E-Book, Deutsch, 400 Seiten, E-Book Epub
Jaeger Die Zeit, in der wir träumten
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-8412-1303-7
Verlag: Aufbau Digital
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 400 Seiten, E-Book Epub
ISBN: 978-3-8412-1303-7
Verlag: Aufbau Digital
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Bucht der Träume. Der Traum von Liebe und Freiheit, der zwei Frauen verbindet. Ein Geheimnis, das von Generation zu Generation weitergegeben wird. Die Wahrheit, die ans Licht muss.
Die Journalistin Sarah Havensworth ist glücklich verheiratet - und nun wünscht sich ihr Mann ein Kind mit ihr. Doch sie trägt schwer an einer Schuld, die sie vor ihm zu vergeben sucht und die alles zu zerstören droht. Dann stößt sie bei einer Recherche auf das Schicksal zweier junger Frauen, die vor langer Zeit in San Francisco ein besseres Leben suchten, in Liebe und in Freiheit. Sarah findet heraus, dass die Mädchen ihren Traum bitter bezahlen mussten - und dass ausgerechnet die Familie ihres Mannes Anteil daran hatte. Aber dann muss auch sie selbst sich ihrer Vergangenheit stellen ...
Meredith Jaeger hat jahrelang die Welt bereist und auf vielen verschiedenen Kontinenten gelebt, bevor sie sich mit ihrem Mann und ihrem Hund wieder in ihrer Heimatstadt San Francisco niederließ. Ihre Vorfahren stammen aus Deutschland, und als sie Deutsch lernte, um die Verbindung zu den Wurzeln ihrer Familie nicht zu verlieren, stieß sie auf die Geschichte, die sie zu diesem Roman inspirierte.
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Kapitel 1
Sarah Havensworth
Gegenwart
Der Portier des Palace Hotel führte mich in den Saal des historischen Garden Court, wo der warme Lichtschein die Pailletten auf meinem goldenen Etuikleid zum Funkeln brachte. Einige Männer in Anzügen und Frauen in Cocktailkleidern hatten sich bereits versammelt. Unter den prächtigen Kristallkronleuchtern und der verglasten Decke fühlte ich mich in die Zeit der Jahrhundertwende zurückversetzt. Ich sah meinen Mann Hunter an einer der Marmorsäulen unter dem eleganten Gewölbe lehnen. Sein Anzug saß wie angegossen, und sein dunkles, dichtes Haar fiel ihm seitlich in die Stirn.
»Ein Glas Champagner für Sie?«, fragte mich ein Kellner.
»Ja, bitte.«
Ich nahm ein Glas vom Tablett. Der Champagner perlte auf meiner Zunge. Vielleicht würde ich mich heute Abend entspannen können, wenn ich genug davon trank. Auf den Wohltätigkeitsveranstaltungen meiner Schwiegermutter fühlte ich mich meist fehl am Platz. In Menschenansammlungen war mir ohnehin nie besonders wohl, und auch jetzt spürte ich, wie mir die Panik allmählich den Nacken hochkroch.
Ein Luftzug durch die offenstehende Tür blies mir die Haare aus dem Gesicht. Sofort strich ich die Strähnen zurück, damit man die dünne weiße Narbe auf meiner Stirn nicht sah. War sie jemandem aufgefallen? Ich holte tief Luft. Ich war in Sicherheit. Niemand achtete auf meine Narbe. Außer mir natürlich. Langsam atmete ich wieder aus.
Ich bahnte mir einen Weg durch die Menge und legte meine Hand auf Hunters Arm. Er strahlte mich an, und Grübchen erschienen auf seinen Wangen. Ein hinreißendes Lächeln, nur für mich. »Hey. Wie schön, dass du es geschafft hast. Und wie geht es meiner liebsten jungen Dame heute Abend?«
Ich lachte leise. Wenn man bedachte, wie viele Damen mit bläulich getöntem Haar sich heute Abend für die Kunst und für einen guten Zweck versammelt hatten, gehörte ich tatsächlich zu den jüngeren – eine willkommene Abwechslung, denn unter meinen Freunden und ehemaligen Kollegen Jen und Nick fühlte ich mich inzwischen uralt.
Letzten Monat an meinem dreißigsten Geburtstag war mir mit einem Mal klargeworden, dass ich inzwischen Gefallen daran fand, um zehn Uhr abends ins Bett zu gehen oder am Wochenende früh aufzustehen, um mal ganz unverkatert über den Bauernmarkt zu schlendern. Die Welt von Frauen in ihren Zwanzigern wurde mir immer fremder. Ich verstand einfach das Prinzip von Tinder nicht, und es fiel mir schwer, meinen jüngeren Freundinnen begreiflich zu machen, dass man tatsächlich von zwei Gläsern Wein Kopfschmerzen bekommen konnte.
Mit einem Lächeln auf den Lippen schwebte Hunters Mutter Gwyneth auf uns zu. Sie trug ein langes hellblaues Kleid, und an ihrem Handgelenk baumelte ein diamantbesetztes Armband. Ich versteckte meine Hände hinter dem Rücken – hätte ich mir für heute Abend doch wenigstens die Nägel lackiert. Die Maniküre meiner Schwiegermutter war tadellos wie eh und je. Sie küsste erst Hunter auf die Wange und wandte sich dann an mich.
»Hallo Sarah. Du siehst bezaubernd aus. Wie schön, dass du kommen konntest.«
»Danke«, sagte ich und ließ mich von ihr in die Arme schließen.
Hunter beugte sich zu mir herunter und flüsterte mir ins Ohr. »Du bist atemberaubend in diesem Kleid. Niemand in diesem Saal kann sich glücklicher schätzen als ich.«
Mir wurde warm, und ein angenehmes Kribbeln lief mir den Nacken hinab, wo ich eben noch Hunters Atem gespürt hatte.
»Sarah, du denkst doch an die Gala, die ich ausrichten werde – ›Canova bei Mondschein‹?«, wollte Gwyneth wissen. »Ich könnte vor der großen Enthüllung deine Hilfe gebrauchen.«
O nein. Davon hatte sie mir schon erzählt. »Natürlich helfe ich dir«, sagte ich, auch wenn mir nur noch wenige Wochen für die Abschlussarbeit meines Master of Fine Arts blieben und ich eigentlich geplant hatte, diese Zeit ausschließlich zum Schreiben zu nutzen. Beim Gedanken an meinen Roman und wie er auf meinem Computer verkümmerte, krampfte sich mein Magen zusammen – eine schmerzhafte Erinnerung daran, dass ich zuletzt keinen Satz mehr zustande gebracht hatte.
»Dreißigster Mai. Trag es dir in deinen Kalender ein. Der Vorsitzende der National Gallery von Irland wird einfliegen und bei uns zu Gast sein.« Sie lächelte stolz. »Walter ist auch im Ausschuss. Der Kultusminister hat ihn für fünf Jahre ernannt. Walter und Colin waren damals zusammen auf der London School of Economics, sie sind alte Freunde.«
Ich nickte. Es erstaunte mich immer wieder, was mein Schwiegervater alles erreicht hatte. Und sosehr ich mich auch bemühte, ihn zu beeindrucken, seinen Anforderungen würde ich nie gerecht werden. Doch wer konnte das schon? Er hatte in Harvard studiert, war Geschäftsführer seiner eigenen Investmentbanking-Firma Havensworth & Associates und Präsident der Havensworth-Kunstakademie.
Hunter räusperte sich. »Mom, Sarah arbeitet gerade an ihrer Masterarbeit, und sie muss sie bald abgeben. Da hat sie momentan ziemlich viel zu tun.«
»Ach, sei still«, sagte Gwyneth und zwinkerte mir zu. »Sie kann sich bestimmt ein bisschen freischaufeln. Wir wollen einen Jahrgangsrosé servieren, und irgendjemand muss doch mit mir zur Weinprobe vor dem großen Abend gehen. Das wirst du doch, oder, meine Liebe?«
Ich lachte. »Da sehe ich überhaupt kein Problem.«
»Was war noch mal das Abschlussprojekt für deinen Master?«, wollte Gwyneth wissen und strich sich eine imaginäre lose Strähne zurück in ihren eleganten Dutt. »Schreibst du nicht einen Roman?«
Schuldbewusst sah ich auf meine Hände hinab. Dort glitzerte neben meinem goldenen Ehering mein in Roségold eingefasster rechteckiger Smaragd. Ein Familienerbstück der Havensworths mit mehr als drei Karat, eingefasst in einem Kranz von Diamanten, das mir regelmäßig Komplimente von Fremden einbrachte. Doch so gern ich auch erzählte, dass mein Verlobungsring bereits über hundert Jahre alt war, so rätselhaft war die Geschichte des prachtvollen Steins. Niemand aus Hunters Familie konnte mir sagen, wem er einst gehört hatte.
Ich drehte den Ring gerade. Dank der Unterstützung meines Mannes konnte ich mich zwar ganz meinem Schreiben widmen, dennoch hatte ich es irgendwie geschafft, die Chance, die sich mir bot, zu vergeuden. Ich zwang mich zu einem Lächeln.
»Genau. Einen Roman, der im späten neunzehnten Jahrhundert in Barbary Coast spielt, dem Rotlichtviertel von San Francisco. Es geht um eine verwitwete Wirtin und die schrulligen Bewohner ihrer Pension.«
Eine Pause entstand, und ich spürte, wie mir die Röte ins Gesicht stieg. Es war eine so banale Idee, das war mir inzwischen klargeworden. Genau deshalb hatte ich auch die vergangenen Wochen ohne jegliche Inspiration auf meinen weißen Computerbildschirm gestarrt. Meine Figuren hatten mir einfach nichts mehr zu sagen. Ich war nichts als eine Heuchlerin – eine ehemalige Journalistin, die so tat, als sei sie Romanautorin, und ihre Zeit verschwendete, indem sie einem dummen Traum hinterherjagte. Ich konnte es nicht fassen, dass Hunter mich meinen Job hatte aufgeben lassen, um dieser Geschichte nachzugehen.
Ich geriet ins Plappern. »Ich habe Zeitungsartikel aus den 1870ern für meine Recherchen gelesen. Unglaublich, wie viele Verbrechen damals begangen wurden. Es muss entsetzlich in North Beach gewesen sein, als die Polizisten und Politiker allesamt korrupt waren. Wenn man daran denkt, dass ich mein wunderschönes Hochzeitskleid von Vera Wang genau dort gekauft habe, wo damals Menschen mitten auf der Straße umgebracht wurden.«
»Unsere Stadt hat wahrhaftig eine bewegte Vergangenheit«, sagte Gwyneth. Strahlend lächelnd tätschelte sie mir die Hand. »Ich unterbreche dich ja nur ungern, aber die Vorsitzende vom De Young Museum ist gerade angekommen, ich muss sie begrüßen.« Sie winkte einer Frau mit hochtoupiertem Haar und ging davon.
»Ich finde, es klingt unheimlich vielversprechend«, sagte Hunter und sah mir beruhigend in die Augen. »Ich kenne dich, Sarah. Eine Geschichte, die du schreibst, kann nur gut werden. Du bist begabt, und es gibt niemanden, der so hart arbeitet wie du. Ich hoffe, dass dein Roman irgendwann veröffentlicht wird und die ganze Welt erfährt, wie gut meine Frau schreiben kann.«
Er gab mir einen Kuss auf die Stirn, und ich murmelte: »Danke.« Ich brachte es nicht über mich, ihm zu erzählen, dass ich alles andere als eine echte Autorin war. Alles, was ich tippte, löschte ich fünf Minuten später. Meine Nachmittage hatte ich damit vertan, in der Hoffnung auf Inspiration in Jackson Square herumzuspazieren, wo auch die Redaktion des Magazins Pulse of the City lag, in der ich bis vor kurzem noch gearbeitet hatte. Doch wenn ich nun die Backsteingebäude dort betrachtete, in denen einst Tanzsäle, Bars und Bordelle waren, fühlte ich mich verloren wie nie zuvor.
Ich schluckte, als ich bemerkte, wie sehr sich der Saal mittlerweile gefüllt hatte. Die Wände schienen näher zusammenzurücken. Es war heiß hier drin. Warum starrten mich alle an? Ich strich mir den Pony glatt, damit meine Narbe gut verdeckt war.
Noch immer konnte ich das Geflüster hören, das mir auf den Straßen meiner Heimatstadt und durch die Schulflure gefolgt war. Spürte die düsteren, anklagenden Blicke wie Dolche in meinem Rücken. Alles begann sich um mich herum zu drehen, dabei hatte ich noch nicht einmal meinen Champagner ausgetrunken.
Nicht daran denken.
...