Kettu | Die Unbezwingbare | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

Kettu Die Unbezwingbare


1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7530-5001-0
Verlag: Ecco Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

ISBN: 978-3-7530-5001-0
Verlag: Ecco Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Zwischen Traum und Wirklichkeit, wild und zugleich poetisch erzählt
Jahrzehnte nach dem Verschwinden ihrer Mutter Rose kehrt Lempi in das Reservat in Minnesota zurück, in dem sie aufgewachsen ist. Ihr Vater Ettu hat zum wiederholten Mal Rose bei der Polizei als vermisst gemeldet - dieses Mal berichtet er aber zusätzlich von einem verschwundenen blonden Mädchen. Lempi, halb Finnin, halb Ojibwe, kämpft seit jeher mit dem Konflikt ihrer Identität: Im Reservat gilt sie als zu weiß, außerhalb ist sie nicht weiß genug. Zurück im Reservat sieht sie sich sofort mit den alten Vorurteilen konfrontiert und einer Gesellschaft, die Verbrechen gegen indigene Frauen systematisch totschweigt. Unbeirrt macht sie sich trotzdem daran herauszufinden, was mit dem blonden Mädchen passiert ist, und begibt sich auf Spurensuche in die Vergangenheit.

»Ein außergewöhnliches Buch, spannend und in einem ganz eigenen Tonfall erzählt, zu empfehlen.« , KW 13/2021

»Von der heilsamen Kraft, mit der sich der Strom des Lebens Bahn bricht, davon erzählt Katja Kettu mit poetischem Zauber und der Kreativität weiblicher Sinnlichkeit.« , 11.04.2021

»Spannend wie ein Krimi, magisch wie ein Mythos und knallhart wie die Realität.« , 30.04.2021

»Dieser Roman ist nachdenklich stimmend, vor allem aber großartige und lehrreiche Literatur über ein hierzulande eher wenig betrachtetes Thema.« Frank Rehag,, 06.2021

»Katja Kettu weiß der bei der Verflechtung der [Erzähl-]Stränge genau was sie tut, und noch besser, wie sie nebenher vom Leben der Ureinwohner Nordamerikas im zwanzigsten Jahrhundert erzählt.« Matthias Hannemann, , 10.07.2021

»Eine Protagonistin, die durch Lebenslust und Leidenschaft beeindruckt.« Eva Pfister,Lesart, 06.2021

»Spannend wie ein Krimi, magisch wie ein Mythos und knallhart wie die Realität: Der Roman hat alles drin.« Sabine Prasch,, 05.2021



Katja Kettu zählt zu den wichtigsten Autorinnen Finnlands. 1978 in Rovaniemi im Norden des Landes geboren, schloss sie 2001 ihr Studium an der Kunstakademie ab. Ihr literarischer Durchbruch gelang ihr 2011 mit dem mehrfach preisgekrönten Roman , der in Finnland wochenlang auf Platz 1 der Bestsellerliste stand, in 20 Sprachen übersetzt und verfilmt wurde.

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AUGUST 2018

Jim Graupelz,

nichts von alldem wäre geschehen, hätte ich nicht von Pastor Grant zu meinem fünfundfünfzigsten Geburtstag ein Telefon geschenkt bekommen und hätte es nicht am Dienstag geklingelt. Es war einer jener erstickenden Hitzetage von Montana, die einen sofort schlapp machen, die Luft starrte drohend und unbeweglich herab, und ich war in den Trockenraum geschlichen auf der Flucht vor der stickigen Staubluft in den Gängen des Laestadius-Retrievals und dem im Saal murmelnden Gebetskreis. Es war eine Erleichterung, dort zwischen den an den Wäscheleinen hängenden Laken zu sitzen, ohne an meinen verfallenden Körper zu denken oder an die Zeit, die dahinkroch in diesem Nebengebäude der Apostolischen Gemeinde, das niemand eine Heilstätte nennen mochte. Aber versteh mich nicht falsch, Jim Graupelz: Mein kindliches Gemüt wurde mit der Mischung von indianischem und finnischem Blut erklärt, das in mir pulsiert wie der schale Moosbeersaft vom vergangenen Jahr, und weil ich deshalb keine besonders guten Morgengaben mitbekommen habe, gelte ich als ebenso leer wie ein zum Trocknen auf die Leine gehängtes Laken. Pastor Grant sagt, der Satan sei mir in die Seele geschlüpft, aber ich selbst hatte immer den Verdacht, dass mit Mutters Verschwinden etwas von mir abhandengekommen war, sich gelöst hatte oder abgerissen war, so wie man dem Fuchs, den man beim Hühnerstehlen erwischt hat, ein Bein ausreißt, damit er durch sein Geheul die anderen Übeltäter warnt, oder wie der Sturm während der Frühjahrsfluten Äste vom Hickorybaum abreißt, sodass er sich nicht wieder erholt, und so blieb von mir ein Teil meiner Seele im Reservat und verhinderte, dass ich ganz erwachsen wurde. Deshalb habe ich nie eine Familie gehabt und laufe herum mit kindlichem Gemüt, nackt und unvollkommen, im Mantel einer verfallenden Haut, mit runzliger Maske im Gesicht, und will keine Schuhe anziehen. Das war eigentlich der Grund dafür, dass ich in das Retrieval kam, dass ich so lange barfuß gehen darf, wie ich keine Sandkörner auf die Stufen bringe. Das ist Pastor Grants strengste Regel, und deshalb ging ich selten nach draußen.

Ich erschrak. Ich flüsterte ein Hallo in die Muschel, und eine flüchtige Sekunde lang spielte ich mit dem Gedanken, das sei der Satan, der mich bestrafen will. Er war es nicht, es war schlimmer. Es war der Sheriff Mike Björnsson von der Station Cloquet, dreitausendfünfhundert Meilen entfernt. Die Stimme sagte, hör zu, Lempi, jetzt ist die Situation die, dass die Situation anders ist. Ich konnte nichts antworten, aber Mikes Mittelwestdialekt vibrierte so, wie eine Sprache es sollte, im Rückenmark und aus der Tiefe der Zeiten. Es geht um deinen Vater. Wir kommen nicht mehr mit ihm zurecht. Ohren-Mike ließ seine Stimme streng klingen. Ich verstand nicht alle Wörter, aber doch die wichtigsten. Hier ist ein Mädchen verschwunden, und dein Vater wird verdächtigt.

Jetzt verstehe ich, dass ich einen Telefonanruf dieser Art jahrelang gefürchtet hatte oder erhofft, und jetzt, wo er kam, war ich überhaupt nicht darauf vorbereitet. Lempi, ertönte dann Vaters Stimme im Telefon, brüchig, verschreckt. Uralt. Sie treiben hier ihren Spott mit mir, legen falsche Beweise vor und glauben mir nicht. Was glauben sie nicht?, fragte ich. Dass ich mich erinnere. An was erinnerst du dich? Dass ich zweimal vom Blitz getroffen wurde. Nicht nur einmal.

Das wiederholt er nun ständig. Ohren-Mike war wieder am Apparat. Mein Vater Ettu Haverinen war am Morgen mit dem Gefühl erwacht, dass etwas nicht in Ordnung war. Ein Wiegenlied klang ihm im Kopf, das, in dem von der Trollmutter und den verknoteten Schwänzen die Rede ist, hu-aijajaija-puh, weißt du noch, Lempi? Ja, ich erinnerte mich. Ich versuchte, mir die Blockhütte Errungenschaft vorzustellen, irgendwo dort, in der Ferne, das Geplauder von Lerchen und Nachtigallen, das Rauschen der Birken, den Duft der reifenden Brombeeren an der mit rotem Ocker gestrichenen Wand. Ich konnte sehen, wie Vater sich bückte, um an dem Kissenbezug zu schnuppern, den Mutter mit Trauerblumen bestickt hatte, und sich wunderte, wie der bekannte Duft, der darin gewohnt hatte, sich anscheinend verflüchtigt hatte, und ich am anderen Ende des Teleweltalls sog den Schimmelgestank der Betonwände ein und meinte, darin einen Hauch Lavendel wahrzunehmen, und eine plötzliche Sehnsucht schoss mir durch den Leib und fuhr mir in die Beine. Es war so lange her, dass ich Mutters Duft gespürt hatte. Ich sah vor meinem inneren Auge, wie Vater die Decke berührte, und sie war auch kühl, niemand lag neben ihm, so als hätte Rose die Nacht gar nicht dort verbracht. Ein unmöglicher Gedanke. Vater rief nach Mutter, als wäre sie im Zimmer nebenan. Keine Antwort. War Rose aufgestanden? Würden gleich die gewohnten Geräusche zu hören sein, das Rascheln des Morgenrocks, das Anzünden des Feuers und das Klappen der Haustür, wenn Rose barfuß hinausging, um die Hühner zu füttern und um nachzusehen, ob Bruder Kojote in der vergangenen Nacht sein Werk der Verwüstung angerichtet hatte – und das würde er nicht getan haben, denn Rose gehörte zum Wolfsclan und war in Sicherheit.

Ich stellte mir vor, wie Vater aufgestanden war. Der gusseiserne Herd, das Bücherregal, der Eichenholztisch in der Stube, an der Wand der alte Telefonapparat mit dem Trichter, mit dem man noch in meiner Kindheit Sandra von der Zentrale anrufen und sie bitten musste, eine Verbindung herzustellen. In meiner Vorstellung war dort alles fast unverändert, nur die Farbe der Wände und des blauen Wollstrumpfs am Herdhaken waren verblichen.

Hör mal, flüsterte Vater: Ich bin alt. Schon uralt. Und überall irgendwelche Schmierereien. Was für Schmierereien? Für mich hörte es sich so an, als hätte Vater geschluchzt. ROSE IST VERSCHWUNDEN. Jemand hat überall ROSE IST VERSCHWUNDEN hingeschrieben. Ans Fenster. An die Wand. An den Herd. Wer macht so was?

Und dann stand auf dem Tisch die Lunchbox mit Briefen darin. Die sind an dich adressiert, Lempi, sagt Vater, Rose hat sie geschrieben, aber Rose ist nirgends zu finden.

Stille. Die Wände im Keller des Retrievals werfen Blasen und schilfern ab, ein plötzlicher Schmerz im Unterleib machte, dass ich mich zusammenkrümmte, und es schwindelte mich. Ich spürte, wie ein Klumpen, der lange in der Versenkung gewesen war, herausdrängen wollte. Hatte Mutter mir einen Brief geschrieben? Die Person am anderen Ende der Leitung war jetzt wieder Ohren-Mike: Diese hinterwäldlerischen Quatschköppe würden uns ja nicht weiter interessieren, aber dein Vater behauptet auch noch, dort bei ihm zu Hause sei ein minderjähriges Mädchen gewesen. Blond und blauäugig. Nun hör dir mal das hier an. Aus dem Telefonhörer kam ein Knacken, dann auf Band aufgenommene Rede und durch Rauschen hindurch Vaters Stimme: Nun glaubt mir doch, ich lüge nicht. Gestern kam ein kleines Mädchen. Ich hielt es für Lempi. Aber es war nicht Lempi, Lempi ist in der Schule. Denn das Mädchen hatte eine Lunchbox mit, meine Box.

Und jetzt ist das Mädchen verschwunden. Ohren-Mikes Stimme war gequält. Sodass hier jetzt in einer wirklich delikaten Sache ermittelt wird … Dieser Finnländer hier wankt wie ein wunderlicher Weißbauchtölpel, und man weiß nicht recht, was man mit ihm machen soll. Nun ist er dazu übergegangen, in seiner Mongolensprache zu brabbeln. Es wäre gut, hier einen Dolmetscher zu haben, möglichst eine Angehörige.

Ich verstand nicht.

Es wäre gut, wenn du hierherkommen könntest. OhrenMike artikulierte die Worte so deutlich, wie man es gegenüber Behinderten tut, oft auch mir gegenüber. Immer noch dauerte es eine Weile, bis ich begriff, dass die Stimme im Telefon mir vorschlug zu kommen, zu fahren, zurückzukehren, einfach so, als wäre es möglich, dass ich ins Reservat komme, fahre, zurückkehre, eine Rucksacktour mache, wie sie zu jeder beliebigen Zeit und an jedem Ort stattfinden konnte. Dass ich Pastor Grants Retrieval verlasse und mich in die Außenwelt begebe, mir Schuhe anziehe. Ein frostiges Gefühl überkam mich, als regnete es Eiskristalle in meinem Kopf. Ich schaute ins Oberlicht, konnte aber nicht hinaussehen, denn die am Glas klebenden Spinngewebe trübten die lodernden Blütenstände von Löwenzahn und Löwenmäulchen, und ich roch den Rauch, Shirley Hannula hatte Gartendienst, und den nutzt sie dazu, hinter dem Schuppen eine Schachtel Marlboro aufzurauchen.

Vielleicht sollten wir uns doch mal in eure Zeckenecke bemühen, seufzte Ohren-Mike, und uns Dachboden und Keller etwas genauer ansehen.

Geht nicht dahin! Dort herrscht ein fürchterliches Durcheinander!, ertönte Vaters ängstliche Stimme aus dem Hintergrund. Und: Nichts anfassen, ihr dürft nichts anfassen!

Gerangel, Gepolter. Geheul. Dann das Aufkreischen einer Stahltür und Stille.

Wir haben ihn für ein Weilchen kaltgestellt. Ohren-Mikes Stimme kehrte zischelnd in mein Ohr zurück.

Ich stellte mir Vaters durchgeschüttelte Gestalt vor, wie er in der Zelle hockte, den von Mutter geflickten, nach Pfeife riechenden Tuchmantel über den Schultern und die Schirmmütze des finnischen Basketballteams Bestrebung auf dem Kopf. Ich wollte fragen, was sie mit Vater gemacht hatten, als jemand Ohren-Mike den Hörer aus der Hand riss: Lempi, komm her! Dein Vater hat angefangen, sich zu erinnern.

Ach, Jim Graupelz, auch nach all den Jahrzehnten erkannte ich deine Stimme wieder! Sie war tiefer geworden und schön rau, als kratzte jemand mit starken Krallen an Borke. Ich versprach es, noch ehe ich es begriff. Und bring finnische Dickmilch mit, wenn du kannst, die hat man deinem Vater gegeben, weil andere Arzneien nicht mehr gewirkt haben. Es dauert nicht mehr...



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