Kelly | Ein Lied für Blue | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 368 Seiten

Kelly Ein Lied für Blue


1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-96177-590-3
Verlag: Woow Books
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 368 Seiten

ISBN: 978-3-96177-590-3
Verlag: Woow Books
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Iris ist schon gehörlos zur Welt gekommen, doch das hat sie niemals von irgendetwas abgehalten. Trotzdem fühlt sie sich manchmal einsam, und ihr liebster Ort ist ihre Elektronikwerkstatt, in der sie an alten Radios herumschraubt. Eines Tages erfährt sie im Biologieunterricht von einem Wal namens Blue, der nicht mit anderen Walen kommunizieren kann, weil er in einer höheren Tonlage singt. Der Wal erweckt Iris' Mitgefühl, und sie will ihm unbedingt zeigen, dass er nicht allein ist. Also komponiert sie ein Lied, das Blue verstehen kann. Doch wie soll sie es dem Wal vorspielen, der Hunderte von Kilometern entfernt mitten im Ozean lebt? Zusammen mit ihrer Großmutter macht Iris sich auf zu einer abenteuerlichen Kreuzfahrt über den Pazifik.
Mit Gebärdenspracheabbildungen im Anhang
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2. Kapitel


Entzwei


Ich war zu dem Schluss gekommen, dass es Ms. Conns einzige Freude im Leben war, mich ins Sekretariat zu schicken. Das machte mich zwar in gewisser Weise verantwortlich für ihr Glück, doch gerade versuchte ich trotzdem, mich unbemerkt ins Klassenzimmer zu schleichen. Ich war auch nur eine Minute zu spät und hatte einen wirklich guten Grund.

Leider deutete Ms. Conn bereits in Richtung des Sekretariats, bevor ich mich auf meinen Stuhl fallen lassen konnte.

Als ich mit meiner Verspätungsbescheinigung in der Hand zurückkam, wandte sich Ms. Conn sofort an meinen Gebärdensprachdolmetscher, Mr. Charles: »Sagen Sie Iris, sie soll sich neben Nina setzen. Nina kann ihr erklären, was sie verpasst hat.«

Ms. Conn sprach immer so an mir vorbei. Mr. Charles hatte sie schon oft gebeten, sie solle doch einfach mit reden. Dann würde er übersetzen, und sie bräuchte ihre Sätze nicht umständlich mit   zu beginnen. Doch irgendwann hatte er es aufgegeben. Sie würde es sowieso nie verstehen.

Ich rümpfte die Nase, weil ich niemanden brauchte, der mir erklärte, was ich verpasst hatte. Am allerwenigsten Nina.

»«, zeigte ich Mr. Charles in Gebärdensprache.

Als er den Satz für Ms. Conn laut aussprach, wurde ihr Gesichtsausdruck sogar noch fieser als sonst. Sie deutete mit dem ausgestreckten Zeigefinger zuerst auf mich und anschließend auf den freien Platz neben Nina.

Ms. Conn war überzeugt, dass sie genau das Richtige tat, denn sie hielt Nina für das klügste Kind in der Klasse. Und Nina dachte, sie beherrsche die Gebärdensprache. Sie hatte sich nämlich einmal ein Buch darüber aus der Bibliothek ausgeliehen – und das machte sie natürlich zur Expertin. Mir war schon öfter aufgefallen, dass manche Menschen selbstbewusst genug waren, um durchs Leben zu kommen, obwohl sie von nichts eine Ahnung hatten.

Mit ihren Händen zeigte Nina etwas Sinnloses in die Luft, während ich meinen Tisch zu ihr hinüberschob.

»«, fragte ich Mr. Charles.

Mein Dolmetscher presste die Lippen aufeinander und schaute zu Boden, um nicht zu lachen. » tolle Partnerin«, antwortete er mir.

Das hatte ich mir zwar schon gedacht, doch es machte mir Spaß, Mr. Charles zum Lachen zu bringen.

Ich wandte mich von Nina ab, um auf der anderen Seite in Clarissa Golds Buch zu schauen. Mr. Charles übersetzte, als ich Clarissa fragte, woran wir gerade arbeiteten. Sofort versuchte Nina sich einzumischen, indem sie mit ihren Händen herumfuchtelte. Ich ignorierte ihre erfundene Gebärdensprache, und sie rückte näher an mich heran. Als ob ich sie nicht sehen könnte! Ich ließ meinen Blick auf Mr. Charles gerichtet, um Nina klarzumachen, dass ich ihre Hilfe nicht brauchte, doch sie verstand es nicht. Wie ein Schwarm nerviger Fliegen schwirrten ihre Finger neben meinem Gesicht herum, und ich hätte sie am liebsten weggeschlagen. Irgendwann konnte ich es nicht mehr ertragen, deshalb machte ich mit einer schnellen Handbewegung die Gebärde für Augenblicklich fühlte ich mich besser.

Mr. Charles übersetzte meine Geste für Nina und erläuterte ihr, es könne verwirrend sein, wenn zwei Leute gleichzeitig Gebärden ausführten. Normalerweise mischte Mr. Charles sich nicht ein, weil er wollte, dass ich die Dinge für mich selbst regelte. Doch diesmal schien ihm Nina auch auf die Nerven gegangen zu sein.

Nachdem wir ein paar Minuten still gearbeitet hatten, kam Ms. Conn erneut zu uns herüber und fragte Nina etwas.

Nina nickte und antwortete ihr.

»Ms. Conn hat sich erkundigt, wie es läuft. Und Nina hat geantwortet: Ja, ich glaube, sie holt auf«, übersetzte Mr. Charles für mich.

Ich starrte hinunter auf mein Arbeitsheft, um mich nicht in eine dieser Comicfiguren zu verwandeln, denen vor Wut Dampf aus den Ohren schießt. Als ich die letzte Antwort in mein Heft gekritzelt hatte, schlug ich es zu und zeigte das Wort .

Mir kam die Idee, auf meinem Smartphone heimlich die neue Ausgabe des zu lesen, die ich mir am Morgen heruntergeladen hatte. Wenn ich ein Buch auf meinem Tisch aufschlug, konnte ich so tun, als würde ich lesen, und dabei unauffällig auf mein Telefon schielen.

Ich war gerade dabei, langsam die Hand in meinen Rucksack zu schieben, als Ms. Conn etwas zu mir sagte und dabei auf ihren Mund deutete. Mir war klar, dass sie mir damit zu verstehen geben wollte, ich solle ab jetzt nur noch ihre Lippen lesen, anstatt auf Mr. Charles’ Übersetzung zu warten. Das hatte sie schon öfter versucht, obwohl sie wusste, dass es mir schwerfiel, längeren gesprochenen Sätzen zu folgen. Einmal war ich darüber so verärgert gewesen, dass ich meinen Eltern beim Abendessen erzählt hatte: » ihr «

An meinem ersten Tag an der neuen Schule hatte Ms. Conn sogar versucht, die Hände von Mr. Charles festzuhalten. Dadurch wollte sie mich zwingen, nicht auf ihn zu achten. Ich weiß zwar nicht, was Mr. Charles damals zu ihr sagte, doch sie ließ seine Hände so plötzlich wieder los, als hätte sie auf eine heiße Herdplatte gefasst. Seitdem hatte sie sich nie wieder getraut, ihm zu nahe zu kommen.

Mr. Charles und ich ignorierten Ms. Conns Aufruf zum Lippenlesen, und Mr. Charles übersetzte, was meine Lehrerin sagte: Ich sollte das Gedicht neu schreiben, das ich letzte Woche als Hausaufgabe eingereicht hatte. Ich stutzte. Das ergab für mich keinen Sinn, denn mein Gedicht war wirklich gut.

Ms. Conn verzog das Gesicht, als würde sie in eine saure Gurke beißen, als sie mein Blatt Papier holen ging. Zwar war dieser Gesichtsausdruck typisch für sie, doch diesmal sah sie auch noch so aus, als hätte sie etwas richtig Übles dabei gerochen.

Die rote Tinte war das Erste, was mir ins Auge fiel, als Ms. Conn mir die Heftseite in die Hand drückte. Und dann sah ich die Worte, die am Rand prangten:

Natürlich stimmte das nicht. Mein Gedicht war aus einem Gebärdensprache-Reimspiel entstanden, das ich oft mit Grandpa gespielt hatte. Einer von uns hatte begonnen, eine Geschichte zu erzählen, und dann hatten wir abwechselnd immer neue Zeichen in Gebärdensprache hinzugefügt. Das Besondere an dem Spiel war, dass unsere Hände die ganze Zeit über die gleiche Form behalten mussten. Wenn wir also mit einer geschlossenen Faust begannen, musste jedes neue Zeichen ebenfalls mit einer Faust geformt werden. Wir hatten immer so lange gespielt, bis einer von uns nicht mehr weiterwusste.

Meine Lieblingsgeschichte handelte von einem Baum voller Blätter, der in der Nähe eines Flusses stand: Ein Blatt wurde von einer Windböe fortgeweht und landete im Wasser. Dort wurde es von der Strömung mitgerissen und ans Ufer geschwemmt. Schon stürzte sich ein Vogel hinab, der das Blatt aufnahm und es in sein Nest auf einem anderen Baum trug. Wir erzählten diese Geschichte mit durchgängig geöffneten Händen, so als würden wir die Zahl Fünf zeigen.

Auf dem Papier wirkte das Gedicht natürlich ganz anders. Papier war flach, deshalb konnte ich den Raum darüber und darunter nicht nutzen. Doch diesen Raum hätte ich benötigt, um die Geschichte richtig zu erzählen. Die Wörter der englischen Sprache besaßen eine andere Form als die der Gebärdensprache, deshalb sah mein Gedicht geschrieben so aus:

Natürlich reimte sich dieser Text nicht so, wie es Gedichte in englischer Sprache taten. Doch ich hatte gedacht, ich könnte meine Geschichte trotzdem einreichen, wenn ich den Zusammenhang erklärte. Deshalb hatte ich ganz oben auf mein Papier eine Notiz geschrieben. Ob Ms. Conn sich überhaupt die Mühe gemacht hatte, sie zu lesen?

Entsetzt schaute ich auf meine Hausaufgabe hinunter. Ein roter Strich verlief quer durch das Gedicht und ruinierte es. Ich nahm meinen eigenen Rotstift aus der Federmappe und funkelte Ms. Conn wütend an. Dann schrieb ich unter ihren Satz die Worte:

Seit Grandpa gestorben war, fragte ich mich immer wieder, ob er mich noch sehen konnte oder auf irgendeine Art bei mir war. Normalerweise wünschte ich mir nichts sehnlicher, doch in diesem Augenblick hoffte ich, er wäre weit weg. Denn ich wollte nicht, dass er erfuhr, was meine Lehrerin unserer Geschichte angetan hatte. Was sie angetan hatte.

Alle Kinder starrten mich an, als ich mein Gedicht zerknüllte. Wie immer hielt sich Nina ihren Zeigefinger an die Lippen, so als wäre es ihre Aufgabe, mich daran zu erinnern, dass Dinge Geräusche machten und ich sie deshalb lassen sollte. Am liebsten hätte ich ihr das Blatt ins Gesicht geschleudert, doch stattdessen warf ich es quer durchs Zimmer in die Ecke, wo es im Mülleimer landete. Mein Gedicht war zerstört – mitsamt dem Baum, den Blättern, dem Fluss und der Vogelmutter. Sie alle waren in Stücke geschnitten worden von einem roten...


Kelly, Lynne
Lynne Kelly hat schon immer gerne gelesen.Doch erst als sie begann, als Sonderpädagogin zu arbeiten, erwachte ihre Liebe zu Kinderbüchern richtig zum Leben.Inzwischen ist sie Gebärdensprachdolmetscherin, findet nebenbei aber zum Glück genug Zeit, um Geschichten für Kinder zu schreiben.Wale gehören zu ihren Lieblingstieren.

Diederichsen, Saskia
Saskia Diederichsen, geboren 1981, ist freischaffende Illustratorin und Grafikdesignerin. Ihre Liebe für fantasievolle Geschichten lebt sie auch gerne im Schreiben eigener Texte für Kinder aus.

Piel, Meritxell Janina
Meritxell Janina Piel studierte Geschichte und Philosophie in Düsseldorf und promovierte dort in Philosophie. Heute lebt sie als freiberufliche Übersetzerin in Kaarst bei Düsseldorf. Ihre Übersetzungen wurden mehrfach für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert.



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