Khalifa | Die Sonnenblume | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 448 Seiten

Khalifa Die Sonnenblume

Roman
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-293-30690-5
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 448 Seiten

ISBN: 978-3-293-30690-5
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Jerusalem: Melodien mischen sich, Sprachen mischen sich, die ganze Stadt ist ein Gemisch. Und doch herrscht die Konfrontation. Die palästinensischen Frauen leiden doppelt unter dem Druck. Die Näherin Sadija, die Intellektuelle Rafif, Chadra, die Prostituierte - sie alle haben sich durchzusetzen gegen die oft brutalen traditionellen Wertvorstellungen. Sie stehen allein, weil auch die Revolutionäre die Zukunft besingen und der Moral der Vergangenheit nachhängen.

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1
Er stand unter dem Dach der Haltestelle und betrachtete die Egged-Busse und die Menschen. Eine Frau mit einem Korb voller Gemüse – Blumenkohl, Spinat, Rettiche. Ein Geistlicher mit einem Backenbart, der bei jedem Schritt wippt. Ein junger Mann und eine junge Frau, die sich um die Hüfte gefasst halten und neugierig den Orient beschauen. Ein etwa zehnjähriger Junge springt, mit einem Beutel voller Lupinenkerne in der Hand, von einem Bus zum andern und schreit, so laut er kann: »Lupiiiiinen«. Ein paar Verkäufer – Sesamringe, Eier, Gewürze, Halva. Ein Bauchladen, dessen Waren unter Fliegenschwärmen verschwinden. Menschen gehen, andere kommen. Vorne an der Straße eine Nonne mit einer Traube Kinder im Schlepptau; wie eine geschlagene Truppe ziehen sie dahin. Er sah sie schon von Weitem, ihren Regenmantel, ihren langen Schal, der hinter ihr herflatterte; in der Hand hielt sie einige Bücher. Sie gingen schweigend. An ihrer Seite hatte er das Gefühl, die Welt sei reicher und weniger kalt. Nein, er liebte sie nicht, er mochte sie. Die Frage nach der Liebe war nicht mehr so wichtig wie früher, als er noch jünger war. Es war genau wie mit der Religion – ob es Gott gibt oder nicht, das ist eine Sache; mich geht die Welt hier unten an. Sie betrachtete ihn verstohlen. Noch immer kann sie nicht zu ihm finden. Sein Herz ist so abgekapselt. Er hat so eine Art zu diskutieren, dass sie ihn nie völlig durchschauen kann. »Du bist heute schweigsam.« Er lächelte matt. »Ich denke.« »Woran?« Er blieb auf dem Gehsteig stehen. Ergriff sie bei der Hand, gerade noch, bevor ein Auto sie erschreckte. Ihr Herz schlug heftig. Der Schreck war ihr in die Glieder gefahren. »Idiot!«, rief sie wütend. »Aber er hatte Vorfahrt. Für die Fußgänger ist noch immer Rot.« Seine Ruhe machte sie wütend. »Die Straße gehört auch den Fußgängern«, sagte sie trotzig, »nicht nur den Autofahrern.« Ihre Stimme war lauter als nötig. Die anderen Passanten blickten sich nach ihnen um. Sie fühlte sich allseits von Augen umgeben. Die Fußgänger warteten noch immer auf Grün, eng aneinandergedrückt, aber jeder für sich – verschiedene Persönlichkeiten, unterschiedliche Lebensgeschichten. »Sogar noch beim Überqueren der Straße wird der Klassenunterschied sichtbar«, murmelte sie in Gedanken, während er sie noch immer am Arm festhielt. Er lächelte, ohne Zustimmung zu zeigen. Sein Blick war umwölkt. Sie fühlte sich erniedrigt. Nie zeigt er Emotionen. Mit nichts konnte sie ihn wütend machen, und das machte sie noch wütender. »Nur weil du ein al-Karmi bist«, sagte sie zänkisch. Er blickte sie kalt an. Sie spürte, was er sagen wollte – und konnte sich nicht mehr beherrschen. Erbittert riss sie ihren Arm aus seiner Hand los und rannte über die Straße. Die Reifen eines heranfahrenden Autos quietschten, der Fahrer hupte ärgerlich und fuchtelte drohend mit der Faust. Er holte sie ein, und nebeneinander gingen sie zum Amud-Tor; er würdigte sie keines Blickes. Als sie die Treppen hinuntergestiegen waren und durch das mächtige Tor schritten, bemerkte er: »Du benimmst dich wie ein kleines Kind.« Sie schritt weiter aus und ging jetzt einen halben Meter vor ihm her. Die Bücher an die Brust gepresst, sagte sie: »Du bist so kalt, dass du rein nichts begreifst. Ich meinte, dass die Straße in erster Linie für die Fußgänger da ist und erst dann für die Autofahrer. Ich meinte, dass die Ampeln Augenwischerei und ein Komplott sind. Wer hat denn die Ampeln aufgestellt und die Regeln dafür festgelegt? Nur die Einfältigen glauben daran, ich nicht. Und deshalb gehe ich über die Straße, wann es mir passt. Ich bin frei! Ich gehe über die Straße, wann es mir passt. Ich warte nicht auf ein Licht von ihnen. Ich mache mir mein eigenes Licht.« Er betrachtete ihr verbissenes Gesicht. Ihre weit geöffneten dunklen Augen erschienen noch funkelnder. Ihre leicht vorstehenden Zähne schienen bereit zum Beißen. Ihre Schärfe gefiel ihm. Ihm gab sie Wärme und Vitalität. Er lächelte: »Wenn du das noch mal machst, gehen bei dir alle Lichter aus.« »Alle die Lichter können mich mal.« »Auch das grüne?« »Das grüne Licht ist Augenwischerei und ein Komplott. Sie wollen uns doch nur hindern, schnell zu gehen, damit sie ihre Ziele durchsetzen. Den Rest überlassen sie den Fußgängern.« Sie hob die Faust und schüttelte sie. »Alle die Lichter können mich mal.« »Und eines Tages wirst du dann überfahren.« »Jetzt hätte ich die Straße längst überquert.« »Du wärst mitten auf der Straße überfahren worden und wärst niemals zum Amud-Tor gekommen.« »Ich hätte den anderen ein Beispiel gegeben.« Er empfand Ärger und Beklemmung. Streckte seine Hand aus, zog sie am Arm und drückte: »Sei vernünftig!« »Lass meinen Arm los«, rief sie. »Du brauchst Vorschriften.« »Und du gibst sie mir?« »Ja, manchmal.« »Du bist wie das grüne Licht, ein Komplott.« Er zog den Kopf zwischen die Schultern und schlug den Kragen seines Regenmantels hoch. »Du bist völlig verrückt«, murmelte er. Tänzelnd sprang sie die Stufen hinunter und stieß dabei andere Passanten mit den Schultern. Ganz außer Atem rief sie: »Du bist wie alle orientalischen Männer und wie all diese alternden Dickwänste der Familie al-Karmi. Du hast mir aber überhaupt nichts zu befehlen, weder als Mann noch als al-Karmi.« Zum ersten Mal wurde er etwas lauter: »Du bist völlig verrückt.« Sie entfernte sich von ihm; er folgte ihr. Plötzlich war sie in der Menschenmenge verschwunden. Er blieb stehen und schüttelte den Kopf. Dann ging er allein weiter durch die Gassen. Geruch von Lammfellen, die zu schneeweißen Pelzjacken verarbeitet werden. Krämer beidseits der überdachten Straße. Zerstampfte Oliven, griechische Oliven, Salzheringe, getrocknete Feigen, durchbohrt und in langen Ketten aufgehängt, Gemüse und orientalische Süßigkeiten. Ein Kuchenverkäufer. Kassettenverkäufer, die ihre Waren ausrufen. Melodien mischen sich, Sprachen mischen sich, die ganze Stadt ist ein Gemisch. Japanische Windspiele aus Messing bewegten sich im Wind, der durch die Gassen strich. Sie klingelten leise. Schmerz über die Klage eines kleinen Kindes, das sich im Markt verirrt hatte. Schließlich erblickte er sie und holte sie ein. Als er sie am Arm packte, brauste sie auf: »Die Tatsache, dass ich mit dir gehe, gibt dir nicht das Recht, mich an die Kette zu legen. Ich bin dir ebenbürtig, nicht dein Anhängsel.« »Aber du bringst dich um für nichts und wieder nichts.« »Ich habe den anderen ein Beispiel gegeben. Ist das nichts und wieder nichts?« »Blödsinn.« »Wie kommst du überhaupt dazu, darüber ein Urteil zu fällen?« »Was schadet es dir, den richtigen Augenblick abzuwarten und erst dann über die Straße zu gehen? Du würdest nicht dein eigenes Leben gefährden und würdest nicht die anderen in Angst und Schrecken versetzen. Außerdem könnte der Verkehr weiterfließen.« »Ha, das sagen sie alle. Wenn ihnen sonst nichts mehr einfällt, nehmen sie das rote Licht als Vorwand. Aber das Spielchen ist zu durchsichtig.« Er blieb stehen. »Welches Spielchen?« Sie drückte ihre Bücher noch fester an sich und pflanzte sich trotzig vor ihm auf: »Das Spielchen vom immer obenauf Schwimmen.« Am liebsten hätte er sie geohrfeigt. Er ballte die Faust in der Tasche. Spürte, wie ihm der Kopf anschwoll. Dachte an die Zeitschrift, an die hitzigen Diskussionen, an Salem. Das Blut schoss ihm in den Kopf. Er vergaß die Leute um sich herum, die Gasse, die Touristenläden, aus denen ein Duft von fremden Ländern und Reisen drang. »Du suchst Streit.« »Und du stinkst nach bourgeoisen Idealen.« »Du bist völlig verrückt«, knurrte er zwischen den Zähnen hindurch und entfernte sich von ihr mit weitausholenden Schritten. Sie lief ihm hinterher und rief durch die dämmrige Gasse: »Läufst du weg vor mir?« Er blieb stehen. Sie holte ihn ein. Ihre emotionale Geladenheit hatte einen Höhepunkt erreicht. Sie pflanzte sich vor ihm auf, Tränen in den Augen. Vorwurfsvoll würgte sie hervor: »Du willst dich an mir rächen?« Er spürte Mitleid; sein Zorn verflog, und er sagte leise: »Weil ich nicht will, dass du überfahren wirst.« Er spürte sie ganz nahe bei sich. Ihre Augen durchbohrten ihn, und seine Stimme bebte: »Warum willst du sterben?« »Ich gebe den Leuten ein Beispiel.« »Dein Beispiel ist furchtbar, weil es verfrüht ist.« »Ich soll sie also warten lassen? Vielleicht müssen sie lange warten.« »Dein Vorbild wird sie ängstigen, vielleicht gar ihr Handeln lähmen. Dann machen sie dir Vorwürfe, statt dir zu folgen.« »Nun bin ich aber über die Straße gegangen und nicht überfahren worden.« »Zufall. Außerdem bist du allein hinübergegangen. Und was hat das schließlich genützt?« »Ich bin ihnen vorangegangen.« »Aber sie sind dir nicht gefolgt.« »Ja, weil sie...


Khalifa, Sahar
Sahar Khalifa, geboren 1941 in Nablus, Palästina, ging mit achtzehn Jahren eine traditionelle Ehe ein, die dreizehn Jahre dauerte. Nach der Scheidung begann sie sich verstärkt dem Schreiben zu widmen, studierte in den USA und arbeitete als Dozentin an der Universität Bir Zeit. In Nablus gründete sie ein palästinensisches Frauenzentrum, das sie neben ihrer schriftstellerischen Arbeit leitet. Sie lebt in Nablus und Amman.

Badeen, Edward
Edward Badeen, geboren 1944 in Nazareth, Palästina, studierte Literatur- und Islamwissenschaft und Psychologie in Jerusalem und Basel. Er ist Lektor für Arabisch am Asien-Orient-Institut der Universität Zürich.



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