E-Book, Deutsch, 512 Seiten
Jagusch Als die Glocken verstummten
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-492-98702-8
Verlag: Piper Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Reporterin ermittelt
E-Book, Deutsch, 512 Seiten
ISBN: 978-3-492-98702-8
Verlag: Piper Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Rudi Jagusch, 1967 geboren, arbeitet als freier Schriftsteller in der Nähe von Köln. Bekannt wurde er durch zahlreiche Krimis mit regionaler Färbung. Darüber hinaus schreibt er Thriller und veröffentlicht auch unter dem Pseudonym Jan Kilman. Mehr über ihn erfährt man hier: www.rudijagusch.com
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1
Der Turm der Burgruine kratzte am grau verhangenen Horizont. Franz schlenderte am Ufer des Flüsschens entlang, das sich irgendwo in weiter Ferne in einen größeren Fluss ergoss. Von dort aus ging es bis zu einem so mächtigen Strom, dass Schiffe darauf fahren konnten. Das hatte der Lehrer erzählt. Die Schiffe fuhren bis zum Meer und sogar weiter bis nach Afrika.
Manchmal, wenn Franz nicht einschlafen konnte, träumte er davon, als Matrose in ferne Länder zu reisen. Viele Menschen dort sahen aus wie schwarz angestrichen. Das würde er zu gerne selbst sehen.
In der Ferne schnaufte ein Zug, schwarze Rauchwolken ausstoßend, über das Viadukt. Der Gegenzug.
Vor einigen Tagen noch waren die Waggons voller Soldaten gewesen. Ein nicht enden wollender Strom von Heimkehrern, die diese Seite des Rheins räumen mussten. Das hatte Franz von dem Krämer des Dorfes erfahren. Schlaue Politiker hatten das so in einem Wald in Frankreich ausgehandelt.
Franz sah die Soldaten noch vor sich, wie sie aus den Fenstern der Abteile blickten oder an den offenen Türen der Stückguttransporter standen. Männer mit grauen Bärten und tiefen Falten im Gesicht, ihre Uniformen verdreckt, viele mit Verbänden.
Sie sind als Jünglinge losgezogen, um die Welt zu verändern.
Jetzt hat die Welt sie verändert.
Inzwischen kamen nur noch vereinzelte Nachzügler durch. Mit den grünen Waggons im Schlepptau glich der Zug einem wütenden Lindwurm. Franz dachte an die Siegfried-Sage. Die kannte er von seinem verstorbenen Opa. Er stellte sich vor, wie er mit dem Drachen um Leben und Tod rang, dem Feueratem und den peitschenden Schwanzhieben auswich. Spielerisch tänzelte Franz auf der Stelle. Und dann, mit einem mächtigen Stoß, würde er die Lanze in das Herz des Drachen rammen.
Er stieß einen Schrei aus und fuhr mit dem Arm vor. Im Geiste sah er den Drachen sich winden. Das anschließende Bad im Drachenblut würde ihn unverwundbar machen. Dabei würde er darauf achten, alle Körperstellen mit dem kostbaren Saft zu benetzen. Er würde keine angreifbare Stelle dulden, kein Blatt, das sich auf seine Schulter senkte.
Der Zug verschwand aus seinem Blickfeld. Nur die schwarze Rauchwolke stand noch am Himmel und zerfaserte dann im Wind.
Franz rupfte einen Grashalm vom Boden aus und kaute darauf herum. Es half, den Hunger zu unterdrücken.
Auf dem Pfad, der sich hoch bis zur Burgruine schlängelte, sah er einige Frauen den Hügel herabkommen. Gebeugte, graue Gestalten mit hängenden Schultern, müde und ausgelaugt. Seit Jahren arbeiteten sie in der Tuchfabrik auf der anderen Seite des Berges. Außer am Sonntag zogen sie jeden Morgen von Kirchbach los, um die Maschinen in der Fabrik zu bedienen. Fünf Kilometer hin und nachmittags wieder zurück. Bei jedem Wetter. Früher arbeiteten viele der Männer dort. Doch die mussten in den Krieg. So hatten die Frauen deren Aufgaben eingenommen.
Das alles wusste Franz von seiner Mutter. Bis vor zwei Jahren hatte sie ebenfalls die Webbänke bedient. Doch nach ihrem Arbeitsunfall, der ihr drei Finger der rechten Hand gekostet hatte, konnte der Besitzer sie nicht mehr gebrauchen. Jetzt verdingte sie sich mehr recht als schlecht als Tagelöhnerin.
Auf der steinernen Brücke, über die die Straße ins Dorf führte, hielt Franz an. Er blickte über das gemauerte Geländer. Mit weißen Kronen strudelte das Wasser um die dickeren Steine. An den ruhigeren Stellen am Ufer hatte sich Eis gebildet. Einige Kinder schlitterten lachend über die gefrorenen Flächen.
Franz schüttelte den Kopf. Der Fluss war breit und auch unberechenbar tief. Besser wäre es gewesen, sie hätten sich für ihre Schlitterpartie den Bach hinter dem Gehöft des Ortsvorstehers ausgesucht. Brach man dort ein, konnte man sich selbst aus der misslichen Lage befreien. Trotz des gefährlichen Vorhabens schienen die Kinder viel Spaß zu haben. Das Gejauchze und Gejohle überlagerte das Hämmern in der Dorfschmiede.
Franz achtete nicht weiter auf die Schar. Ihn interessierte der Fortschritt an der Mühle. Das zweite Mühlrad nahm Form an. Der greise Vater des Müllers, Konstanz Schommer, stand im trocken gelegten Mühlgraben und passte die letzte Schaufel an. Das zusätzliche Rad sollte den Generator antreiben. Dann würde es Strom im Dorf geben. Franz dachte an die Glühbirnen, die nutzlos an den Decken in ihrem Häuschen hingen. Vor Jahren waren Männer ins Dorf gekommen, um sie zu installieren. In jedes Haus waren sie gegangen. Die Männer gehörten zu einer Firma, die Strom erzeugte. Als nur noch die letzte Leitung fehlte, die, die das Dorf mit dem Elektrizitätswerk verbinden sollte, brach der Krieg aus. Der Anschluss wurde verschoben, erst um Wochen, dann um Monate. Inzwischen waren Jahre ins Land gegangen, die Männer hatten sich nicht mehr blicken lassen. Nur dem alten Müller würden sie es zu verdanken haben, wenn bald in ihren Häusern das Licht anging. Unermüdlich hatte er sich Wissen über elektrischen Strom angeeignet, einen Generator ausfindig gemacht und hierher transportiert. Er hatte die Maschine auseinandergenommen, gereinigt, die Lager gefettet, die Antriebswelle neu befestigt und das hölzerne Mühlrad gebaut. Und weiß der Teufel, woher er die Bauelemente für die Schaltstation hatte.
Anfänglich werkelte Konstanz Schommer allein vor sich hin. Die anderen hielten ihn für verrückt. Aber mit der Zeit, als man sah, dass er wusste, was er dort in der Mühle trieb, erhielt er von allen Seiten Unterstützung. So sehr lockte der Segen, den der elektrische Strom bringen würde. Nicht mehr von Gaslampen und Kerzen abhängig zu sein, nur einen Schalter drehen, und die Stube erstrahlte im Licht der Glühbirne, das war äußerst verlockend. Sogar Franz hatte es sich nicht nehmen lassen, Hand anzulegen. Er hatte Leitungen gezogen, beim Einhängen des Schaufelrads geholfen und die untere Etage der Mühle entrümpelt, um Platz für die Schaltanlagen zu schaffen.
Auf den Leitungen, die zu den Häusern führten, saß ein Vogel. Franz kam eine Frage in den Sinn. Und er wusste auch, wer ihm die beantworten konnte.
Er rannte los, wich den eisbedeckten Pfützen auf der Straße aus, sprang über die im Schlamm eingefrorenen Karrenspuren und erreichte endlich die steinernen Stufen, die zum Eingang des Krämerladens führten. Außer Atem riss er die Tür auf. »Machen die Vögel mit den Krallen nicht die Leitungen kaputt?«, platzte Franz heraus.
Ruben Lieberstock hob seine buschigen Augenbrauen. Ein verschmitztes Lächeln grub sich in seine Mundwinkel. »Wolltest du nicht zunächst einen guten Tag wünschen?«
Franz nahm seine Mütze vom Kopf. Stimmt. Er hatte vergessen, dass die Erwachsenen darauf viel Wert legten.
»Guten Tag, Herr Lieberstock.« Er deutete einen Diener an, so wie er es in der Schule gelernt hatte. Nicht zu tief, aber trotzdem weit genug, um nicht unhöflich zu sein.
»Sehr schön«, sagte Lieberstock, der sich ächzend von dem Schemel hinter dem Tresen erhob. »Und jetzt lass bitte Frau Papen eintreten.«
Franz wirbelte herum. In der Eingangstür stand die Dame, die erst kürzlich ins Dorf gezogen war. Eine Frau mit einer kleinen Nase und kräftigen Lippen. Die Haare trug sie zu einem Dutt hochgesteckt und unter einem Tuch verborgen. Aus ihren braunen Augen heraus blickte sie neugierig in die Welt.
Darüber wunderte sich Franz. Als sie vor einigen Tagen im Dorf eintraf, hatte sie traurig gewirkt. Er hatte angenommen, dass die Hose daran schuld war. Alle Frauen im Dorf besaßen Kleider und Röcke. Nur Frau Papen schien sich das nicht leisten zu können. Franz musterte ihre Beinkleidung. Eine Hose!
Entgegen seiner anfänglichen Vermutung schien dieses Kleidungsstück ihr keinen Kummer zu bereiten.
»Ich habe es nicht eilig«, sagte Frau Papen und schob ihren schlanken Körper an Franz vorbei. In der Hand hielt sie einen leeren Weidenkorb. »Um deine Frage zu beantworten, Franz …« Sie drehte sich zu ihm um. »Franz ist doch richtig, nicht wahr?«
Franz nickte.
Sie hielt ihm die Hand hin. »Agnes Papen.«
Er schlug ein. Ihre Hand fühlte sich weich an, ganz anders, als bei seiner Mutter. Deren Haut war von der schweren Arbeit hornig und mit Kratzern übersät.
Sie hängte ihren Korb in den angewinkelten Ellenbogen. »Nun, die Stromleitungen nehmen keinen Schaden. Die Isolierungen sind dick und fest, da kommt keine Kralle durch.«
»Isolierung?«
»So nennt man das, was außen um das stromführende Metall gewickelt ist.«
Franz sah Ruben Lieberstock an und runzelte die Stirn. Der lachte. »Dem gibt es nichts hinzuzufügen. Frau Papen kommt aus der Stadt. Dort gibt es schon lange elektrisches Licht.« Er deutete zu der Glühbirne an der Decke und seufzte. »So sehr ich das begrüße, für das Geschäft mit den Kerzen wird es das Aus bedeuten.«
Frau Papen schmunzelte. »Dafür werden sie Leitungen, Schalter, Sicherungen, Lampensockel, Isolatoren, Glühbirnen und vieles mehr verkaufen.«
Lieberstock schürzte die Lippen. »Man wird sehen. Ich zweifle noch.«
»Wann soll es denn endlich so weit sein?«
»Noch vor Weihnachten«, platzte Franz heraus. »Am vierten Advent, nach der Sonntagsmesse. Der Ortsvorsteher wird eine Ansprache halten.« Sein Magen unterstrich seine Sätze mit einem vernehmlichen Knurren. Den Hunger hatte er ganz vergessen. Darum musste er sich kümmern, damit er bei Kräften blieb.
Ohne weiter auf die Erwachsenen zu achten, drehte Franz sich um, rannte aus dem Laden, sprang mit einem Satz über die Stufen auf die Straße und bog nach rechts ab. An der Dorfkirche nahm er die Abkürzung über den Friedhof, vorbei am geschlossenen Gasthof, dann bog er in die Gasse ein, in der er wohnte. Ein Huhn flatterte verschreckt zur Seite. Hoffentlich...