runde nach. Nun aber änderte Fehr die Regeln. Den Spielern wurde mitgeteilt, wer investiert hatte und wer nicht. Plötzlich stieg die Bereitschaft zur Kooperation erheblich, egoistisch ist man lieber heimlich. Entscheidend war aber eine andere Regel: Die Spieler konnten jetzt einen Mitspieler bestrafen, der sein Geld behalten und der Gruppe geschadet hatte. Wenn sie eine Geldeinheit investierten, wurden dem unkooperativen Mitspieler drei Einheiten abgezogen. Die Spieler machten von dieser Möglichkeit regen Gebrauch. Und das, obwohl ihr Bestrafungsverhalten ihnen nicht nutzen konnte – denn jeder spielte nur ein einziges Mal mit demselben Mitspieler zusammen. Es ging also nicht um Abschreckung oder um Besserung, sondern allein um Vergeltung. Doch warum ist es uns so wichtig, dass andere für ihr Fehlverhalten sanktioniert werden? Der Wunsch nach Gerechtigkeit ist im Menschen fest verankert. Schon Kleinkinder haben einen Sinn für Gerechtigkeit. Studien zeigen, dass sich bereits Dreijährige für andere Kinder einsetzen, denen Spielzeug oder Süßigkeiten weggenommen werden. Aber nicht nur Menschen haben ein starkes Gefühl für gerechtes oder ungerechtes Verhalten. Berühmt geworden ist ein Experiment mit zwei Kapuzineräffchen, die beide eine Belohnung erhalten. Das erste Äffchen bekommt eine Gurke und isst sie mit Freude. Doch als dem zweiten Äffchen eine noch begehrtere Weintraube gegeben wird, verweigert das erste Äffchen die nächste Gurke und wirft sie wütend aus dem Käfig. Auch Affen haben also das Bedürfnis nach fairer Behandlung. Sozialpsychologen gehen davon aus, dass die Zusammenarbeit in Gruppen, die auf Kooperation angewiesen sind, ohne Gerechtigkeit nicht funktionieren würde. Beute muss also fair geteilt werden. Wer sich zu viel nimmt, benachteiligt die anderen; sein Verhalten muss sanktioniert werden. Aber: Warum verlangt unser Gerechtigkeitsempfinden nach einer angemessenen Strafe? Würde es nicht genügen, dem Dieb das erbeutete Portemonnaie wieder abzunehmen und dem Opfer zurückzugeben? Wäre das nicht gerechter, als den Dieb darüber hinaus noch mit einer Geldstrafe zu belegen? Schließlich wird mit der Strafe nicht nur der Status quo wiederhergestellt, sondern dem Täter ein weiteres Übel auferlegt. Mit diesem Argument wird das Strafrecht immer wieder infrage gestellt: Es profitiere doch niemand davon, wenn ein Mensch ins Gefängnis gehen muss. Tatsächlich haben diese Bedenken bereits Eingang in das Strafverfahren gefunden. Wir bemühen uns zunehmend um Alternativen zur klassischen Strafe. Gerichte können zum Beispiel auf eine Strafe verzichten, wenn es zu einem »Täter-Opfer-Ausgleich« gekommen ist und der Täter Wiedergutmachung geleistet hat. Das ist aber die Ausnahme. Im Grundsatz bleibt es dabei, dass unser Gerechtigkeitssinn verlangt, den Täter nicht straflos davonkommen zu lassen. Wer die Rechtsgüter eines anderen verletzt – etwa dessen Leben, Körper oder sexuelle Selbstbestimmung –, der überdehnt die eigene Freiheit zu Lasten seines Opfers. Dadurch entsteht ein Ungleichgewicht, das nur durch eine Einschränkung der Freiheit des Täters aufgehoben werden kann. Durch den Diebstahl des Portemonnaies verletzt der Täter unsere Rechtsordnung, die den Diebstahl verbietet. Er stellt sich gegen die Regeln, die wir uns für unser Zusammenleben gegeben haben. Diese Verletzung würde allein durch die Rückgabe des Portemonnaies nicht ausgeglichen. Das Recht macht durch die Strafe deutlich, dass es den Verstoß gegen unsere gemeinsame Ordnung nicht akzeptiert. Der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel hat das die »Negation der Negation« genannt – der Täter verneint das Recht, und das Recht muss diese Verneinung wiederum verneinen, um seine Geltung zu bewahren. Das klingt ziemlich abstrakt, hat aber auch einen ganz greifbaren Kern. Schwere Straftaten erschüttern unser Vertrauen in andere Menschen, in unsere Sicherheit und in unser Recht. Die Bestrafung des Täters, das zeigen Studien, stellt unseren Glauben an eine gerechte Welt wieder her. Wie wichtig eine gerechte Bestrafung von Verbrechen ist, macht auch das Bundesverfassungsgericht immer wieder deutlich. Der Rechtsstaat, so die Karlsruher Richter, könne »sich nur verwirklichen, wenn ausreichende Vorkehrungen dafür getroffen sind, dass Straftäter im Rahmen der geltenden Gesetze verfolgt, abgeurteilt und einer gerechten Bestrafung zugeführt werden«. Aber der Täter verletzt durch sein Verhalten nicht nur eine Regel der Allgemeinheit (zum Beispiel »Du sollst nicht töten«), sondern auch individuelle Rechtsgüter der Betroffenen (das Leben des Opfers). Wir verbieten jede Form der Selbstjustiz. Wir sagen zum Beispiel den Eltern eines ermordeten Kindes, dass sie dem Täter kein Haar krümmen dürfen. Das ist viel verlangt. Aber wir können das verlangen, weil der Staat garantiert, dass er – in geordneten und rechtsstaatlichen Bahnen – den Täter zur Verantwortung zieht. Die Straftat ist in erster Linie ein Konflikt zwischen Menschen. Die wenigsten Verletzungen lassen sich so problemlos ungeschehen machen wie die Wegnahme eines Portemonnaies. Körperverletzungen, sexuelle Übergriffe, Tötungen – hier kann Gerechtigkeit nicht durch eine Rückkehr zum Zustand vor der Tat hergestellt werden. Und auch bei einem Diebstahl ist es mit der Rückgabe der Sache nicht immer getan. Denn die Erfahrung, dass ein anderer das eigene Eigentum verletzt hat, kann Angst machen. Durch die Strafe trägt der Staat einem wichtigen Bedürfnis des Opfers Rechnung – nämlich ihm zu sagen, dass die Gemeinschaft das Handeln des Täters verurteilt und sich auf die Seite des Verletzten stellt. Die Bestrafung dient damit der Bewältigung der in der Straftat liegenden individuellen Unrechtserfahrung. Jan Philipp Reemtsma, der 1996 entführt und erpresst wurde, hat diese Funktion der Strafe ganz richtig beschrieben: Der Staat muss dem Opfer bestätigen, dass ihm nicht ein bloßes Unglück widerfahren ist, sondern Unrecht. Es ist auch ein Gebot der Gerechtigkeit, eine Ungerechtigkeit als solche zu benennen. Das Recht regelt die Grundlagen des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Um akzeptiert zu werden, muss es sich daran orientieren, was eine Gemeinschaft als gerecht empfindet. Wenn die Menschen in einem Land nicht überzeugt sind, dass die Gesetze, denen sie unterworfen sind, einen fairen Ausgleich der verschiedenen Interessen vornehmen, werden sie das Vertrauen in den Staat und seine Ordnung verlieren. In einer Demokratie muss das Recht die Überzeugungen der Mehrheit widerspiegeln. Es ist also ein ernst zu nehmendes Problem, wenn ein Urteil von der Öffentlichkeit als ungerecht empfunden wird. Man kann das nicht damit abtun, dass die meisten Bürgerinnen und Bürger eben keine Juristen sind und die Gerichte es schon besser wissen werden. Gegen die Beachtung des Gerechtigkeitsempfindens der Bevölkerung werden immer wieder Studien zitiert, denen zufolge etwa die Hälfte der Deutschen die Todesstrafe als gerechte Strafe ansehen – deren Einführung wäre heute ein großer zivilisatorischer Rückschritt. Aber man sollte auch darauf achten, wie solche Befragungsergebnisse zustande kommen. Das Meinungsforschungsinstitut Forsa hat etwa vor einigen Jahren folgende Frage gestellt: »Am 16. Mai soll in den USA der Bombenattentäter von Oklahoma hingerichtet werden. Bei dem Anschlag auf ein Regierungsgebäude waren 168 Menschen getötet und Hunderte verletzt worden. Nach jüngsten Umfragen befürwortet die große Mehrheit der Amerikaner die Todesstrafe. Wie sehen Sie das: Soll in Deutschland die Todesstrafe für besonders schwere Verbrechen wieder eingeführt werden oder nicht?« Hier wird eines der schwersten denkbaren Verbrechen geschildert, mit fast 200 getöteten Personen. Noch dazu eine Tat, die jeden hätte treffen können und deshalb besonders Angst macht. Außerdem wird in der Befragung erwähnt, dass viele andere Menschen die Todesstrafe befürworten – die Befragten müssen also...


Hoven, Elisa
ELISA HOVEN ist Professorin für Strafrecht und Direktorin des Instituts für Medienrecht an der Universität Leipzig sowie Richterin am Sächsischen Verfassungsgerichtshof. Sie schreibt regelmäßig u. a. für die ZEIT und die Welt und wird als Expertin in TV-Sendungen eingeladen.

Weigend, Thomas
THOMAS WEIGEND war bis 2016 Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität zu Köln. Er hat zahlreiche Bücher und wissen-schaftliche Beiträge zum Strafrecht und zum Strafprozessrecht veröffentlicht und an verschiedenen renommierten ausländischen Universitäten gelehrt.


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